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Zwei Jahre nach den Tagen auf dem Maidan

Streit um die Macht in der Ukraine dauert an / Ist die "Orange Revolution" gescheitert?

Von Manfred Schünemann *

Vor zwei Jahren begann mit Protestkundgebungen tausender Bürger auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz – dem »Maidan Nesaleshnosti« – der als »Orange Revolution« bezeichnete politische Machtwechsel in der Ukraine. Inzwischen ist die Euphorie verflogen und allgemeine Ernüchterung hat sich breit gemacht.

Die damaligen Träger der Hoffnung auf einen raschen Wandel in der Ukraine, die Parteien Julia Timoschenkos und Viktor Jusch-tschenkos, sind heute in der parlamentarischen Opposition so zerstritten, dass man sich nicht einmal über eine gemeinsame Gedenkveranstaltung verständigen konnte. Ihre politischen Gegner von damals, Viktor Janukowitsch und seine Partei der Regionen, bilden seit gut 100 Tagen gemeinsam mit Sozialisten und Kommunisten eine Koalitionsregierung. Enttäuschte Befürworter und Geldgeber des Machtwechsels im Westen sprechen daher vom »Scheitern der Revolution«.

Doch diese Sichtweise ist zu einfach. Nüchtern betrachtet, wurde auf dem Maidan ein komplizierter, widersprüchlicher und vor allem langwieriger Prozess zur Demokratisierung der ukrainischen Gesellschaft und zur dauerhaften Einordnung des Landes in das europäische Staatengefüge eingeleitet. Gewisse Fortschritte wurden durchaus erzielt, doch deren Nachhaltigkeit ist längst noch nicht gesichert.

Zu diesen Fortschritten gehören in erster Linie die fairen und freien Parlamentswahlen im März dieses Jahres. Sie korrigierten das innenpolitische Kräfteverhältnis und erzwangen eine Änderung der von Präsident Juschtschenko betriebenen Politik der hastigen einseitigen Westorientierung der Ukraine. So wurde eine Zuspitzung des Gegensatzes zwischen Ost- und Westukraine verhindert, der sich maßgeblich am Verhältnis zu Russland und zum Westen bricht. Janukowitsch und seine Parlamentsmehrheit wollen den »Kurs der europäischen Orientierung« nicht etwa gänzlich verlassen. Auch die jetzigen Regierungsparteien sehen (wenn auch differenziert) zu dieser »europäischen Orientierung« keine Alternative. Anders als die Anhänger Juschtschenkos und Timoschenkos halten sie aber eine konfrontative Abgrenzung von Russland und einen raschen NATO-Beitritt weder für erforderlich noch für politisch durchsetzbar. Immerhin spricht sich eine deutliche Bevölkerungsmehrheit für enge, freundschaftliche Beziehungen zu Russland aus und lehnt den Beitritt zum Nordatlantikpakt nach wie vor ab.

Zu den Fortschritten nach den Tagen auf dem Maidan werden auch die wesentliche Erweiterung des Meinungsspektrums in den Medien, die Ausprägung der Parteienlandschaft und ein Abbau bürokratischer Hemmnisse für kleinere und mittlere Unternehmen, wobei eine Rücknahme des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft andererseits die Gefahr einer fortschreitenden Entsozialisierung erhöht.

Dies Wirtschaftspolitik der Regierung Janukowitsch schlägt sich bereits in den Wirtschaftsdaten dieses Jahres nieder. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs in den ersten neun Monaten um 6,2 Prozent - doppelt so viel wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Auch die stets kritische Energieversorgung wurde durch Vereinbarungen mit Russland, Aserbaidshan und Turkmenistan zunächst gesichert, wenngleich langfristige Abkommen mit Russland noch verhandelt werden und zeitweilige Zuspitzungen der Lage nicht auszuschließen sind.

Zu den Enttäuschungen nach dem Machtwechsel gehört vor allem die Erkenntnis, dass es bisher nicht gelungen ist, die Machtmechanismen dauerhaft zu demokratisieren. Zwar wurde durch eine Verfassungsänderung die Rolle des Parlaments gestärkt, doch es fehlen gesetzliche Regelungen zur exakten Abgrenzung der Verantwortungsbereiche des Präsidenten, der Regierung und der Opposition. Daraus resultiert ein andauernder Kompetenzstreit zwischen den Verfassungsorganen. Immer deutlicher zeigt sich, dass eine eindeutige Regelung dringend erforderlich wäre, von den jeweiligen politischen Gruppierungen im Interesse des eigenen Machterhalts jedoch verhindert wird. So nutzt der Präsident den Nationalen Sicherheitsrat als eine Art Zweitregierung, um sich in innenpolitische Entscheidungen – selbst Fragen der kommunalen Wohnungswirtschaft und der Preisgestaltung – einzumischen, die eigentlich in der Verantwortung der Regierung liegen. Parlament und Regierung wiederum fassen Beschlüsse zur Außen- und Sicherheitspolitik, ohne die verfassungsmäßigen Rechte des Präsidenten in diesen Bereichen zu berücksichtigen. Aus der Entwicklung seit den Tagen auf dem Maidan ist vor allem eine Erkenntnis zu ziehen: Um Demokratie und Fortschritt dauerhaft zu sichern, bedarf es auch in der Ukraine eines wesentlich längeren Zeitraumes als zweier Jahre. Um dem Rechnung zu tragen, müssten sowohl die politischen Kräfte im Lande als auch die EU und Russland langfristige Konzepte für eine dauerhafte Einbindung der Ukraine in die europäischen Strukturen ausarbeiten, ohne neue Barrieren und Konfrontationslinien zu ziehen.

* Aus: Neues Deutschland, 23. November 2006


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