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Wie ein halber Mensch

Minenexplosionen setzen den Krieg in Uganda fort, lange nachdem die Kämpfer abgezogen sind

Von Till Mayer, Kitholhu *

Die Menschen in Uganda, an der Grenze zu Kongo, leiden noch heute unter den Folgen des Krieges. Von einer Sekunde auf die andere können sie getötet werden oder zu einem Leben als Behinderte bestimmt sein. Denn die Minen sind geblieben.

Glück kann ein Wort sein, das in die Irre führt. Vor allem dann, wenn eine Landmine beide Beine abreißt, Knochen und Fleisch zerfetzt, Glieder zermalmt. In einer Sekunde einen Menschen zum Versehrten macht. Boniface Kapindo ist das passiert. Auf seinem eigenen Feld. Kartoffeln und Bananen hat er dort angebaut. In den steilen Hängen, die in der Regenzeit so wunderschön satt leuchten. Die sich Anhöhe um Anhöhe aneinanderreihen. Soweit das Auge reicht. Ab und an ist eine braune Lehmhütte ins Grün getupft. Rund um das Dorf Kitholhu im Westen Ugandas herrscht Postkartenidylle. Mittendurch verläuft die Grenze zur Demokratischen Republik Kongo, die vor Jahren verhängnisvoll war.

Von dort kamen Ende der 90er Jahre die Rebellen der »Alliierten Demokratischen Kräfte«, einer aus verschiedenen ugandischen Widerstandsgruppen zusammengewürfelten Allianz. Waffen und Munition finanzierte damals zu großen Teilen mutmaßlich Sudan. Die Folgen waren viele Gräber mit einem hölzernen Kreuz: Nachts holte in den Hängen im Grenzgebiet jahrelang der Tod eine reiche Ernte ein. Kalaschnikowsalven hämmerten in die Dunkelheit, Mörser schossen Granaten in den Himmel. Hinab ins Tal, hinauf in die Wälder.

Die Bauern flohen vor den Kämpfen aus den Bergen und traten jeden Morgen wieder den mühsamen Aufstieg an. Mit ihren Hacken auf den Schultern erklommen sie die Pfade zu ihren Feldern, beladen mit Kochbananen, Mangos und Guaven keuchten sie wieder hinunter ins Tal. Immer mit der Furcht, dass aus dem nahen Dschungel ein Kämpfer tritt, sein Schnellfeuergewehr Tod und Feuer spuckt oder er sich an Frauen vergreift.

In den Bergen kämpften Regierungssoldaten gegen Rebellen. Es war ein zermürbender, blutiger Kampf. Beide Seiten vergruben Minen. Perfide Fallen für den jeweiligen Feind. Und für jeden, der das Pech hatte, auf sie zu stoßen. In eine trat Boniface Kapindo.

Ein kurzer, dumpfer Schlag. Der heute 60-Jährige hatte zum Glück tapfere Nachbarn. Sie zogen ihn aus dem Feld. Obwohl sie sich dabei in Gefahr brachten und fürchten mussten, selbst auf die nächste Mine zu treten. Aus zwei Bambusstangen und ihren Hemden bastelten sie eine Trage. Dann schleppten und schleiften sie ihn hinunter ins Tal, hasteten auf schmalen Pfaden über Felsen und Steine. Auf dem Feld von Boniface Kapindo blieben zwei halbe Beine liegen. Was der Sprengsatz von ihnen übrig gelassen hatte.

Die Mine nahm auch einen Teil der Heimat

524 Menschen starben in Uganda an den Folgen von Minenexplosionen, 2220 weitere wurden durch Minen zu Versehrten. Das sagen zumindest Zahlen aus dem Jahr 2010. Vermutlich sind es wesentlich mehr Opfer, vor allem Getötete. Die Statistiker erheben keinen Anspruch, ein vollständiges Zahlenwerk erarbeitet zu haben. Es ist ihnen schlichtweg nicht möglich. In den Jahrzehnten des Bürgerkriegs wurden im Westen und vor allem im Norden ganze Landstriche mit Minen und Blindgängern verseucht.

»Ich hatte Glück«, sagt Boniface Kapindo. Und scheint sich über seine eigenen Worte zu wundern. Glück? Er denkt daran, wie er im Krankenhaus aufwachte. Verzweifelt die Decke abtastete, wo seine Schienbeine hätten sein sollen. Er merkte, dass er nur noch durch ein Auge sieht, weil das andere durch einen Splitter erblindet war. Manchmal kommt es ihm heute noch vor, als wäre es gerade erst geschehen. »Wie ein halber Mensch habe ich mich gefühlt. Verstehen Sie, wie ein halber Mann. Ich brauchte lange, um anzunehmen, was geschehen war.«

Eine Rückkehr in die Berge ist ihm wegen seiner Amputationen nicht mehr möglich. Die Wege zu steil, zu viele unüberwindbare Barrieren, wenn man nur noch zwei Stümpfe hat, die in Prothesen stecken. Dem 60-Jährigen geht es wie vielen anderen Opfern. Die Mine nahm ihm nicht nur einen Teil des Körpers, sondern auch die Heimat. Seit dem 7. Februar 1997, dem Tag, an dem er seine Beine verlor, war er nicht mehr oben in den Bergen. Der Ausblick von dort fehlt ihm. Von der Grenze zwischen kultiviertem Land und Urwald: Dort erstreckt sich ein Meer von Bergen, Hügeln, Wäldern. Eine wilde und zugleich sanfte Schönheit. Boniface Kapindo hatte dort seinen Lieblingsplatz. Jeden Tag hielt er ein paar Minuten inne, um nach der Feldarbeit den Blick schweifen zu lassen.

Jetzt sitzt er in dem dämmrigen Zimmer seiner Hütte im Tal. Die Wände sind aus luftgetrockneten Ziegeln gemauert. Mit rostigen Nägeln hat er ein säuberlich zerteiltes Propagandamagazin aus Nordkorea an die Wand gepinnt. Dort werden auf englisch ruhmreich umgesetzte Jahrespläne der Stahlkocher verkündet. Auf Bildern marschieren zackig Soldaten im Stechschritt, Schlote zeichnen dunkle Bilder eines »kommunistischen Fortschritts« in den Himmel und Junge Pioniere musizieren unter blühenden Kirschbäumen.

Boniface kann nicht mehr sagen, wie das Magazin vor vielen Jahren in seine Hände gelangt ist. Ugandas Herrscher hatten sich in ihrer Geschichte stets weit gefächert ihre Unterstützer gesucht. Auch Gaddafi finanzierte so manches Bauprojekt. »Aber das muss ein schönes und modernes Land sein. All die Fabriken, und die Menschen scheinen so fleißig zu sein«, sagt Kapindo.

Rose Muhindo lächelt still. Würde sie ihm sagen, dass an der innerkoreanischen Grenze unzählige Minen vergraben liegen, ihr Gastgeber würde vermutlich das Magazin von der Wand reißen. Die Sozialarbeiterin von Handicap International lässt ihm seine Vorstellung.

Die Hilfsorganisation unterstützt Menschen mit Behinderungen in Kriegs- und Krisengebieten. Rose Muhindo kommt regelmäßig zu den Minenversehrten. Kontrolliert, ob die Prothesen repariert oder erneuert werden müssen. »Bei den schlechten Wegen und der extremen Belastung dauert es manchmal nur sechs Monate, und die Prothese ist kaputt.« Dann organisiert sie eine Fahrt nach Fort Portal, zum Orthopädiezentrum, das vom Internationalen Roten Kreuz unterstützt wird. Minenopfer bekommen dort neue Prothesen angepasst. Doch Opfer in abgelegenen Dörfern wissen oft nichts von dem kostenlosen Service.

Es wäre so viel Unterstützung nötig

Rose Muhindos Aufgabe ist nicht leicht. Die Versehrten ausfindig zu machen, erfordert viel Fahrerei und nicht selten detektivisches Gespür. Den 60-jährigen Boniface Kapindo besucht sie gerne. Auch, weil er ihr Kraft gibt für die Besuche bei anderen Minenopfern. Bei denen, die es nicht so gut geschafft haben wie der alte Mann.

Wie Harriet Kyakuha, der es die Seele krank machte, dass sie ein Bein verlor. »Viele Minenopfer leiden unter Depressionen. Wir geben ihnen psychosoziale Hilfe, so gut es geht. Aber hier wäre so viel Unterstützung mehr nötig«, sagt die Sozialarbeiterin. Sie freut sich über die Mittel des deutschen Auswärtigen Amts, die halfen, das Projekt von Handicap International am Leben zu halten.

Kule Phanihas hat beide Beine verloren. Er kann nur eine Prothese tragen, weil bei einem Bein eine Amputation zu hoch über dem Knie verlief. So krückt er mit nur einer Prothese durch seine Felder. »Ich sehe ihn immer nur arbeiten. So hat er es geschafft, alle seine Kinder zur Schule zu schicken. Sein Ältester könnte auf die Universität, er gehört zu den Schulbesten. Aber Kule Phanihas wird die Gebühren nie zahlen können«, sagt Rose Muhindo leise.

Boniface Kapindo hat es geschafft, sich und seiner Familie ein halbwegs sicheres Leben aufzubauen. Er besitzt einen kleinen Laden in einer gemauerten Bude. Verkauft dort Seife, Küchenutensilien und Süßigkeiten. Er will sein Geschäft vergrößern, der Rohbau steht. Jetzt spart er eisern für den Zement für rund 15 Quadratmeter Boden. Der alte Mann führt zu seiner Verkaufsbude, klettert über die Brücke in der Dorfmitte: ein paar Stämme und Planken, die auch Menschen mit gesunden Beinen viel Konzentration abverlangen, damit sie nicht im Bach landen. Dann steht er vor seiner Bude mit dem Neubau dahinter. »Alles, was ich besitze, habe ich hier investiert.« Dann erzählt er von seinem größten Wunsch: ein dreirädriges Fahrrad, mit dem er seine Waren transportieren kann. »Ich könnte dann viel mehr anbieten.« Nur an der Brücke, da müsste einer seiner Söhne mit anschieben. »Aber sonst könnte ich alles alleine schaffen. Die Schlepperei hätte ein Ende.«

An die Blechtür des Ladens klopft ein Mann, der aussieht wie ein Bluesmusiker aus dem New Orleans der 40er Jahre. Den Hut verwegen ins Gesicht gezogen, die Krücke fällt erst beim zweiten Blick auf. Der Minenüberlebende Amos Muhindo schaut bei seinem besten Freund vorbei. Der 65-Jährige erzählt gerne, wie er mit dem Gewehr das Dorf vor den Rebellen verteidigt hat. »Ausgerechnet, als sie fort waren, bin ich auf eine Mine getreten.« Sechs Familienmitglieder hat er im Krieg verloren, berichtet er. Dann schweigt er einen Augenblick.

An Rose Muhindo hat er eine Bitte: Er wartet schon seit Jahren darauf, dass eines seiner Felder von Minensuchern überprüft wird. Rose Muhindo will sich darum kümmern. »Vorher setzen ich und meine Familie keinen Schritt mehr auf das Stück Land«, sagt der Mann mit dem tiefgezogenen Hut. »Richtig«, meint Boniface Kapindo, »verdammte Teufelsdinger«. Und klingt das erst mal richtig wütend.

* Aus: neues deutschland, Montag, 25. Juni 2012


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