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Immer neue Polizeigewalt

Afroamerikanischer Teenager im US-Bundesstaat Wisconsin von Beamten erschossen. Tausende protestieren gegen Rassismus und fordern Gerechtigkeit

Von Jürgen Heiser *

Der 7. März 1965 und die rassistische staatliche Gewalt bei der Zerschlagung einer friedlichen Demonstration der US-Bürgerrechtsbewegung sind als »Bloody Sunday«, als »blutiger Sonntag«, in die Geschichtsbücher eingegangen. Die Rede von US-Präsident Obama bei der Gedenkfeier in Selma im Bundesstaat Alabama am Samstag hat national und international großen medialen Widerhall gefunden. Berichte über die Ansprache waren jedoch stets begleitet von der Meldung, dass am Abend zuvor abermals ein afroamerikanischer Teenager durch Polizeikugeln getötet worden war. Diesmal traf es den 19jährigen Tony Robinson aus Madison, Wisconsin, der gerade seinen Abschluss an der Sun Prairie High School gemacht hatte. Nach Angaben von Polizeichef Mike Koval im Wisconsin State Journal war die Polizei gerufen worden, weil »ein Mann mehrfach auf eine Straße gesprungen war und dadurch die Verkehrssicherheit gefährdete«. Zuvor sei der Jugendliche bereits wegen eines tätlichen Angriffs auffällig geworden. Ein Polizeibeamter sei dann zu der Wohnung gefahren, in die der Verdächtige gegangen war. Vor der Tür habe der Beamte laute Geräusche von drinnen gehört und sich gewaltsam Zugang verschafft, woraufhin der Jugendliche ihn angegriffen habe, berichtete Koval weiter. Der Beamte habe seinen Revolver gezogen und »mehr als einen Schuss auf den Verdächtigen abgegeben«. Koval bestätigte, dass Robinson unbewaffnet war, und versprach eine gründliche Untersuchung des Vorfalls.

In den Wohnblocks der Williamson Street, wo es zu den tödlichen Schüssen auf Robinson kam, hatte es schon im November 2012 einen ähnlichen Vorfall gegeben, bei dem das unbewaffnete Opfer, der 30jährige Paul Heenan, durch drei Schüsse aus einer Polizeiwaffe in den Brustkorb getötet wurde. Einzige Konsequenz für den Todesschützen: Er quittierte seinen Dienst.

Trotz immer wieder gegebener Versprechen, der jeweilige Vorfall werde »gründlich« untersucht, werden die uniformierten Täter in der Regel jedoch strafrechtlich nicht verfolgt, selbst wenn es Videos mit dem eindeutigen Beweis unverhältnismäßiger Gewaltanwendung gibt.

Am 1. März 2015 fielen in Los Angeles fünf Polizisten über einen schwarzen Obdachlosen her, der angeblich mit einem Beamten in Streit geraten war. Der 43jährige Charly Leundeu Keunang, ein Einwanderer aus Kamerun, war den Polizisten unter dem Spitznamen »Africa« als Zeltbewohner in der Skid Row, einem von Obdachlosen bevorzugten Stadtteil, bekannt. Laut Zeugenaussagen, die in der Los Angeles Times zitiert wurden, wehrte Keunang sich verbal gegen die rüde Behandlung der Polizisten, und es kam zu Handgreiflichkeiten, als plötzlich einer der Beamten, die schon mit gezogenen Waffen dabei standen, auf den am Boden liegenden Mann fünf Schüsse abgab, die sofort tödlich waren.

Drei Wochen zuvor hatte in Pasco im US-Bundesstaat Washington der vor zehn Jahren aus Mexiko eingewanderte Farmarbeiter Antonio Zambrano-Montes Aufsehen erregt, als er vom Straßenrand aus vorbeifahrende Autos mit Steinen und Lehmklumpen bewarf. Der Mann war verzweifelt und aufgebracht, weil er kurz zuvor durch einen Hausbrand obdachlos geworden war. Die herbeigerufenen Polizisten mehrerer Streifenwagen liefen auf Zambrano-Montes zu und schossen zunächst mit Taserpistolen auf ihn. Das danach in den sozialen Netzwerken verbreitete Video zeigt, wie er zunächst über die Kreuzung der belebten Straße flüchtete, dann jedoch stehenblieb, sich umdrehte und seine leeren Hände in die Höhe reckte. Doch es half nichts, erbarmungslos schossen drei nur wenige Meter entfernte Polizisten mehrere Salven auf ihn ab und streckten ihn nieder. Die Autopsie ergab, dass Zambrano-Montes von 17 Projektilen getroffen worden war. Sofort tödlich war ein Schuss, der seine Halsschlagader zerfetzte.

Auch im Fall des in Ferguson, Missouri, erschossenen Michael Brown war der Polizist Darren Wilson gegen den Teenager und seinen Freund anfänglich wegen einer Lappalie vorgegangen. Die beiden waren dem Polizisten aufgefallen, weil sie auf einer wenig befahrenen Nebenstraße mitten auf der Fahrbahn schlenderten. Das Muster der genannten Polizeieinsätze ist identisch: Übermäßige Drohgebärden oder sofortiger Gewalteinsatz der Polizisten führen zu Reaktionen der Personen, die kontrolliert werden sollen, und dann folgen ohne jeden Versuch der Deeskalation genau wegen dieser Reaktionen der automatische Griff zur Dienstwaffe und die Abgabe ganzer Schussgarben auf Oberkörper und Kopf.

Neu an diesen Vorfällen ist, dass sie nicht mehr unbeantwortet bleiben. Wie in Ferguson gingen jetzt auch in Madison, Los Angeles und Pasco und weiteren Städten spontan Tausende auf die Straßen, um ein Ende rassistischer Polizeigewalt und Gerechtigkeit für die Opfer zu fordern. Und genau das sei auch der einzige Weg, etwas zu verändern, erklärte die New Yorker Aktivistin und Juraprofessorin Michelle Alexander im Nachrichtenprogramm Democracy Now. »Denn diese Gewalt wird absolut so weitergehen, wenn wir es nicht schaffen, unsere sporadischen Protestaktionen in den Aufbau einer organisierten Bewegung zu verwandeln.« Dabei dürfe man sich nicht mit kleinen Reformen zufriedengeben. Es sei höchste Zeit, so Alexander, die Wahrheit zu sagen. Das Justizministerium hätte in Ferguson keine Untersuchung durchgeführt, »wenn die jungen Leute dort sich nicht erhoben und Widerstand geleistet hätten«.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 10. März 2015


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