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Barack Obama, die US-Bürgerrechtsbewegung und der Fall der Mauer

Rund 40.000 Menschen waren am 7. März nach Selma gekommen

Von Jürgen Heiser *

Rund 40.000 Menschen waren am 7. März nach Selma gekommen, darunter auch der frühere US-Präsident George W. Bush, der als Gouverneur von Texas verantwortlich war für 152 Hinrichtungen von mehrheitlich schwarzen Gefangenen. Auch Bush wollte im Tross von Barack Obama über die nach einem Konföderiertengeneral und Ku-Klux-Klan-Anführer benannte »Edmund Pettus Bridge« gehen. Dort waren vor 50 Jahren Hunderte Schwarze, allesamt friedliche Bürgerrechtler, von weißen Polizisten und Rassisten krankenhausreif geschlagen und mit Spott und Hohn überschüttet worden, weil sie etwas einforderten, was schon seit 95 Jahren theoretisch auch für sie als Verfassungsrecht galt: endlich ihr Wahlrecht wahrnehmen zu dürfen. In seiner Rede dankte Obama den Bürgerrechtlern, die damals für das Wahlrecht der Schwarzen ihr Leben riskierten: »Sie haben bewiesen, dass Veränderungen ohne Gewalt möglich sind, dass Liebe und Hoffnung den Hass besiegen können.«

Hier dürfte dem äußerst intelligenten Obama bewusst gewesen sein, dass sich bei diesen Worten vielen der Magen umdrehen musste: All jenen nämlich, die im vergangenen August in Ferguson, Missouri, den Protest gegen den brutalen Mord des weißen Polizisten Darren Wilson an dem unbewaffneten 18jährigen Afroamerikaner Michael Brown auf die Straße tragen wollten. Denn auch sie wurden von einer entfesselten und militärisch gerüsteten Polizeitruppe auseinandergejagt und an der Ausübung ihres Demonstrationsrechts gehindert.

Aus diesem Grund musste selbst Präsident Obama, der sonst nicht zimperlich ist mit dem Gewalteinsatz gegen die nichtweißen »Verdammten dieser Erde« in Übersee, dieser neuen Bewegung in seiner Rede Tribut zollen und Ferguson zum Thema machen (siehe Spalte). Und er musste benennen, was vor allem Afroamerikaner und Latinos in den USA umtreibt: Dass ein ungerechtes Justizsystem und Masseninhaftierungen, die das US-Gefängnissystem durch Zwangsarbeit zu einem Wirtschaftsstandort mit lukrativer Rendite machen, die Gesellschaft ärmer machen, weil sie ihr wertvolle Menschen entziehen.

Neben der für die USA typischen Selbstbeweihräucherung wollte Obama mit seiner Rede aber auch einen unmissverständlichen Gruß nach Europa schicken und hier vor allem in die Ukraine und in die neuen NATO-Aufmarschgebiete an den Westgrenzen der Russischen Föderation. Deshalb verstieg er sich zu der Behauptung, das Beispiel der schwarzen Bürgerrechtskämpfer sei »später Vorbild für die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang geworden« und habe so »zum Fall der Mauer beigetragen«.

Bei allem Verständnis dafür, dass der erste afroamerikanische US-Präsident seine Rede in Selma dazu nutzen wollte herauszustellen, welchen Segen nicht nur die USA, sondern auch »ihre« schwarze Bürgerrechtsbewegung für die Welt bedeuten – Obamas heimlicher Gruß an die deutsche Kanzlerin und ihren willfährigen Bundespräsidenten war lächerlich, auch wenn vielen DDR-Bürgern seit der Kehrtwende das Gefühl vermittelt wurde, »white niggers« zu sein.

Rassismus nicht gebannt



US-Präsident Barack Obama schlug in seiner Rede am Samstag in Selma den Bogen vom Kampf der Bürgerrechtsbewegung vor fünf Jahrzehnten zu den Protesten gegen Polizeigewalt in der Gegenwart:

(…) Ich bin gefragt worden, ob der Ferguson-Bericht des Justizministeriums nicht zeige, dass sich im Hinblick auf »Rassefragen« wenig verändert habe in diesem Land. Diese Frage konnte ich gut verstehen. Der Bericht zeigte eine allzu bekannte traurige Realität. Er rief die Art von Missbrauch und Missachtung jener in Erinnerung, die die Bürgerrechtsbewegung schufen. Aber ich bin nicht der Meinung, dass sich nichts geändert hat. Was in Ferguson geschah, mag vielleicht kein Einzelfall sein. Aber es ist nicht länger typisch. Und es ist nicht länger gesetzlich erlaubt, wie dies sicher noch vor der Bürgerrechtsbewegung der Fall war. (…)

Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass Ferguson ein isoliertes Ereignis war, dass der Rassismus gebannt ist und dass die Arbeit, die Männer und Frauen nach Selma brachte, getan ist. (…) Es bedurfte nicht erst des Ferguson-Berichts, um zu wissen, dass das nicht wahr ist. Wir müssen nur unsere Augen, Ohren und Herzen öffnen, um zu begreifen, dass die Geschichte der »Rassen« in diesem Land immer noch ihre langen Schatten auf uns wirft.

Wir wissen, der Marsch ist noch nicht zu Ende. Wir wissen, das Rennen ist noch nicht gewonnen. Wir wissen, dass dieser gesegnete Tag, an dem wir alle allein nach unserem Charakter beurteilt werden, noch nicht gekommen ist, und das erfordert, dass wir der Wahrheit ins Gesicht sehen.

Wir können dafür sorgen, dass unser Strafrechtssystem allen dient und nicht nur wenigen. Wir können das gegenseitige Vertrauen stärken, auf dem die Polizeiarbeit basiert – die Idee, dass Polizeibeamte Teil der Gesellschaft sind, die ihr Leben dabei riskieren, Bürger zu schützen, und dass Bürger in Ferguson, New York und Cleveland das gleiche wollen, wofür junge Leute hier vor 50 Jahren marschiert sind: Gleichheit vor dem Gesetz. Gemeinsam können wir unfaire Urteile, überbelegte Gefängnisse und die Umstände, die vielen Jungen die Chance rauben, erwachsene Männer zu werden, und der Nation zu viele Männer nehmen, die gute Väter, gute Arbeiter und gute Nachbarn sein könnten, zum Thema machen.

Übersetzung: Jürgen Heiser



* Aus: junge Welt, Dienstag, 10. März 2015

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"Wir wissen, dass der Marsch noch nicht zu Ende ist. Wir wissen, dass das Rennen noch nicht gewonnen ist"
Im Wortlaut (deutsch): Die berühmte Rede von Barack Obama zum 50. Jahrestag der Protestmärsche von Selma nach Montgomery




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