Von den USA lernen
Ausgerechnet in den gewerkschaftsfeindlichen Vereinigten Staaten ist eine Massenstreikbewegung im Niedriglohnsektor entstanden. Im Visier befinden sich vor allem die Fast-Food-Konzerne
Von Ingar Solty *
Die USA sind gemeinhin nicht das Land, das man heute mit einer starken Gewerkschaftsbewegung verbindet. Im Gegenteil, in keinem anderen kapitalistischen Kernstaat ist der Organisationsgrad im Zuge der neoliberalen Wende so dramatisch gesunken wie hier. Dies hängt paradoxerweise auch mit einem Erfolg der Gewerkschaften zusammen: Weil das US-Tarifsystem weitgehend auf Hausverträgen beruht und die Eigentümer organisierter Betriebe bis zu 50 Prozent höhere Löhne zahlen müssen als die mit einer unorganisierten Belegschaft, tobt hier der Klassenkampf besonders heftig. Letztlich kann es nur einen Sieger geben: Entweder erringen die Gewerkschaften eine flächendeckende Organisierung, oder dem Kapital gelingt durch »Union-Busting« die systematische Eliminierung der innerbetrieblichen Beschäftigtenvertretungen. Auf Dauer jedenfalls können die organisierten gegen die unorganisierten Betriebe aufgrund der Lohndifferenz in der kapitalistischen Konkurrenz nicht bestehen.
Diesen Klassenkampf scheint das Kapital vorerst gewonnen zu haben. Heute sind nur noch 5,9 Prozent aller im Privatsektor Arbeitenden organisiert. Und in den Südstaaten und den angrenzenden des Mittleren Westens, wohin sich das Kapital in den 1960er und 1970er Jahren verlagert hatte, um den starken Gewerkschaften im Nordosten zu entgehen und von hier geltenden drakonischen Antigewerkschaftsgesetzen (»Right to Work«) zu profitieren, liegt der Anteil noch deutlich darunter. Am niedrigsten ist er heute – ungeachtet der relativ starken Industrialisierung des Südens – in Georgia, Arkansas sowie Idaho (alle 2,9 Prozent), Texas (2,8 Prozent), Oklahoma, Virginia und Tennessee (2,7 Prozent), Florida und South Dakota (2,5 Prozent), Utah (2,1 Prozent), South Carolina (1,9 Prozent) und North Carolina (1,2 Prozent). Diese extreme Schwächung zwang die US-Gewerkschaften zur Erarbeitung von Gegenstrategien, die auch hierzulande mehr und mehr Beachtung finden. Dazu gehört vor allem das Organizing-Konzept.
Genesis einer Bewegung
Und tatsächlich scheint es, dass sich auch und gerade für den Niedriglohnsektor einiges aus den USA lernen lässt, denn dort ist eine neue Massenbewegung der Arbeiter entstanden. Sie geht auf den 29. November 2012 zurück: An diesem Tag traten mit Unterstützung der größten Dienstleistungsgewerkschaft SEIU (Service Employees International Union) in New York gut 200 Köche und Kassierer diverser Fast-Food-Ketten wie McDonald’s, Burger King und Wendy’s in den Streik. Ein halbes Jahr später erfasste ein erneuter Streik weitere Städte: Zwischen dem 4. April und 30. Mai 2013 kam es zu einer Reihe von Ausständen in New York, Chicago, Detroit, St. Louis, Milwaukee und Seattle. Später wurden diese Streiks koordiniert, so dass zwischen dem 29. Juli und 2. August in all diesen Orten und dazu in Flint und Kansas City Fast-Food-Ketten-Beschäftigte gleichzeitig ihre Arbeit niederlegten. Insgesamt waren jetzt bereits 2.200 Arbeiterinnen und Arbeiter beteiligt.
Hiernach nahm die entstehende Bewegung Massencharakter an. Am 29. August 2013 bestreikten Arbeiter Hunderte Restaurants in rund 50 Kommunen von 20 Bundesstaaten. Und am 5. Dezember 2013 sowie am 15. Mai 2014 waren bereits mehr als 100 Ortschaften in der Hälfte aller 50 Bundesstaaten involviert.
Bei den Streiks vom 4. September 2014 in jetzt 150 Städten veränderte sich der Charakter der Bewegung abermals, insofern sich mit den Heimarbeiterinnen nun erstmals auch eine andere Gruppe von Niedriglohnbeschäftigten anschloss. Zuletzt war die Zahl der Städte, in denen gestreikt und protestiert wurde, am 4. Dezember auf 190 angewachsen. Jetzt konnte man endgültig von einer breiteren Mobilisierung der unorganisierten Niedriglohnarbeiter sprechen. Denn jetzt streikten und protestierten auch Pflege- und Reinigungskräfte, Gepäckverlader verschiedenster Flughäfen, Wal-Mart-Mitarbeiter, Angestellte von Discount- und Gemischtwarenläden sowie Beschäftigte von Public-Private-Partnership-Dienstleistern.
Am 15. April erreichte diese Bewegung nun ihren vorläufigen Höhepunkt. So kam es unter dem Motto »Fight for 15 and a Union!« in 236 Städten zum bisher größten nationalen Massenstreik der Niedriglohnsektor-Beschäftigten. Das Besondere: Der Schwerpunkt der Proteste lag im Grunde von Anfang an in den gewerkschaftsfeindlichsten Bundesstaaten. Signifikante Streiks fanden an jenem Tag in wenigstens 30 von ihnen statt. 17 dieser Staaten waren solche mit Right-to-Work-Gesetzen. Gerechnet hatten die Organisatoren mit rund 60.000 Beteiligten. Am Ende müssen insgesamt aber wohl wenigstens 100.000 Menschen involviert gewesen seien. Während von Jackson/Mississippi bis Charlotte/North Carolina McDonald’s und andere Fast-Food-Restaurants bestreikt wurden, kam es in Dutzenden US-Großstädten zu Protestmärschen mit allein 30.000 Teilnehmern in New York, knapp 10.000 in Los Angeles und rund 8.000 in Detroit.
Wie schon zuvor traten auch diesmal Arbeiter aus vielen Niedriglohnbranchen in den Streik: Dazu gehörten wieder Beschäftigte aus dem expandierenden Heimpflegesektor, in dem etwa zu 90 Prozent Frauen arbeiten und in dem – einer aktuellen Studie der Universität Berkeley zufolge – 48 Prozent trotz Vollzeitarbeit auf Sozialhilfe angewiesen sind. Außerdem beteiligten sich Erzieherinnen und Erzieher, bei denen derselben Studie zufolge 46 Prozent von staatlicher Unterstützung abhängen. Das Flughafenpersonal und erstmals auch das akademische »Prekariat«. (In den USA werden mittlerweile 45 Prozent aller Lehraufträge an den Universitäten und Colleges von schlecht bezahlten Teilzeitdozenten in unsicheren Arbeitsverhältnissen erfüllt. 25 Prozent dieser Hochschullehrer, d.h. rund 100.000 Personen, beziehen Sozialhilfe.)
Die Bewegung kann damit schon jetzt als historisch angesehen werden. Die Mobilisierung ist gerade auch deshalb bedeutend, weil im Niedriglohnsektor die Beschäftigten über vergleichsweise wenig »Arbeitermacht« verfügen, da sie aufgrund der häufig geringen Qualifikation ihrer Tätigkeit und vor dem Hintergrund von Massenarbeitslosigkeit leicht auszutauschen sind. Ihre einzige Waffe ist die der flächendeckenden kollektiven Organisation, um die Konkurrenz untereinander aufzuheben.
Sich in diesem Sinne zu engagieren, erfordert also großen Mut. McDonald’s etwa wurde von der unabhängigen Bundesbehörde National Labor Relations Board (NLRB)¹ in mehr als einem Dutzend Fällen angeklagt, weil der Konzern Beschäftigten, die an den Streiks teilnahmen und sich mit Organizern der Gewerkschaft trafen, die Arbeitsstunden reduzierte und einige zwecks Einschüchterung aller auch entließ.
Kapitalsubventionen
Die Bewegung verlangt eine Erhöhung des Mindestlohns auf 15 US-Dollar pro Stunde und das Recht, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Die politische Lohnforderung erklärt sich dadurch, dass in 35 Jahren Neoliberalismus die Höhe dieses niedrigsten rechtlich zulässigen Arbeitsentgelts von der Inflations- und Produktivitätsentwicklung abgekoppelt worden ist. National sind in allen Bundesstaaten 7,25 Dollar vorgeschrieben; im Durchschnitt liegt der Mindestlohn bei 8,69 Dollar. Unter Berücksichtigung der Steigerung von Preisen und Produktivität, müsste er nach Einschätzung der New York Times heute indes bei wenigstens 18 Dollar liegen.
Weil das aber nicht der Fall ist, sind im Niedriglohnsektor, der in der Krise drastisch ausgeweitet worden ist (drei von fünf neuen Stellen entstehen hier, mit Löhnen zwischen 7,69 und 13,83 Dollar), Millionen arbeitende Arme beschäftigt – mit Vollzeit- und noch viel öfter mehreren Teilzeitstellen, die in den meisten Großstädten nicht zum Überleben reichen. Entsprechend ist ein Großteil auf zwei Vollzeitjobs angewiesen. Manche Beschäftigte berichten gar von bis zu fünf Jobs und fast alle von Sieben-Tage-Wochen. Meldungen von Todesfällen durch Arbeitsbelastung wie in dem durch die Presse gegangenen, tragischen Fall der Dunkin-Donuts-Arbeiterin Maria Fernandes häufen sich. Die 32jährige hielt sich mit drei Jobs über Wasser und starb, als sie zwischen zwei Schichten in ihrem Auto schlief, bei dem wegen eines technischen Defekts Gas ins Innere strömte. Oft ergeben sich solche Fälle auch krankheitsbedingt, denn in der Regel erhalten Niedriglohnsektor-Beschäftigte weder Zuzahlungen zur Krankenversicherung noch zur kapitalgedeckten Rentenversicherung. Knapp 40 Prozent aller Gastronomiebeschäftigten leben heute unterhalb der Armutsgrenze, 52 Prozent verdienen so wenig, dass sie auf Sozialhilfe angewiesen sind.
Letzteres ist ein internationales Phänomen der Klassengesellschaft. Der Niedriglohnsektor ist faktisch eines der umfangreichsten mit Steuermitteln finanzierten Subventionsprogramme zugunsten des Kapitals. In den USA weisen Konzerne wie Wal-Mart, mit knapp 1,4 Millionen Beschäftigten der mit Abstand größte »Arbeitgeber« des Landes, ihre Arbeiter systematisch darauf hin, wie sie – trotz Vollzeitarbeit – staatliche Zuschüsse zu ihrem Armutslohn erhalten können, um über die Runden zu kommen.
Die New York Times rechnete am 4. April 2015 vor, dass alleine McDonald’s den US-Steuerzahler jährlich rund 1,2 Milliarden Dollar koste und argumentierte deshalb: »Das ist Geld, dass aus Konzernkassen kommen und in Arbeiterlöhne fließen sollte (…). Ein gerechter Lohn für alle Mc-Donald’s-Arbeiter wäre einer, der es ihnen erlaubt, ohne Essensmarken und andere öffentliche Mittel zu überleben.« Die alljährlichen Gesamtkosten dieses Systems der öffentlichen Subventionierung privater Armutslöhne beziffern die Forscher von der Universität Berkeley mit 152,8 Milliarden US-Dollar. Das entspricht rund einem Fünftel des großen Konjunkturprogramms, das der US-Staat 2009 zur Bekämpfung der Finanzkrise aufgelegt hatte.
Vor diesem Hintergrund war der 15. April gut gewählt: Traditionell ist es der Tag der Steuererklärung, und zugleich entsprachen die Ziffern dem Datum der Mindestlohnforderung. Ausgesprochen klingt 4/15 nach »for 15«, also »für 15«. Diese Forderung kommt dabei auch in der Höhe nicht von ungefähr. Sie lehnt sich an den höchsten Mindestlohn im Land an. In Seattle wurde der gerade vom Stadtparlament beschlossen.
Doch wie konnte die neue Bewegung der unorganisierten Arbeiter überhaupt entstehen? Spontan ergibt sich so etwas selbstverständlich nicht. Die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU, Initiatorin und Hauptakteurin der Bewegung, profitiert von einem breiten Zivilgesellschaftsbündnis. Mitgetragen wurde der Massenstreiktag von einem Netzwerk von 2.000 Gruppen, darunter die National Association for the Advancement of Colored People, die linke Protest- und Antiausteritätsbewegung Moral Mondays aus North Carolina, das 2012 aus Gewerkschaftskreisen gegründete Center for Popular Democracy, die große linke Kampagnenplattform MoveOn.org und die Internationale Gewerkschaft der Nahrungsmittelarbeiter.
Direkte Unterstützung kam zudem nicht nur von linken Drittparteien wie den Democratic Socialists of America und der bewegungsorientierten Chicago Teachers Union. Besondere Bedeutung hatte auch die Unterstützung seitens zahlreicher religiöser – christlicher, jüdischer und muslimischer – Gruppen darunter der Interfaith Coalition for Worker Justice und nichtevangelikaler Kirchenzusammenschlüsse wie den Councils of Churches diverser Bundesstaaten (darunter North Carolina, Florida und Pennsylvania).
Als besonders fruchtbar erwies sich in der Vorbereitung die enge Zusammenarbeit der SEIU-Mindestlohnkampagne mit Black Lives Matter, d.h. jener Bewegung, die im Sommer 2013 nach dem Freispruch von George Zimmerman im Trayvon-Martin-Prozess entstanden und seither federführend im Kampf gegen die zahlreichen Erschießungen von zumeist unbewaffneten Schwarzen durch vor allem weiße Polizisten gewesen ist. Auch diese Verbindung ist verständlich, insofern Minderheiten, also Schwarze und Hispanics, im Niedriglohnsektor und in der Arbeiterklasse zwar keine Mehrheit bilden, aber doch stark überrepräsentiert sind.
Breite Solidarität
Von Bedeutung war zudem schließlich die Solidarität aus anderen gesellschaftlichen Gruppen. So mobilisierten Studenten insgesamt an knapp 200 Universitäten zu Demonstrationen. Durchaus im Eigeninteresse. Denn während die Studiengebühren in der Krise noch einmal erheblich gestiegen sind, ist die Arbeitsmarktlage seit Krisenbeginn so katastrophal, dass mehr als 42 Prozent der Fast-Food-Arbeiter über 25 Jahre zumindest schon einmal studiert und 753.000 Arbeiter in dieser Branche sogar einen Hochschulabschluss haben.
Auch die internationale Solidarität fehlte nicht: Unterstützt wurde 4/15 auch durch Streiks und Demonstrationen in 35 bis 40 Ländern von Brasilien bis Indonesien. Überhaupt ist die Kampagne internationalisiert. Die SEIU hat entscheidend dazu beigetragen, dass europäische und US-Gewerkschaften gemeinsam McDonald’s in Europa der Steuerflucht im Umfang von mehr als einer Milliarde Dollar bezichtigten. Die »Generaldirektion Wettbewerb« der EU leitete daraufhin eine Untersuchung ein. Zugleich haben in Brasilien die zwei größten Gewerkschaftsverbände das Unternehmen für Arbeitszeitbetrug, mangelnde Sicherheit am Arbeitsplatz und Betrug der Arbeitslosenversicherung anklagen lassen.
Und auch in den USA selbst ist McDonald’s stark unter Druck geraten. Denn Mitte Dezember 2014 hat das NLRB in einem Urteil mit weitreichenden Folgen zugunsten einer Kollektivklage von Beschäftigten entschieden, dass der Konzern ein »Joint employer« sei, und deshalb für die Arbeitsbedingungen in all seinen Filialen verantwortlich. Damit ist auch die Lohnfrage berührt, die SEIU kann daher direkt das Mutterunternehmen attackieren.
So steht McDonald’s, wie niemand sonst mit dem Niedriglohnsektor (»McJobs«) assoziiert, im Mittelpunkt einer starken Gewerkschaftsoffensive. Schon lange im Vorfeld von 4/15 zeichnete sich auch für die Herren in der Konzernzentrale ab, dass diese Kampagne die größte Mobilisierung von Niedriglohnarbeitern in der Geschichte der USA werden würde.
Vor diesem Hintergrund signalisierte das Unternehmen am 2. April Entgegenkommen. Zuvor hatte es noch verlautbaren lassen, dass die Streiks eigentlich gar keine seien, »sondern organisierte Demonstrationen, die Medienaufmerksamkeit bezweckten«. Auch wurde kolportiert, die Streikenden seien keine McDonald’s-Beschäftigten, sondern bezahlte Demonstranten. Die Konzernrestaurants selbst seien von den Streiks kaum betroffen. Nun aber kündigte McDonald’s eine Lohnerhöhung an – in der irrigen Hoffnung, mit Almosen der Bewegung den Wind aus den Segeln nehmen zu können. Die versprochene Steigerung war dabei aber nicht nur minimal (um einen Dollar über dem jeweiligen regionalen Mindestlohn), sie sollte auch nur für einen kleinen Teil der insgesamt rund 750.000 Beschäftigten gelten, nämlich lediglich für die direkt vom Konzern angestellten. Die machen jedoch kaum mehr als zehn Prozent aus.
Entsprechenden Hohn erntete der Vorschlag seitens der Mitarbeiter. So verurteilte die alleinerziehende Mutter Kwanza Brooks, die seit zehn Jahren in Fast-Food-Restaurants arbeitet und von der Lohnerhöhung auf 8,25 Dollar sogar persönlich profitiert hätte, diese in einem Artikel im Guardian als reine »PR-Maßnahme«. Und Mitglieder des Centro de Trabajadores Unidos en la Lucha, die sich in dem Konzern zusammengeschlossen haben, fügten hinzu: »Danke, McDonald’s, für die Anerkennung der harten Arbeit, die viele von uns im Organizing verrichten. Aber wir Arbeiter werden uns weiterhin organisieren, bis wir bekommen, was wir wollen.«
Der Massenstreik war zweifellos ein Erfolg, und die entstandene Bewegung der Niedriglohnarbeiter kann jetzt schon einige Siege vorweisen. Das gilt zunächst diskursiv. Nach der austeritätspolitischen Wende vom Sommer 2010 haben soziale Bewegungen vom Wisconsin-Aufstand über »Occupy Wall Street« und den Chicagoer Lehrerstreik bis zu »Fight for 15 and a Union!« zentrale Fragen wie die Verteidigung der öffentlichen Daseinsvorsorge gegen die Spar- und Privatisierungspolitik, die wachsende soziale Ungleichheit und die »Teilzeit-Niedriglohnepidemie« am Arbeitsmarkt, von der sogar das Wall Street Journal spricht, wieder ins Bewusstsein gerückt.
Die Bewegung kann dabei auf die Unterstützung der Mehrheit zählen. Umfragen zufolge sind schon lange mehr als zwei Drittel der Bevölkerung und sogar auch eine Mehrheit der Republikaner-Anhänger für eine Anhebung des nationalen Mindestlohns auf 10,10 Dollar, die von US-Präsident Barack Obama infolge des Drucks ins Spiel gebracht worden ist.
Vor diesem Hintergrund ist die Bewegung längst auch auf gesetzgeberischem Terrain erfolgreich. Am 12. Februar 2014 setzte Obama per Exekutivanordnung den 10,10-Dollar-Mindestlohn immerhin für die rund 200.000 Arbeiter jener Firmen durch, die Auftragnehmer der Bundesregierung sind. Und auch bei den Zwischenwahlen 2014 brachten Aktivisten trotz des Republikanersiegs und demokratischer Wahlenthaltung erfolgreich entsprechende Referenden zur Abstimmung. So votierten in einigen der konservativsten Staaten überhaupt – wie Arkansas, Alaska, South Dakota und Nebraska – Mehrheiten für Erhöhung des jeweiligen Mindestlohns. Auch in San Francisco steigt dieser bis Juli 2018 auf 15 Dollar. In Los Angeles zahlt die Schulbehörde allen Beschäftigten das gleiche. In Chicago stieg der Mindestlohn zuletzt auf 13 Dollar.
Nicht ohne Widersprüche
Fraglich bleibt trotzdem, ob sich auf diesem Wege der Organisationsgrad der Gewerkschaften erhöht. Die SEIU ließ sich die Kampagne rund 25 Millionen Dollar kosten. Unumstritten ist sie intern nicht. Vielen Mitgliedern erschließt sich die Notwendigkeit des Organizing nicht unmittelbar als in ihrem eigenen Interesse stehend.
Gleichwohl gehört die SEIU zu den Gewerkschaften, die erkannt haben, dass die Zukunft der Arbeiterbewegung vom Organizing abhängt. 2005 zählte sie zu denjenigen Gewerkschaften, die federführend die Spaltung des US-Dachverbands AFL-CIO herbeiführte, weil sie – mit gemischten Ergebnissen – darauf pochte, die schwindenden Mittel ins Organizing anstatt ins Demokraten-Lobbying zu stecken. Positiv ist auch, dass die SEIU ansonsten isolierte betriebliche Kämpfe mit einer allgemeinen politischen (Mindestlohn-)Kampagne verbindet. Dazu gehört ganz entscheidend, dass sie sich im Gegensatz zu den wettbewerbskorporatistischen und business-unionism-orientierten Teilen der Industriegewerkschaften um eine Organisation für alle Arbeiterinnen und Arbeiter bemüht, die nicht den Anschein einer ständischen Interessenvertreterin der Hochlohnarbeiter erweckt, die eben nicht die Prekären und arbeitenden Armen ihrem Schicksal überlässt.
Trotzdem bleiben Widersprüche: Es liegt auf der Hand, dass es für die SEIU zwar nicht unmöglich, aber doch schwierig ist, sich in (Fast-Food-)Betrieben mit Geringqualifizierten, die über sehr wenig Machtressourcen verfügen, zu organisieren und Haustarife durchzusetzen. SEIU-Organizer berichten, dass die Strategie darin besteht, McDonald’s zu suggerieren: »Das Alles – negative Medienaufmerksamkeit, Druck auf den Aktienpreis etc. – kann aufhören, sobald ihr einlenkt.« Damit ist die SEIU lohnpolitisch tatsächlich ziemlich erfolgreich. Gleichwohl bleibt das Problem der geringen Machtressourcen ungelöst: Denn langfristig gelangt die Arbeiterbewegung erst dann zu alter Stärke, wenn es den Gewerkschaften gelingt, die Schlagkraft am Arbeitsplatz zu erhöhen.
Ob die politische Streikwelle nun also die Arbeiterbewegung erneuern kann, ist eine offene Frage. In einigen Bundesstaaten mussten die Gewerkschaften faktisch zur selben Zeit starke Rückschläge hinnehmen – so zum Beispiel durch die Verwandlung der früheren Arbeiterbewegungshochburgen Wisconsin und Michigan in Right-to-Work-Staaten. Die strategische Debatte zur Erneuerung der Gewerkschaften bleibt aber auf der Tagesordnung. Die Bewegung der Niedriglohnarbeiter setzt so oder so, nicht nur in den USA und nicht nur am 1. Mai, ein hoffnungsvolles Zeichen.
Anmerkung-
Die Bundesbehörde für Arbeitsbeziehungen kann gegen unfaire Arbeitspraktiken vorgehen und schützt das Recht der Beschäftigten, durch Abstimmungen zu entscheiden, ob sie sich durch Gewerkschaften vertreten lassen.
Ingar Solty ist Mitarbeiter des Forschungsprojekts »Europe in an Era of Economic and Political Crisis« an der York University in Toronto.
* Aus: junge Welt, Donnerstag, 30. April 2015
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