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Tödliche Kontinuitäten

Von Albert Scharenberg *

Seit der Erschießung des unbewaffneten 18-jährigen Afroamerikaners Michael Brown in Ferguson durch einen weißen Polizisten reißen die Proteste nicht ab, demonstrieren in den USA jeden Tag Tausende gegen Polizeigewalt. Gleichzeitig offenbart die öffentliche Debatte über den Fall, dass die Frage, ob Rassismus heute noch eine Rolle in der amerikanischen Gesellschaft spielt, von Weißen und Schwarzen grundverschieden beantwortet wird. Wie kann das sein in einem Land, das erst vor wenigen Jahren freudetrunken den Wahlsieg seines ersten schwarzen Präsidenten feierte?

Auf den ersten Blick fällt die Antwort leicht: Dank der Bürgerrechtsbewegung wurde die gesetzliche Rassentrennung vor einem halben Jahrhundert im ganzen Land abgeschafft; seitdem ist eine schwarze Mittelschicht entstanden; und Afroamerikaner sind heute gesellschaftlich nicht mehr »unsichtbar«, wie der Schriftsteller Ralph Ellison einst schrieb, sondern – im Sport, in der Politik, in Film und Fernsehen – überaus sichtbar. Wo also liegt das Problem?

Es besteht zunächst darin, dass es für die weiße Bevölkerungsmehrheit gar keinen Rassismus mehr gibt. Die meisten Weißen glauben – insbesondere seit der Wahl Barack Obamas –, in einer »post-rassistischen« Gesellschaft zu leben. Historisch mag es Rassismus gegeben haben, so die Logik, aber wenn der höchste Repräsentant des Staates Afroamerikaner ist, dann kann der Rassismus heute keine oder zumindest keine nennenswerte Rolle mehr spielen.

Sieht man genauer hin, ergibt sich allerdings ein grundsätzlich anderes Bild. Denn allen Fortschritten zum Trotz hat sich die soziale Spaltung zwischen Weißen und Schwarzen keineswegs verringert. Im Gegenteil: Ein Blick auf die einschlägigen Indikatoren offenbart, dass die Ungleichheit ungebrochen ist – trotz Obama, der Talkshow-Moderatorin Oprah Winfrey und den Popstars Jay Z und Beyoncé.

Wie in den 1960er Jahren beträgt das Durchschnittseinkommen schwarzer Haushalte weiterhin nur drei Fünftel desjenigen weißer Haushalte; umgekehrt ist das Haushaltsvermögen der Weißen zwanzig Mal so groß wie das der Schwarzen. Die Arbeitslosigkeit unter Schwarzen liegt immer noch doppelt so hoch wie unter Weißen, die offizielle Armutsrate dreimal so hoch. Die gesetzliche Rassentrennung wurde aufgehoben, aber eine informelle Rassentrennung in den Wohnvierteln und Schulen dauert an. Mit Blick auf die Inhaftierungsrate ist die Ungleichheit seit den 1960er Jahren sogar gestiegen; damals landeten schwarze Männer fünfmal so oft im Gefängnis wie weiße, heute sechseinhalb Mal.

Angesichts dieser Fakten erweist sich das Bild einer »post-rassistischen« Gesellschaft also als Mythos – als Mythos, der eine Selbstentlastung der Weißen zur Folge hat und es erlaubt, die fortgesetzte Diskriminierung und Ausbeutung der Afroamerikaner zu ignorieren bzw. schlicht abzustreiten.

Dass sich diese Diskrepanzen nicht verringert, sondern verfestigt haben, hat Teile der Öffentlichkeit nicht daran gehindert, sie mit einem angeblichen Fehlverhalten der Schwarzen zu erklären. Nicht der Rassismus, sondern eine »Kultur der Armut« wird dabei als Ursache der Armut behauptet – womit dann endgültig die Marginalisierten selbst für ihre Marginalisierung verantwortlich gemacht werden.

Ein unverstellter Blick hingegen offenbart, dass die Wurzeln viel tiefer liegen. Der Journalist Ta-Nehisi Coates hat jüngst in der Zeitschrift »The Atlantic« an die historisch-systemische Dimension der Ungleichheit erinnert, die bis zur Ankunft der ersten Afrikaner in der englischen Kolonie Virginia 1619 zurückreicht. Coates verweist auf die – stets politisch-gesellschaftlich gedeckte und polizeilich geschützte – Enteignung der Schwarzen, von der Sklaverei über die gesetzliche Rassentrennung bis hin zur andauernden informellen Diskriminierung, etwa im Kreditwesen. Seine viel diskutierte Schlussfolgerung: Wollen die Vereinigten Staaten den strukturell verankerten Rassismus aufheben, muss das Land den Afroamerikanern Reparationen zahlen.

Fest steht: Ohne grundlegende Veränderungen bleibt die Spaltung auf allen Ebenen der Gesellschaft bestehen – auch unter einem schwarzen Präsidenten, der weder die Fortdauer der Ungleichheit, noch die Tötung von Trayvon Martin, Eric Garner, Michael Brown und all den anderen verhindern kann.

* Albert Scharenberg ist Ko-Leiter des New Yorker Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Aus: neues deutschland, Samstag 23. August 2014 (Gastkommentar)



Black-Power-Schützenverein

Bewaffnete Schwarze demonstrieren im US-amerikanischen Dallas gegen rassistische Polizeigewalt

Von Jürgen Heiser **


Im Stadtteil South Dallas der texanischen Metropole haben am Mittwoch bewaffnete Mitglieder des »Huey P. Newton Gun Club« (HNGC) gegen die Erschießung des afroamerikanischen Jugendlichen Michael Brown in Ferguson, Missouri, demonstriert. Aufmärsche bewaffneter Bürger sind in Dallas keine Seltenheit. Bislang wurden diese »Open Carry«-Demonstrationen allerdings nur von weißen Bürgern organisiert, die damit für das verfassungsmäßige Recht eintraten, überall in den USA registrierte Waffen in der Öffentlichkeit tragen zu dürfen. Dieses vom zweiten Zusatzartikel der US-Verfassung garantierte Recht ist Gesetz in 44 von 50 US-Bundesstaaten (jW berichtete). Die Stadtverwaltung genehmigte ausnahmslos alle von den Waffenlobbyisten der Bürgerinitiative »Open Carry Texas« angemeldeten Veranstaltungen.

»Blacks in arms« waren allerdings neu für Dallas. Schwarze in Waffen waren seit der Zeit der 1960/70er Jahre in US-Großstädten nicht mehr aufgetreten. Damals war es die von Huey P. Newton und Bobby Seale gegründete »Black Panther Party for Selfdefense«, deren Mitglieder in Kalifornien schwarzgekleidet und teilweise bewaffnet in schwarzen Wohnvierteln Streife liefen. Sie verfolgten damit die Absicht, den auch damals verbreiteten Übergriffen und Todesschüssen der weißen Polizei mit einer selbstorganisierten Bürgerkontrolle Einhalt zu gebieten. Tatsächlich gingen in den Gegenden, in denen die Polizei ständig von Panther-Streifen überwacht wurde, die Gewalttaten gegen Schwarze zurück.

Mitglieder der »New Black Panther Party« von Dallas gründeten schon vor einiger Zeit nach dem Vorbild ihrer weißen Mitbürger ihren eigenen Schützenverein und benannten ihn nach einem der beiden Gründer der historischen »Black Panther Party« (BPP). Anläßlich der Ereignisse in Ferguson machten sie nun den Schritt in die Öffentlichkeit. Dazu zogen 30 schwarzgekleidete Frauen und Männer mit Waffen und rotschwarzgrünen Fahnen, den Farben der afroamerikanischen Freiheitsbewegung, durch South Dallas. Sie skandierten »Black Power« und »Gerechtigkeit für Mike Brown!« Unterwegs hielt die Gruppe mehrere Kundgebungen ab, auf denen sich die Redner mit den Protesten in Ferguson solidarisch erklärten. Ohne die Kundgebungen in Ferguson, so sagen sie, wäre Browns Tod wie der vieler anderer Polizeiopfer unter den Teppich gekehrt worden.

Einem Reporter der Dallas News erklärte Charles Goodson die Beweggründe für die symbolische Aktion des HNGC: »Was Mike Brown geschah, ist kein isoliertes Ereignis. Wir haben hier in Dallas selbst viele ›Mike Browns‹.« Auch Clint Allen, Tobias Mackey und Bobby Walker seien von Polizisten erschossen worden. »Wir sind überzeugt, daß Schwarze ein Recht auf Selbstverteidigung und Selbstbestimmung haben«, zitierte CBS News Huey Freeman, der ebenfalls an der Aktion auf dem Martin Luther King jr. Boulevard teilnahm. Wenn der Staat »die Killercops und ihre Korruption« nicht in den Griff bekäme, so Freeman, dann werde es bald überall wie in Ferguson sein. »Wir können selbst am besten für Sicherheit in unseren Vierteln sorgen«, so der Aktivist.

Während der 90minütigen Aktion kam es nicht zu Zwischenfällen. Die Polizei hielt sich im Hintergrund. Einige afroamerikanische Passanten grüßten die Aktivisten mit geballter Faust. Die CBS-Reporterin Robby Owens kommentierte abschließend, den Demonstranten sei es keineswegs darum gegangen, sich für das offene Tragen von Waffen einzusetzen, sondern darum, gegen die Polizeidepartments im ganzen Land zu demonstrieren, die »Krieg gegen die schwarzen Gemeinden führen, die sie eigentlich schützen sollten«.

** Aus: junge Welt, Samstag 23. August 2014


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