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Scheinbare Ruhe

Ferguson: US-Justizminister Holder macht sich ein Bild von der Lage. Sicherheitskräfte halten sich zurück

Von Jürgen Heiser *

Die Lage in Ferguson im US-Bundesstaat Missouri hat sich am Mittwoch (Ortszeit) und in der Nacht zum Donnerstag zunächst beruhigt. Unter dem Eindruck eines Besuchs von Justizminister Eric Holder hielten sich Nationalgarde und Sondereinheiten der Polizei zum ersten Mal seit Tagen im Hintergrund. Der allabendliche »Marsch für Gerechtigkeit« für den von Polizeikugeln durchsiebten Teenagers Michael Brown fand auf einem dafür von den Behörden freigegeben Areal statt. Noch am Vortag waren Versammlungen gegen Rassismus und Polizeigewalt, an denen zunehmend auch weiße Einwohner teilnehmen, gewaltsam aufgelöst worden. Fast 50 Personen wurden dabei festgenommen, unter ihnen die 90jährige KZ-Überlebende Hedy Epstein. Sie wurde in Handfesseln abgeführt, nachdem sie als Rednerin auf einer Kundgebung den von Gouverneur Jeremiah Nixon verhängten Ausnahmezustand kritisiert und mit 125 Aktivisten den Eingang seines Amtssitzes blockiert hatte.

Holder unterhielt sich in der Bezirksstadt St. Louis mit Stadträten und brach danach zu medienwirksamen Begegnungen mit der Familie Michael Browns sowie der Polizeiführung und Gemeindevertretern in Ferguson auf. Offizieller Grund für den Besuch des Ministers war eine interne Sitzung mit der von ihm selbst eingesetzten 40köpfigen Sonderkommission aus Bundesanwälten und FBI-Agenten, die vor Ort die Todesumstände des Teenagers untersuchen. Holder ließ sich über den Stand der Ermittlungen in Kenntnis setzen und forderte vor der Presse »rasche Ergebnisse«. Der Minister hatte den Fall auf die Bundesebene gezogen, weil die Polizei in Ferguson seit der Erschießung des unbewaffneten Jugendlichen am 9. August keine Gelegenheit ausgelassen hatte, das Opfer öffentlich zum Täter zu stempeln und den Todesschützen Darren Wilson zu decken, statt ihn in Haft zu nehmen. Parallel zum Besuch des Justizministers in Missouri versammelten sich am Mittwoch in Moskau 150 russische und ausländische Studierende vor der US-Botschaft und demonstrierten gegen die Unterdrückung der Proteste in Ferguson.

Eine »Grand Jury« der Staatsanwaltschaft hat unterdessen ihre Arbeit aufgenommen. Hinter verschlossenen Türen wollen die Ermittler Zeugen vernehmen und Beweise bewerten, um »frühestens Mitte Oktober«, so ein Sprecher der Behörde, zu entscheiden, ob gegen den Todesschützen Wilson Anklage erhoben wird oder nicht. Der Vorsitzende der »Grand Jury«, Staatsanwalt Robert McCulloch, löste indes eine heftige Kontroverse darüber aus, ob er die richtige Wahl für den Job ist. Im Alter von zwölf Jahren war McCulloch Zeuge, wie sein Vater im Polizeidienst von einem Schwarzen erschossen wurde. Kritiker halten ihn deshalb für völlig ungeeignet, objektiv in der »Affäre Brown« zu ermitteln.

Im Fernsehsender CNN kam am Mittwoch mit dem Regisseur Spike Lee ein scharfer Kritiker des Rassismus in den USA zu Wort. Grund mag der »Druck der Straße« gewesen sein, denn die CNN-Zentrale in Atlanta, Georgia, war zwei Tage zuvor aus Protest gegen die einseitige Berichterstattung des Senders von tausend Demonstranten belagert worden. Lee erklärte, in Ferguson würde »etwas zum Himmel stinken«, und das sei »nicht nur das Tränengas«. Warum, so fragte der aufgebrachte Filmemacher, veröffentlichten die Medien die von der Polizei lancierten diskriminierenden Informationen über Brown genau dann, wenn Themen wie das Obduktionsergebnis für die Behörden unangenehm zu werden drohten? »Das alles ist inszeniert, dafür gibt es ein Drehbuch!« wetterte er. Die Polizei tue alles, um sich zu schützen. Ferguson sei kein Einzelfall, erst vor wenigen Tagen sei ein junger Schwarzer in Los Angeles und jetzt in St. Louis, »nur ein paar Blocks von Browns Todesort entfernt«, der 23jährige Kajieme Powell erschossen worden. Gegen Schwarze werde ein regelrechter Krieg geführt, »nicht nur, indem wir getötet werden«, sondern »systematisch« durch mangelnde Bildungschancen, das Gefängnissystem und »indem junge Männer ohne jede Hoffnung aufwachsen«. Wenige Ausnahmekünstler müßten als erfolgreiche Schwarze dafür herhalten, das Gegenteil vorzugaukeln, so Lee, in Wahrheit jedoch wachse die schwarze Unterklasse jeden Tag weiter an.

* Aus: junge Welt, Freitag 22. August 2014


Ferguson ist überall

Die zunehmende Verarmung US-amerikanischer Vorstädte birgt erhebliches Konfliktpotenzial

Von John Dyer, Boston **


In den USA verarmen die Vorstädte zunehmend, nicht nur Ferguson bei St. Louis. Das geht aus Daten der Brookings Institution hervor, einer renommierten Denkfabrik in Washington.

Der afroamerikanische Bevölkerungsanteil in Ferguson ist von einem Viertel 1990 auf heute zwei Drittel gestiegen. Immer mehr Schwarze sind in den vergangenen Jahren aus dem von der Wirtschaftskrise geplagten St. Louis in den Vorort gezogen. Was auch daraufhin weist, dass hinter den Unruhen nach den tödlichen Schüssen eines weißen Polizisten auf einen schwarzen Jugendlichen mehr steckt als nur Rassismus. Das soziale Problem wird durch weitere Zahlen deutlich, die The Brookings Institution in Washington jetzt veröffentlicht hat.

Nach Angaben der überparteilichen, weltweit anerkannten »Denkfabrik« hat sich der Anteil der unter der Armutsgrenze lebenden Personen in Ferguson zwischen 1990 und 2010 verdoppelt. Heute gibt es rund 25 Prozent Arme in der Stadt. Wobei die Armutsgrenze bei einem Jahreseinkommen von 24 000 Dollar (18 000 Euro) für eine vierköpfige Familie festgelegt ist. Rund 13 Prozent der Bevölkerung in der Kleinstadt mit 21 000 Einwohnern sind arbeitslos. Das ist doppelt so hoch wie im Jahr 2000. Der nationale Durchschnitt in den USA liegt derzeit bei 6,3 Prozent.

Ferguson steht mit dieser Situation nicht allein. Laut dem Brookings-Bericht breitet sich in den Vororten großer US-amerikanischer Städte immer mehr Armut aus. Einst waren das die bevorzugten Wohngebiete der Mittelklasse, mit geräumigen Häusern und breiten Rasenflächen davor. Zwischen 2000 und 2012 hat sich die Zahl der Menschen in den Vororten der 100 größten Stadtregionen, die unter der Armutsgrenze leben, verdoppelt. »Wir haben eine rote Linie überschritten. Heute leben mehr arme Menschen in den Vororten als in den Großstädten«, sagt Elizabeth Kneebone, Autorin des Berichts. In den armen Gebieten gebe es »weniger Krankenversorgung, mehr Unterrichtsausfall und höhere Kriminalitätsraten«.

Die wirtschaftlichen Trends lassen vermuten, dass sich das auch nicht ändern wird. Eine neue Studie der Nachrichtenagentur Bloomberg stellt fest, dass die Löhne der Arbeiter in den USA seit 2009 nur um 0,5 Prozent gestiegen seien. In früheren Jahren wuchsen sie nach einer Rezession durchschnittlich um 9,2 Prozent.

Viele Menschen in Vororten wie Ferguson haben das Gefühl, dass sie trotz harter Arbeit nicht vorankommen können, sagt Wirtschaftsprofessor David Blanchflower vom Dartmouth College. »Die Arbeiter strengen sich an, aber sie sehen keine Anzeichen für baldige Verbesserungen ihres Lebensstandards.« Nach der Bloomberg-Studie ist das durchschnittliche Einkommen des obersten Fünftels der Verdienstskala zwischen 2008 und 2012 um 8400 Dollar gestiegen. Das des untersten Fünftels sank dagegen um um 275 Dollar.

Die wachsende Ungleichheit führt vielerorts dazu, dass Infrastruktur und Dienstleistungen bröckeln. Demonstranten in Ferguson kritisieren in diesen Tagen auch das Fehlen medizinischer Versorgung, eines öffentlichen Verkehrs und anderer Dienstleistungen. Ironischerweise sind viele Menschen aus St. Louis nach Ferguson gezogen, nachdem in der Großstadt mit dem Niedergang der Industrie in den Jahren 1980 bis 1990 eben diese städtischen Leistungen nicht mehr erbracht wurden.

Selbst vor reicheren Stadtregionen wie Boston macht das Problem nicht Halt. Wo bisher Kliniken auf Weltniveau, Universitäten und Technologiefirmen einen Lebensstandard gesichert haben, von dem man in St. Louis nicht zu träumen wagt, kommen nun die Vororte ebenfalls in Schwierigkeiten. Im Bericht der Federal Reserve Bank of Boston heißt es, dass inzwischen im Gürtel um Boston eine Million Menschen mit niedrigem oder »gerade noch mäßigem« Einkommen lebten.

* Aus: neues deutschland, Freitag 22. August 2014


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