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Pulverfaß Ferguson

USA: Nach Ermordung eines schwarzen Teenagers radikalisieren sich die Proteste

Von Jürgen Heiser *

In Ferguson, Missouri, ist am gestrigen Montag die Nationalgarde aufmarschiert, um für »Ruhe und Ordnung« zu sorgen. Nach einem kurzen Intermezzo der Beschwichtigung der Bürger am Donnerstag will Gouverneur Jay Nixon sich nun nicht länger auf die lokalen oder Landespolizeikräfte verlassen. Die Proteste ebben seit über einer Woche nicht ab und waren auch mit der unbegrenzten Verhängung des Ausnahmezustandes am Wochenende nicht zu stoppen. Es kam erneut zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei. Die mit gepanzerten Fahrzeugen angerückten Sicherheitskräfte trieben die Menschenmenge am Sonntag abend (Ortszeit) mit Tränengas auseinander, wobei einige der Gaskartuschen umgehend auf die Polizei zurückgeschleudert wurden. »Die Stadt und die ganze Gegend hier ist ein Pulverfaß!« erklärte einer der Aktivisten in Ferguson einem Reporter der Los Angeles Times.

Das Entsetzen und die Wut über die Ermordung des 18jährigen Afroamerikaners Michael Brown sitzen tief. Der Teenager war am 9. August auf offener Straße von einem weißen Polizisten kaltblütig erschossen worden. Die Taktik der Polizeiführung, mittels Informationssperre (siehe Randspalte) und der Mär vom »Polizisten in Notwehr« die Proteste ins Leere laufen zu lassen, ist nicht aufgegangen. Keiner dieser Schritte, auch die kläglich gescheiterte Diffamierung des erschossenen Teenagers als »Ladendieb« (jW berichtete) ist aufgegangen.

Bestätigt wird die scharfe Kritik an der Polizei des Bezirks durch den jetzt veröffentlichten Autopsiebericht. Einem Privatgutachten zufolge soll Michael Brown von mindestens sechs Kugeln getötet worden sein. Zwei Projektile hätten seinen Kopf und vier den rechten Arm getroffen, befand ein von den Eltern des Opfers eingeschalteter Rechtsmediziner, wie die New York Times am späten Sonntagabend (Ortszeit) berichtete. Laut dem vorläufigen Ergebnis der Autopsie seien alle Kugeln von vorne abgefeuert worden. Der von Browns Eltern beauftragte Pathologe Michael Baden gilt als Koryphäe auf seinem Gebiet. Wegen der »außergewöhnlichen Umstände« des Falls kündigte das US-Justizministerium an, Experten auf Bundesebene würden nun zusätzlich eine Autopsie der Leiche vornehmen.

Der Tod des Teenagers wächst sich in Öffentlichkeit und Medien der USA zur »Affäre Brown« aus und hat eine landesweite Kontroverse über offenen und institutionellen Rassismus und die Zunahme von privater Bewaffnung und die seit Jahren von US-Bundesregierung und den Bundesstaaten betriebene Militarisierung der Polizei entfacht (siehe Interview). Nicht zufällig fühlen sich viele Teilnehmer und Beobachter der Proteste gerade durch den Einsatz der Nationalgarde und die Bilder martialisch auftretender Polizeisondereinheiten in Ferguson und gegen Solidaritätsaktionen in mittlerweile über 100 Städten an die Aufstände in den Ghettos der 1960er Jahre erinnert. Auch wenn die schwarze Bürgerrechtsbewegung vor rund 50 Jahren gleiche Rechte für die afroamerikanische Bevölkerung erstritt, hat sich seither mit Blick auf ihre soziale Lage und politischen Einfluß nur wenig zum Guten verändert. Diskriminierung wegen Herkunft und Hautfarbe ist nach wie vor Alltag für die Mehrheit, und die von Weißen dominierte Polizei führt sich in den schwarzen Gemeinden wie eine Besatzungstruppe auf. So stellte Zoe Carpenter in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitschrift The Nation fest, Ferguson sei »besonders, aber keine Ausnahme«. Angesichts der Zweidrittelmehrheit der schwarzen Bevölkerung seien »der Bürgermeister und der Polizeichef, fünf von sechs Stadträten, mit einer Ausnahme alle Mitglieder des Schulausschusses und 50 von 53 Polizisten Weiße«. Und diese Polizisten, so Carpenter weiter, würden Tag für Tag eben Leute anhalten, filzen und einsperren, »die nicht aussehen wie sie«. 2013 seien 92 Prozent der Durchsuchungen und 86 Prozent der Verkehrskontrollen in Ferguson gegen Schwarze gerichtet gewesen. Diese hohe Zahl von Überprüfungen stehe jedoch in keinem Verhältnis zur realen Kriminalitätsrate. Die Polizeistatistik gebe indes auch Auskunft darüber, daß einer von drei kontrollierten Weißen eine illegale Waffe trug, während nur einer von fünf verdächtigen Schwarzen tatsächlich dergleichen bei sich hatte.

* Aus: junge Welt, Dienstag 19. August 2014


»Polizisten werden wie Soldaten trainiert«

Sicherheitskräfte in den USA begegnen Bürgerprotesten mit Kriegswaffen und in Kampfuniformen. Ein Gespräch mit Radley Balko **

Radley Balko ist Autor des Buches »Rise of the Warrior Cop: The Militarization of America’s Police Forces«.

Welchen Eindruck haben Sie vom Vorgehen der Polizei in Ferguson?

Was wir in Ferguson vorgeführt bekommen, ist die Manifestation einer Entwicklung, die vor 30 bis 35 Jahren einsetzte. In Ferguson war es das St. Louis County Police Department, das seine SWAT-Sondereinheiten (Special Weapons & Tactics / Spezielle Waffen und Taktiken, jW) entsandte, um, wie sie das nennen, »die Ordnung aufrechtzuerhalten«. Genau das passiert schon seit den frühen 1980er Jahren. Die Weiterreichung von überzähliger Armeeausrüstung durch das Pentagon an die Polizei – wir reden hier über Panzer, Schützenpanzerwagen, Granatwerfer, Helikopter – begann informell schon früh während der Regierungszeit von Ronald Reagan und wurde dann 1990 vom US-Kongreß formal abgesegnet. Auf diese Weise erhielt die Polizei buchstäblich Millionen von militärischen Ausrüstungsgegenständen. Und nach dem 11. September 2001 hat das Heimatschutzministerium Schecks an die Polizeidepartments verteilt, mit denen sie eigenständig militärisches Gerät zur Nachrüstung bei den Firmen kaufen konnten, die seitdem wie Pilze aus dem Boden schießen. Die Folgen davon haben wir in Ferguson erlebt, das ist kein lokales Phänomen. Das hat die nationale Politik vorangetrieben, über die der Kongreß die Aufsicht führt und die er bestätigt hat. Damit könnte morgen Schluß sein, wenn die das wollten.

Die Angriffswaffen der Polizei sind das eine, aber die Beamten sind auch in Kampfanzügen aufgetreten, als ob sie in den Krieg ziehen würden und es nicht mit zwar zornigen, aber weitestgehend friedlichen Bürgerprotesten zu tun hätten?

Richtig, die Waffen sind problematisch genug, aber auch die Uniformen spielen eine Rolle. Wenn Polizisten Kampfanzüge tragen, senden sie eine klare Botschaft an die Bürger aus, zu deren Schutz sie eigentlich da sind. Und es beeinflußt auch die Mentalität der Beamten selbst. Wenn wir Polizisten wie Soldaten trainieren, sie mit militärischem Gerät ausstatten, sie auch noch wie Soldaten kleiden und ihnen sagen, daß sie in einem Krieg kämpfen – »Krieg gegen das Verbrechen« oder »Krieg gegen den Terror« –, dann sehen sie sich auch bald selbst als Soldaten. Diese Mentalität ist jedoch in keiner Weise angemessen für die Polizeiarbeit im Innern. Aber genau das haben wir jetzt an der Reaktion der Polizei in Ferguson gesehen, und nicht nur dort, sondern auch bei vielen rabiaten Polizeiaktionen gegen die Occupy-Bewegung und gegen die Proteste anläßlich von Parteitagen der vergangenen Jahre. Dieses Vorgehen ist zum Standard geworden und steht damit im krassen Gegensatz zu den Grundwerten der freien Meinungsäußerung und der Versammlungsfreiheit.

Was hat es mit dem gepanzerten Mannschaftstransporter Marke BearCat auf sich, auf dem in Ferguson zusätzlich noch Scharfschützen postiert waren?

Der BearCat ist eine der Neuanschaffungen, die uns das Heimatschutzministerium mit seinen großzügigen Subventionen für die Polizei beschert hat. Dieser Schützenpanzer wird von der Firma Lenco hergestellt. Vor Jahren hat eine Stadt in New Hampshire gegen die Anschaffung des BearCat rebelliert. Als ich deshalb jemanden von Lenco interviewte, erklärte er mir, das sei alles künstlich hochgespielt worden. Wenn so ein BearCat zum Einsatz käme, dann wäre der eher mit Krisenverhandlungsführern oder Psychiatern besetzt als mit militarisierten Polizisten. Dann fand ich ein Werbevideo, das Lenco an die Polizeidepartments im ganzen Land geschickt hatte, um ihre BearCats zu vermarkten. Das Video zeigt einen Bear­Cat voller Polizisten in Kampfanzügen. Am Einsatzort springen die Polizisten aus dem Panzerwagen und fangen sofort an zu schießen. Dann bricht der Panzer ein Loch in ein Haus und schießt Tränengas ins Innere. Das alles war musikalisch unterlegt mit dem Song »Thunderstruck« von AC/DC. Völlig klar, das sind keine Bilder von Krisenverhandlungsführern oder Experten für Deeskalation. Es geht nur um die Militarisierung, um Konflikt und Aggression. Diese Art der Vermarktung von Lenco gegenüber der Polizei spricht für sich selbst.

Interview: Amy Goodman und Juan González

[Das Gespräch erschien zuerst auf Democracy Now und wurde von Jürgen Heiser übersetzt.]

** Aus: junge Welt, Dienstag 19. August 2014

»Spannungen seit Jahren ­angewachsen«

Antonio French, Stadtrat aus St. Louis, schilderte im US-Sender Democracy now die Hintergründe für die aktuellen Auseinandersetzungen in Ferguson:

Die Spannungen in Ferguson sind seit Jahren angewachsen, und der Vorfall um Michael Brown hat das Faß zum Überlaufen gebracht. (…) Ferguson ist eine mehrheitlich afroamerikanische Kleinstadt, aber die Polizei ist fast ausschließlich weiß, und viele Polizisten sind nicht aus Ferguson. Auch Polizeikräfte wie die Missouri Highway Patrol, die in den letzten Tagen von außerhalb hier eingesetzt wurden, haben keinen direkten Kontakt zur Bevölkerung.

Als ich [am 9. August, jW] persönlich am Tatort erschien, lag Mike Browns Leiche schon fast vier Stunden auf der Straße. Die Polizei hatte die Bürger und Mikes Mutter und Familie vom Tatort abgedrängt. Seine Mutter war wütend und schrie. Niemand vom Polizeidepartment gab ihr Informationen über den Zustand ihres Sohnes und was ihm geschehen war. (…) Was in diesen ersten Stunden passierte, war bestimmend für die Ereignisse der folgenden Tage. Es wurde eine menschliche Sperre aus Polizisten gebildet. Die bauten sich gegenüber den Bürgern auf und ließen nichts zu. Zum Glück kam es in dieser ersten Nacht noch nicht zur Gewalt. Die Leute (…) hofften, auf der für den kommenden Tag angekündigten Pressekonferenz der Polizei zu erfahren, was wirklich passiert war. Es gab die Hoffnung, daß der Gerechtigkeit Genüge getan und die Familie endlich informiert würde. Aber nichts davon passierte. (…) Und in einer Radiosendung konnte Browns Mutter über ihre Kontakte mit der Polizei nur berichten, daß man sie beschimpft hatte, respektlos zu ihr war und ihr keine Informationen gab. Deshalb waren Leute aus dem ganzen Bezirk St. Louis, zu dem Ferguson gehört, (…) so erschüttert vom Tod des jungen Mannes, und sie wollten ihre Frustration auf die Straße tragen.

[Übersetzung: Jürgen Heiser]




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