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Vergessene Opfer

Rassistische Polizeigewalt in den USA: Schwarze Frauen und Mädchen sind ebenso wie schwarze Männer vom »Racial Profiling« betroffen

Von Jürgen Heiser *

In den antirassistischen Bewegungen der USA gibt es eine Debatte über den Zusammenhang von rassistischer und sexistischer Unterdrückung. Seit der Ermordung Michael Browns in Ferguson, Missouri, konnte jedoch der Eindruck entstehen, als seien nur schwarze Männer oder männliche Jugendliche Opfer rassistischer Polizeigewalt. Schon ein genauerer Blick auf die Menschen, die maßgeblich die Organisierung der Protestbewegungen tragen, verändert das vorherrschende Bild. Die landesweite Kampagne »Black Lives Matter« (»Schwarze Leben zählen«) geht auf die Initiative der drei Afroamerikanerinnen Alicia Garza, Patrisse Cullors und Opal Tometipal zurück, wie Veronica Agard am 14. Dezember 2014 in The Grio schrieb. Auch hinter dem Aufruf zum »Marsch der Millionen« gegen Polizeigewalt in New York City im Dezember 2014 standen zwei Frauen: Synead Nichols und Umaara Iynaas Elliott. Sie schufen die Grundlagen für die Mobilisierung von mehr als 50.000 Menschen – »junge und alte, schwarze und weiße, geschlechts- und identitätsübergreifend« –, die »zu Ehren der Tausenden und Abertausenden, die wir verloren haben, auf die Straße gingen«, berichtete Agard.

In einem Video von USA Today über den Marsch zum Kapitol in Washington, D. C., der parallel stattfand, erklärte Yolanda Jones aus Brooklyn dem Reporter, sie sei in die Hauptstadt gekommen, um gegen »Racial Profiling« und »die Ermordung unserer Männer zu demonstrieren«. Sie wolle erreichen, »dass die Gesetze geändert werden, damit sie auch unsere Männer schützen«. Diese Sichtweise teilte US-Präsident Barack Obama, als er sich wegen des 2012 erschossenen Teenagers Trayvon Martin an die Nation wandte. Es gebe »wenige afroamerikanische Männer in diesem Land«, die nicht dauernd argwöhnisch beobachtet und verfolgt würden, so Obama.

Im Gegensatz zu der Wahrnehmung, dass nur schwarze Männer bedroht seien, ist es Autorinnen wie Veronica Agard zu danken, dass der Blick auf die Opfer rassistischer Polizeigewalt sich verändert. Mit ihrem Artikel »Auch das Leben schwarzer Frauen zählt: Die vergessenen Opfer der Polizeimorde« rückte sie die Geschichte wieder zurecht. Die Situation schwarzer Frauen und Mädchen sei »in der Empörung über die Morde an Michael Brown und Eric Garner untergegangen«, so Agard.

»Aber wer wird sich für uns erheben«, fragte die Autorin, »wenn nicht wir?« Und so schrieb sie auf, wie Frauen ihre Sache selbst in die Hand nahmen. Dazu schlossen sich auf dem »Marsch der Millionen« zwei feministische Gruppen zusammen, das »Sister Circle Collective« und die »Association of Filipinas, Feminists Fighting Imperialism, Re-feudalization, and Marginalization« (AF3IRM). Während des Marsches machten sie in ihrem Demoblock »Feministinnen in Bewegung« auf die weiblichen Opfer rassistischer Polizeigewalt aufmerksam, indem sie laut deren Namen riefen: Aiyana Stanley-Jones (7 Jahre), Pearlie Golden (92), Rekia Boyd (22), Nizah Morris (47), Kayla Moore (42) und viele weitere.

Im Blog »Black Voices« der Huffington Post griff Kali Nicole Gross, Professorin am »African Diaspora Studies Department« der University of Texas in Austin, das Thema am 29. April 2015 auf. Unter dem Titel »Das Schweigen über die Opfer unter schwarzen Frauen schwächt den Kampf gegen Polizeigewalt« führte Gross an, 20 Prozent der von Polizisten getöteten unbewaffneten Schwarzen seien Frauen oder Mädchen. Als Beispiele führte sie Tanisha Anderson (37) aus Ohio an, die im November 2014 unter körperlicher Fixierung durch Polizisten einen »plötzlichen Herztod« erlitt. Yvette Smith (45), die im Februar 2014 in Texas von einem Deputy Sheriff erschossen wurde. Natasha McKenna (37), die in Virginia bei ihrer Festnahme von einem Polizisten mehrfach mit einem 50.000-Volt-Elektrotaser beschossen, dann an Händen und Füßen gefesselt wurde und starb. Dazu existiert ein Video. Besonders tragisch ist der Tod der bereits erwähnten siebenjährigen Aiyana Stanley-Jones, die im Mai 2010 in Detroit während eines Polizeieinsatzes von dem Zivilfahnder Joseph Weekley vor laufenden Fernsehkameras erschossen wurde. Weekley versieht heute wieder seinen Dienst, und auch in allen anderen Fällen blieben die Täter straflos und arbeiten weiter als Polizisten. Das jüngste dieser ungesühnten Verbrechen, der Tod von Rekia Boyd (22), machte gerade Schlagzeilen (siehe Spalte).

Die Auseinandersetzung mit diesen und vielen ungenannten Beispielen des aggressiven Vorgehens von Polizisten zeige, so Gross, dass »schwarze Frauen und Mädchen ebenso wie schwarze Männer« vom »Racial Profiling« betroffen sind. Bei Frauen komme hinzu, dass sie sogar als Opfer von Vergewaltigungen noch riskieren, wegen »falscher Anschuldigungen« selbst eingesperrt zu werden, wie im Fall einer Elfjährigen in Washington, D. C. Oder der schwarzen Transgenderfrau CeCe McDonald (24) aus Minneapolis, die 19 Monate in einem Männerknast in Einzelhaft saß, weil sie sich 2011 gegen einen rassistischen Angriff gewehrt hatte.

Die Muster, die sich in all diesen Fällen zeigten, erforderten eine gegen Patriarchat und Frauenhass gerichtete Praxis der antirassistischen Bewegungen, um grundlegende Veränderungen zu erreichen, schrieb Gross. Die Namen schwarzer Frauen zusammen mit denen männlicher Opfer von rassistischer Polizeigewalt öffentlich zu nennen sei dazu ein erster Schritt.

* Aus: junge Welt, Montag, 4. Mai 2016


US-Polizeigewalt gegen Afroamerikanerinnen vor UN-Ausschuss

Auszüge aus einer Studie der Menschenrechtsorganisation »Black Women’s Blueprint«, vorgelegt im November 2014 vor dem UN-Ausschuss gegen Folter:

(…) Sexueller Missbrauch ist nach dem Jahresbericht des »CATO Institute« (US-Denkfabrik in Washington, D. C. – jW) von 2010 das zweithäufigste von US-Polizeibeamten verübte Verbrechen. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich höher, da nicht alle Geschädigten ihre Peiniger anzeigen und die Polizei das Delikt Vergewaltigung enger auslegt. Kriminelle Polizisten suchen sich Opfer aus, deren Glaubwürdigkeit eher in Zweifel gezogen wird, und Leidtragende durch Polizeiverbrechen zögern oft, letztere gerade bei der Institution anzuzeigen, aus deren Reihen die Täter kommen. (…) Schwarze Frauen in den USA sind einer besonderen Form von Folter durch Vergewaltigung ausgesetzt, die ihren Ursprung in der Sklaverei und den Staatsapparaten hat, die die Interessen der Wirtschaftseliten, der weißen Männer und Beamten schützen. (…)

Landesweit ist ein Anstieg polizeilicher Maßnahmen gegen schwarze Frauen zu verzeichnen. 2010 wurden in den USA über zwei Millionen Frauen verhaftet. Das bedeutet einen Anstieg der Kontakte zwischen Polizei und Frauen in den schwarzen Gemeinden, in denen es ohnehin übermäßige Polizeiaktivitäten gibt. Die »Women’s Prison Association« (WPA) gibt an, dass die Anzahl der Verhaftungen von Frauen zwischen 1977 und 2007 landesweit um über 800 Prozent angestiegen ist, während gleichzeitig die Zahl der männlichen Insassen in Gefängnissen um 416 Prozent wuchs. Laut WPA wurden 2008 pro 100.000 weißen Frauen 93 inhaftiert, während es pro 100.000 schwarzen Frauen 349 waren. Obwohl der Anteil der Schwarzen an der Gesamtbevölkerung der USA bei 13 Prozent liegt, was bedeutet, dass der Anteil der Frauen etwa 6,5 Prozent ausmacht, liegt der Anteil schwarzer Frauen an den weiblichen Gefangenen insgesamt bei 32,6 Prozent.

Ein Beispiel für Polizeigewalt gegen schwarze Frauen: Der weiße Polizist Daniel Ken Holtzclaw aus Oklahoma City wurde im August 2014 unter Anklage gestellt, acht schwarze Frauen im Alter zwischen 34 und 58 Jahren aus Anlass von Verkehrskontrollen sexuell belästigt und vergewaltigt zu haben. Holtzclaw hatte sich diese Frauen ausgesucht, weil er sie nach seinem Profiling für Drogenabhängige und Sexarbeiterinnen hielt, deren Aussagen nicht geglaubt würde. Da wenigstens eine von ihnen weder Sexarbeiterin noch Drogenabhängige war und keine der Frauen in das typische Altersprofil passte, ist davon auszugehen, dass sich Holtzclaw diese Frauen gezielt ausgesucht hatte, weil sie schwarz waren. Trotz der Erkenntnisse der Ermittler über weitere Opfer wurde Holtzclaw, dessen Kaution ursprünglich auf fünf Millionen festgesetzt worden war, gegen Zahlung von nur 500.000 US-Dollar aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Reduzierung der Kaution sowie die Versuche von Holtzclaws Familie, die Frauen als »legitime« Opfer zu diskreditieren, waren Vorboten dafür, wie der Prozess ausgeht. Hinzu kamen Holtzclaws Beliebtheit als früherer College-Footballstar und sein Bonus als Polizeibeamter. Auf der anderen Seite trugen Hautfarbe und vermutete soziale Stellung der Opfer dazu bei, die Übergriffe in Medien und sozialen Netzwerken herunterzuspielen. (...)

22 Prozent der afroamerikanischen Frauen und 50 Prozent der ethnisch gemischten Afroamerikanerinnen machen Erfahrungen mit Vergewaltigung machen, d. h. in weit höherem Maß als weiße Frauen. Das rassistische Erbe und die fortgesetzte Entwertung schwarzer Frauen als »legitimer« Vergewaltigungsopfer erschwerte es ihnen aber grundsätzlich, die Verurteilung eines weißen Polizeibeamten durchzusetzen.

Übersetzung: Jürgen Heiser




Mörder von Freddie Gray in Haft

Staatsanwältin erhebt Anklage gegen sechs Polizisten in Baltimore

Von Jürgen Heiser **


Die Proteste gegen Polizeigewalt in Baltimore, Maryland, und anderen Städten der US-Ostküste gehen weiter. Am Samstag hatten die über 3.000 Demonstranten in der Hafenstadt Baltimore jedoch zum ersten Mal Grund zum Feiern: Am 1. Mai hatte Oberstaatsanwältin Marilyn Mosby in einer Pressekonferenz erklärt, die Gerichtsmediziner seien nach erfolgter Obduktion zu dem Schluss gekommen, dass es sich beim Tod des 25jährigen Freddie Gray zweifellos um ein Tötungsdelikt handele. Sie habe deshalb gegen die bislang nur suspendierten sechs Polizeibeamten – fünf Männer und eine Frau – Haftbefehle in Vollzug gesetzt.

Die Anklagen lauteten unter anderem auf Mord mit bedingtem Vorsatz, fahrlässige Tötung, unterlassene Hilfeleistung und unrechtmäßige Inhaftierung. Die Staatsanwältin bestätigte, Gray sei nach den Ermittlungen ihrer Behörde »ohne Rechtsgrundlage angehalten worden«. Die Haftbefehle gegen die Beamten sollten deutlich machen, dass es »vor dem Gesetz keine Ungleichheit geben« dürfe, sagte Mosby. Den seit fast zwei Wochen protestierenden Bürgern Baltimores, von denen einige der Pressekonferenz beiwohnten, rief die Staatsanwältin zu: »Ich habe euren Ruf ›Keine Gerechtigkeit, kein Friede‹ gehört!«

Gray war bei einer Polizeikontrolle in seinem Wohnviertel in West-Baltimore am 12. April so schwer verletzt worden, dass er eine Woche später verstarb. Noch als der Schwerverletzte auf der Intensivstation im Koma lag, hatte der Anwalt der Familie die Polizei beschuldigt, seinem Mandanten einen mehrfachen Genickbruch »von 80 Prozent der Nackenwirbel« zugefügt zu haben. Zahlreiche Zeugen hatten die brutale Behandlung Grays bestätigt.

Wegen der von Mosby verkündeten Haftbefehle stellte sich die rechte Polizeigewerkschaft »Fraternal Order of Police« (FOP) am Wochenende schützend vor ihre Mitglieder. FOP-Präsident Gene Ryan, der Demonstranten kürzlich vor der Presse noch als »Lynchmob« beschimpft hatte, behauptete nun in einem offenen Brief, »keiner der beteiligten Beamten« sei »für den Tod Grays verantwortlich, so tragisch die Situation auch sein mag«. Der afroamerikanischen Staatsanwältin warf Ryan Voreingenommenheit vor, da sie »persönliche und berufliche« Verbindungen zum Anwalt der Familie des Opfers unterhalte. Er forderte Mosby auf, den Fall »an einen unabhängigen Ermittler abzugeben«.

** Aus: junge Welt, Montag, 4. Mai 2016


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