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Zwischen Klatsch und Kriegsplänen

Tiefe Einblicke in US-Diplomatie – Wikileaks veröffentlicht Dossiers aus Obamas Außenamt

Von René Heilig *

Die Internet-Enthüllungsplattform Wikileaks hat damit begonnen, 251 287 diplomatische Dossiers aus US-Botschaften zu veröffentlichen. Die Unterlagen stammen aus der Zeit zwischen 2003 und Februar 2010. Neben Klatsch und Tratsch ermöglichen die Dossiers Einblicke in die Sicht der einzigen Supermacht auf brisante politische Prozesse.

Das Weiße Haus verurteilte das Vorgehen von Wikileaks. Präsident Barack Obama sprach von einem rücksichtslosen und gefährlichen Handeln. Seine Regierung geht davon aus, dass die Papiere aus dem Computersystem des Außenministeriums stammen. Das Außenamt hatte versucht, das Schlimmste zu verhüten. Ministerin Hillary Clinton informierte unter anderem Frankreich, Großbritannien, Israel, Saudi-Arabien, Afghanistan, die Vereinigten Arabischen Emirate und auch Deutschland über brisante Teile der Veröffentlichungen.

Die Website von Wikileaks wurde nach eigenen Angaben vor der Veröffentlichung durch eine Daten-Attacke lahmgelegt. Doch es bleiben lange Schatten auf der US-Diplomatie. Unter anderem durch die Enthüllung einer Direktive der Außenministerin, in der im Juli 2009 über 30 US-Botschaften und Konsulate angewiesen wurden, diplomatische Vertreter anderer Länder auszuspionieren. Geliefert werden sollten Informationen über Kommunikationssysteme ranghoher UN-Vertreter, darunter Passwörter für Verschlüsselungen. Auch Fakten zu UN-Generalsekretär Ban Ki Moon waren erwünscht.

Andere nun zugängliche US-Dokumente betreffen den Mittleren Osten. So hätten Israel als auch arabische Verbündete – darunter König Abdullah von Saudi-Arabien – die USA zu einem Militärschlag gegen Iran gedrängt. Teheran erhielt laut einer US-Depesche aus dem Jahr 2007 von der Atommacht Nordkorea Raketen, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden können. Die Lieferung sei über China erfolgt. Israels Verteidigungsminister Ehud Barak habe im Juni 2009 geäußert, es gebe ein »Zeitfenster von sechs bis 18 Monaten«, in dem ein militärisches Eingreifen zur Zerstörung der Nuklearanlagen günstig sei, enthüllte der britische »Guardian«, der wie der »Spiegel« und andere Medien das Material vorab bekam.

Darin wird Russlands Premier Wladimir Putin angeblich als »Alpha-Rüde« charakterisiert, Präsident Dimitri Medwedjew als »blass« und »zögerlich«. Afghanistans Präsident Hamid Karsai werde von »Paranoia« getrieben, es gibt pikante Geschichten über Libyens Machthaber Muammar al-Gaddafi.

90 Prozent der Dokumente sollen aus der Zeit seit 2005 stammen. Sechs Prozent seien als »geheim« eingestuft, 40 Prozent als »vertraulich«. Das meiste Material stamme aus der Botschaft in Ankara, gefolgt von der US-Vertretung in Bagdad. 1719 Berichte schickte die US-Botschaft in Berlin.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel wird von Washington eher nüchtern beurteilt. In einem Memo an US-Präsident Obama vor seinem Treffen mit Merkel im April 2009 in Baden-Baden beschreibt der damalige Geschäftsträger der US-Botschaft, John Koenig, die Kanzlerin als »methodisch, rational und pragmatisch«. Weil vieles an ihr abgleite, werde die Regierungschefin intern in den US-Berichten »Angela ›Teflon‹ Merkel« genannt. Die Fähigkeiten ihres Vize, Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP), werden schlecht bewertet.

In Berlin bemühte man sich gestern um Schadensbegrenzung. »Wir bedauern die Veröffentlichung«, sagte Merkels Regierungssprecher Steffen Seibert. Der US-Botschafter in Berlin, Philip Murphy, rechtfertigte die Einschätzungen seiner Kollegen als normale diplomatische Arbeit. Seine Leute hätten »nichts falsch gemacht«.

* Aus: Neues Deutschland, 30. November 2010


Geheimdienst des Volkes

Von Olaf Standke **

Wo genau Julian Assange die Reaktionen auf die jüngsten Enthüllungen seines Internetportals verfolgt, weiß man nicht. Denn der Mitbegründer und Medienkopf von Wikileaks ist untergetaucht. Ein schwedisches Berufungsgericht hat in der Vorwoche den Haftbefehl wegen Vergewaltigung gegen ihn bestätigt. Auch wenn die Staatsanwaltschaft die Anklagepunkte abschwächte, der 39-Jährige hat die im August dieses Jahres laut gewordenen Vorwürfe stets vollständig bestritten und von einer Schmutzkampagne gegen ihn und Wikileaks gesprochen.

Nach der Veröffentlichung vertraulicher Berichte des Washingtoner Außenministeriums könnten nun weitere strafrechtliche Schritte hinzukommen. Während in den USA noch darüber debattiert wird, wie weit das gern beschworene Gut der Meinungs- und Informationsfreiheit in diesem Fall schützenswert sei, denkt man in Canberra schon konkret an ein Ermittlungsverfahren gegen den australischen Staatsbürger Assange. »Wir glauben, dass es eine Reihe von Gesetzesverstößen gegeben haben könnte«, sagte Generalstaatsanwalt Robert McClelland am Montag. »Die australische Bundespolizei hat das im Blick.« Schon im Juli setzte die Regierung eine Arbeitsgruppe ein, um die Folgen von Wikileaks-Enthüllungen zu prüfen.

Vor vier Jahren gegründet, sorgte die Enthüllungsplattform vor allem in diesem Jahr mit Veröffentlichungen geheimer US-amerikanischer Dokumente zu den Kriegen in Irak und in Afghanistan für weltweite Schlagzeilen. Die Plattform, die sich selbst als »ersten Geheimdienst des Volkes« sieht, will Missstände öffentlich machen und Regierungen zu mehr Transparenz zwingen. Mit ihrem Namen lehnt sich die Website bewusst an das offene Online-Nachschlagewerk Wikipedia an, bei dem Nutzer selbst Artikel beisteuern oder korrigieren können. Das englische »Leak« bedeutet auf Deutsch Leck und bezeichnet undichte Stellen bei Behörden, über die geheime Informationen an die Öffentlichkeit gelangen.

Als Quelle für die rund 250 000 Dokumente des State Department, die jetzt im Internet zugänglich gemacht wurden, gilt der Obergefreite Bradley Manning, der als Sicherheitsspezialist der US-Streitkräfte in Irak Zugang zum Secret Internet Protocol Router Networks hatte und die Daten auf einer selbst gebrannten CD mit dem schönen Titel »Musik von Lady Gaga« mit nach Hause nahm.

Weil das normale Internet für den Transport geheimer Regierungsdokumente viel zu unsicher erschien, ordnete das Pentagon 1991 den Aufbau von SIPRNet an. In diesem geheimen Netzwerk sollten Papiere des Außen- und des Verteidigungsministeriums bis zur zweithöchsten Geheimhaltungsstufe sicher übermittelt werden. »Schwache Server, unzureichende Aufzeichnungen (der Aktivitäten im Netz), schwacher Zugriffsschutz, schwache Spionageabwehr, nachlässige Signalanalyse... ein komplettes Desaster«, lautet dagegen das vernichtende Urteil Mannings.

Er soll schon jenes Bordkamera-Video nach draußen geschmuggelt haben, auf dem zu sehen ist, wie im Jahr 2007 in Irak elf Zivilisten – darunter zwei Mitarbeiter der Nachchtenagentur Reuters – aus einem US-Kampfhubschrauber heraus kaltblütig erschossen wurden. Der 23-Jährige ist im Mai festgenommen und am 5. Juli 2010 nach US-amerikanischem Militärrecht wegen Geheimnisverrats angeklagt worden. Sollte er schuldig gesprochen werden, drohen ihm bis zu 52 Jahre Haft.

** Aus: Neues Deutschland, 30. November 2010


Leckschäden

Von Olaf Standke ***

Es gab gestern auch Leute, die sich um den Ruf der USA als führende Internet-Nation sorgten. Man dachte eigentlich, nach dem Lochkarten-Wahldesaster von Florida sei da der Lack ohnehin ab. Nun aber soll das von Wikileaks öffentlich gemachte Datenleck in Washingtons geheimem Regierungsnetzwerk auch noch das Ende der Diplomatie eingeläutet haben. Dabei war in den Tagen vor der angekündigten Enthüllung von geheimen Dokumenten des State Department so viel diplomatischer Dialog wie selten, um den Schaden zu begrenzen. Herr Wulff: Stoppen Sie den Atomdeal!

Doch der außenpolitische Scherbenhaufen für Präsident Obama wird immer größer. Das Debakel am Hindukusch, sein gebrochenes Guantanamo-Versprechen, fruchtlose Nahost-Gespräche, hilflos in der Korea-Krise, der Abrüstungsvertrag mit Moskau in Gefahr – und jetzt kann auch noch jeder in 250 000 vertraulichen Depeschen lesen, wie die Hybris der vermeintlichen Supermacht peinlich-undiplomatische Worte und Werturteile findet, die man nun schwerlich als antiamerikanische Stimmungsmache abtun kann. Und auch Verbündete werden gnadenlos aufs Kreuz gelegt, wenn es den eigenen Interessen dient. Führende Republikaner forderten Strafverfahren gegen die Wikileaks-Betreiber, hätten sie doch »Blut an ihren Händen«. Das passt irgendwie zur Tonlage der Geheimdokumente und verzerrt die Realität ins Groteske – für Tausende Kriegstote haben jene gesorgt, die nun »Haltet den Dieb« rufen.

*** Aus: Neues Deutschland, 30. November 2010 (Kommentar)


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