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Menschenrecht auf Leben

Immer mehr US-Bundesstaaten setzen Hinrichtungen aus. Neue Kampagne zur Überwindung der Todesstrafe soll Druck auf Politik und Justiz entfalten

Von Jürgen Heiser *

Am morgigen Gedenktag zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde, ist die Todesstrafe ein zentrales Thema vieler Veranstaltungen. Während eine Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten sie abgeschafft hat, ist sie in den USA immer noch Gesetz – in 34 US-Bundesstaaten. Aber nur noch zwölf praktizieren sie tatsächlich, allen voran Texas, Virginia und Oklahoma. Zuletzt verhängte der US-Westküstenstaat Oregon Ende November ein Moratorium. Gouverneur John A. Kitzhaber (Demokraten) erklärte vor der Presse, er werde alle Hinrichtungen stoppen, da sie »moralisch verwerflich« seien. Er wolle »nicht länger Teil eines kompromittierten und ungerechten Systems« sein. Kitzhaber setzte die letzte der für 2011 in den USA geplanten Exekutionen aus.

Damit ist mit den diesjährigen 43 staatlichen Tötungen die Tendenz weiter rückläufig, und es sind nur noch halb so viele wie 1999, als mit 98 Hinrichtungen die höchste Jahresrate seit Wiedereinführung der Todesstrafe 1976 (siehe Spalte) erreicht war. Gegenüber AFP erklärte Richard Dieter, Leiter des Death Penalty Information Center (DPIC) in Washington D. C., zu dieser Entwicklung: »Langsam, Bundesstaat für Bundesstaat, gibt es eine Erosion der Todesstrafe.«

Herausragend war in diesem Prozeß das Zeichen, das der scheidende Gouverneur George R. Ryan im Januar 2003 im Bundesstaat Illinois gesetzt hatte: Er begnadigte alle 167 Insassen des einzigen Todestrakts von Chicago (darunter vier Frauen) und erklärte in seiner letzten öffentlichen Rede, die Todesstrafe stehe »im Zentrum der großen Bürgerrechtskämpfe unserer Zeit«. Mit seinem Moratorium hatte Ryan eingeleitet, was der Senat des Bundesstaats dann im Januar 2011 in Gesetzesform goß. Seit dem 9. März 2011 ist die Todesstrafe dort endgültig abgeschafft.

Mit Oregon sind es nun 16 US-Bundesstaaten, in denen die Todesstrafe entweder nach 1976 nicht wieder in Kraft gesetzt oder sie später per Gesetz abgeschafft bzw. durch ein Moratorium ausgesetzt wurde. In Maryland, Connecticut und Kalifornien laufen Bestrebungen, es diesen Bundesstaaten gleichzutun.

Trotz dieser Entwicklung sitzen die unentwegten Befürworter des »Capital punishment« entweder in der US-Regierung, wie der ehemalige Hoffnungsträger Barack Obama, oder sie meinen, sich gerade durch das fanatische Festhalten an diesem Relikt der Inquisition in höchste Ämter bringen zu können. So Rick Perry, Gouverneur von Texas, der in den Casting Shows seiner Republikanischen Partei für den nächsten Präsidentschaftskandidaten damit prahlt, gnadenlos alle Hinrichtungsbefehle zu unterzeichnen, die ihm vorgelegt werden.

Auch die Richterschaft hält an der Todesstrafe fest. Sie füllt die Todes­trakte, in denen gegenwärtig rund 3300 Menschen sitzen, weiter. Und nach wie vor sind Hautfarbe und Armut die Hauptkriterien bei der Frage, wer dort landet. Insgesamt werden im gefängnisindustriellen Komplex über zwei Millionen Häftlinge »verwahrt«. Thomas Ruffin, afroamerikanischer Anwalt des im September gegen starke Proteste im In- und Ausland hingerichteten Troy Davis, plädiert deshalb dafür, die gesellschaftliche Bedingtheit von Haft- und Todesstrafenvollzug zum Punkt einer politischen Kampagne zu machen, die nicht irgendwann, sondern jetzt auf eine Lösung drängt.

Funktionäre des etablierten Teils der Kampagne zur Abschaffung der Todesstrafe wie Richard Dieter vom DPIC dagegen wollen warten, daß die »Erosion« von allein fortschreitet. »Die Praxis der Todesstrafe wird nicht in drei Jahren beendet sein, in zehn Jahren ist es vielleicht möglich«, meint Dieter und verweist darauf, dies sei letztendlich Sache des Obersten Gerichtshofs.

Doch der andere Teil der Mitstreiter der Kampagne, die selbst den Kampf gegen die Todesstrafe beharrlich auf die Straße tragen oder wie jW-Kolumnist Mumia Abu-Jamal aus dem Innern der Todestrakte darüber aufklären, will nicht auf die Gnade von Justiz und Regierung warten. Für sie setzt ein Sieg über die Todesstrafe das Erzeugen von gesellschaftlicher Bewegung voraus, wie es der Aufbruch der »Occupy Wall Street«-Kampagne zeigt. Nur so könne man am Ende auch Justiz und Gesetzgeber wie 1972 zu Veränderungen zwingen.

Deswegen gingen im September weltweit so viele auf die Straße, die sagten »Ich bin Troy Davis«. Die US-Bürgerrechtlerin Angela Davis verdeutlichte ihre Hoffnung, daß gerade die Ungeheuerlichkeit der Hinrichtung eines Menschen, für den noch die Unschuldsvermutung galt, den »Grundstein für eine sehr große Bewegung gegen die Todesstrafe« gelegt hat und die Gegner »jetzt in einer besseren Position« seien. Auch Martina Correia, Anfang Dezember an Krebs verstorbene Schwester von Troy Davis und mutige Gegnerin der Todesstrafe, hatte gemahnt, auf die eigenen Kräfte zu vertrauen: »Wir selbst müssen der Katalysator der Veränderung sein, die wir erreichen wollen.«

* Aus: junge Welt, 9. Dezember 2011


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