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Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika (1835)

Textauszüge aus einer heute noch lesenswerten Analyse des Regierungs- und Gesellschaftssystems der Vereinigten Staaten

Unter dem Titel "Das Vaterland allerorten - Über die Demokratie in Amerika und das, was sie an Gutem und Schlechtem hervorbringt" veröffentlichte die Frankfurter Rundschau am 20. Januar 2005 auf ihrer Dokumentationsseite Auszüge aus einem Bericht des bekannten Staatstheoretikers und - wenn man so will - Soziologen Alexis de Tocqueville (1805-1859). Anlass für die Veröffentlichung war der FR die Inaugurationsfeier, die am selben Tag in Washington stattfand und die zweite Amtszeit von George W. Bush einläutete. 1832 bereiste Tocqueville im Auftrag der französischen Regierung die Vereinigten Staaten und veröffentlichte 1835 den ersten Band von "Über die Demokratie in Amerika", der bereits ein Jahr später ins Deutsche übersetzt wurde. Der zweite Band folgte dann 1840. Im Begleittext der FR hieß es dazu: "Das Werk gilt als eine der herausragendsten Analysen des US-amerikanischen Regierungs- und Gesellschaftssystems. Das Amerika-Bild in Europa ist davon maßgeblich beeinflusst worden. Vor allem die soziologischen Methoden Tocquevilles, die eine genaue empirische Beobachtung umfassten, setzten Standards für die Wissenschaft." Eine kritische Würdigung des Tocqueville-Textes können Sie hier lesen: "Demokratie in Amerika: Eine frühzeitige Warnung".

Den gesamten Text gibt es in einer Taschenbuchausgabe bei Reclams:
Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika. Stuttgart: Reclam, 2003. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8077 (9 Euro)



Ich habe Amerika nicht nur betrachtet, um eine - übrigens durchaus legitime- Neugierde zu befriedigen; ich wollte dort Belehrung schöpfen, die wir nutzen können. Wer annimmt, ich wollte ein Loblied auf Amerika anstimmen, täuscht sich sehr; wer dieses Buch liest, wird sich überzeugen, daß ich das durchaus nicht beabsichtigte; ebensowenig hatte ich vor, die Regierungsform der Amerikaner im allgemeinen anzupreisen; denn ich gehöre zu denen, die glauben, daß es in den Gesetzen kaum jemals etwas absolut Gutes gibt; ich habe nicht einmal daran gedacht, zu entscheiden, ob die soziale Revolution, die ich für unwiderstehlich halte, für die Menschheit vorteilhaft oder verderblich ist; ich habe diese Revolution als eine vollzogene oder doch sich vollziehende Tatsache genommen und habe mir unter den Völkern, die sie bei sich erlebt haben, dasjenige ausgesucht, bei dem sie die Entwicklung am vollständigsten und am friedlichsten durchgemacht hat, um hier klar ihre natürlichen Folgen zu untersuchen und womöglich die Mittel zu finden, wie man sie für die Menschen fruchtbar machen kann.

Ich gestehe, daß ich in Amerika mehr gesehen habe als Amerika; ich habe dort ein Bild der reinen Demokratie gesucht, ein Bild ihrer Neigungen, Besonderheiten, ihrer Vorurteile und Leidenschaften; ich wollte sie kennenlernen, und sei es nur, um wenigstens zu erfahren, was wir von ihr zu erhoffen oder zu befürchten haben.

Im ersten Teil dieses Werkes habe ich versucht, die Richtung aufzuzeigen, die in Amerika die ihren Neigungen überlassene, ja fast hemmungslos ihren Instinkten preisgegebene Demokratie den Gesetzen auf natürliche Weise gab, den Gang, den sie der Regierung aufzwang, und ganz allgemein die Macht, die sie auf das Leben der Gesellschaft ausübt. Ich wollte wissen, was sie an Gutem und Schlechtem hervorbringt. Ich habe untersucht, welcher Vorkehrungen sich die Amerikaner zu ihrer Lenkung bedienen, welche anderen sie versäumt haben, und mich bemüht, die Ursachen herauszufinden, die es der Demokratie gestatten, die amerikanische Gesellschaft zu regieren.(. . .)

Nicht, daß es in den Vereinigten Staaten nicht so gut wie anderswo Reiche gibt; ja, ich kenne kein Land, in dem die Liebe zum Geld einen so großen Platz im Herzen der Menschen einnimmt, in dem man eine solche Verachtung für die Theorie von der dauernden Vermögensgleichheit bekundet. Aber das Vermögen läuft dort mit unglaublicher Geschwindigkeit um, und die Erfahrung lehrt, daß man kaum zwei Generationen findet, die sich des gleichen Vermögens erfreuen. Man mag dieses Bild für recht farbenprächtig halten, aber es gibt immer noch keine vollständige Vorstellung von dem, was im Westen und Südwesten der Vereinigten Staaten vor sich geht.

Ende des letzten Jahrhunderts begannen kühne Abenteurer, in die Täler des Mississippi einzudringen. Es war wie eine neue Entdeckung Amerikas: alsbald zog der Hauptteil der Auswanderer dorthin; neue Gemeinschaften schossen aus der Wüste empor. Staaten, deren Namen es ein paar Jahre zuvor noch gar nicht gab, nahmen in der amerikanischen Union Platz. Im Westen kann man die Demokratie auf ihrer höchsten Stufe beobachten. In diesen gleichsam vom Zufall geborenen Staaten sind die Bewohner erst gestern auf dem Boden angekommen, den sie heute besitzen. Kaum kennt der eine den anderen, keiner kümmert sich um die Vorgeschichte seines Nachbarn. In diesem Teil Nordamerikas entgeht daher die Bevölkerung nicht allein dem Einfluß großer Namen und großen Reichtums, sondern auch der natürlichen Aristokratie der Bildung und der Tugend. Niemand verschafft sich hier die Ehrfurcht, die wir der Erinnerung an ein Leben zollen, das vor aller Augen der Rechtschaffenheit gewidmet war. Einwohner haben die neuen Staaten des Westens bereits: eine Gesellschaftsordnung haben sie noch nicht.

Aber nicht nur die Vermögenschancen sind in Amerika gleich; die Gleichheit erstreckt sich bis zu einem gewissen Grad sogar auf die Bildung.

Ich glaube, es gibt kein Land der Erde, in dem es - verglichen mit der Zahl der Bevölkerung - so wenig völlig Unwissende und zugleich so wenig Gelehrte gibt, wie in Amerika. Der Elementarunterricht steht jedermann offen; höhere Bildung fast niemandem.Das ist leicht verständlich und nur die notwendige Folge dessen, was wir oben gesehen haben.

Fast alle Amerikaner haben einen gewissen Wohlstand; daher können sie sich die Anfangsgründe menschlichen Wissens leicht aneignen.

In Amerika gibt es wenig Reiche; fast alle Amerikaner müssen einen Beruf ausüben. Nun erfordert jeder Beruf eine Lehrzeit. Daher können die Amerikaner der Allgemeinbildung nur die ersten Jahre des Lebens widmen: mit fünfzehn Jahren gehen sie in einen Beruf; also ist ihre Erziehung meist da zu Ende, wo die unsere anfängt. Wird sie weiter fortgesetzt, so richtet sie sich auf einen speziellen und einträglichen Gegenstand; man studiert eine Wissenschaft, wie man ein Handwerk erlernt; und man lernt nur das, worin man einen unmittelbaren Nutzen sieht.

In Amerika sind die meisten Reichen zunächst arm gewesen; fast alle Müßiggänger hatten in ihrer Jugend zu arbeiten; so kommt es, daß man keine Zeit zum Studieren hat, wenn man es möchte; und hat man später die Zeit, dann ist die Lust vergangen.

Daher gibt es in Amerika keine Klasse, in der die Neigung zu geistigen Freuden sich mit Wohlstand und Muße vererbt, keine Klasse, die die geistige Arbeit in Ehren hält. Daher fehlt es am Willen zu geistiger Arbeit ebenso wie an der Fähigkeit dazu.

Es hat sich in Amerika ein gewisses mittleres Bildungsniveau entwickelt. Alle Geister haben sich ihm angeglichen; die einen nach oben, die andern nach unten.

So trifft man eine Menge Menschen, die etwa die gleichen Kenntnisse haben über Religion, Geschichte, Naturwissenschaften, Nationalökonomie, über Recht und Verwaltung.

Die geistige Ungleichheit kommt unmittelbar von Gott, und der Mensch wird nicht verhindern können, daß sie sich immer wieder einstellt. Aber immerhin wird durch das, was wir gesehen haben, erreicht, daß die geistigen Fähigkeiten, wenn auch ungleich, wie es der Schöpfer gewollt, gleiche Chancen vorfinden.

So ist heute das in Amerika schon immer schwache aristokratische Element, wenn nicht zerstört, so doch derart geschwächt, daß man ihm schwerlich einen Einfluß auf die Entwicklung der Dinge wird zuschreiben können.

Die Zeit, die Ereignisse und die Gesetze haben im Gegenteil das demokratische Element nicht nur zum überwiegenden, sondern sozusagen zum ausschließlichen Element gemacht. Kein Familien-, kein Standeseinfluß läßt sich irgend wahrnehmen; ja, oft ist nicht einmal ein einigermaßen dauerhafter Einfluß Einzelner zu entdecken.

Die Gesellschaftsordnung Amerikas ist daher ein höchst merkwürdiges Phänomen. Die Menschen haben dort die Gleichheit des Vermögens und die Gleichheit der Geistesbildung, oder - um es anders auszudrücken - die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen in viel stärkerem Maße verwirklicht als in irgendeinem Land der Erde, in stärkerem Maße als in irgendeinem Jahrhundert, an das die Geschichte die Erinnerung bewahrt.(. . .)

Was ich in Amerika am meisten bewundere, sind nicht die aus der Verwaltung entstehenden Wirkungen der Dezentralisation, es sind vielmehr ihre politischen Wirkungen. In den Vereinigten Staaten spürt man allerorten das Vaterland. Es ist vom Dorf bis zur ganzen Union ein Gegenstand liebevoller Sorge. Dem Einwohner gilt jedes Anliegen des Landes so viel wie sein eigenes. Der Ruhm der Nation ist der seine; in ihren Erfolgen glaubt er sein eigenes Werk zu erkennen, und er ist stolz darauf; und er freut sich über das allgemeine Wohlergehen, das ihm zugute kommt. Er hegt für sein Vaterland ein gleiches Gefühl wie für seine Familie, und auch um den Staat kümmert er sich aus einer Art von Eigenliebe.

Der Europäer sieht im öffentlichen Beamten häufig nur die Macht; der Amerikaner erblickt in ihm das Recht. So kann man sagen, daß in Amerika der Mensch nie dem Menschen, sondern der Gerechtigkeit oder dem Gesetz gehorcht.

Auch hat er von sich selbst eine oft übertriebene, immer aber heilsame Meinung. Furchtlos vertraut er seinen eigenen Kräften, die ihm allem gewachsen zu sein scheinen. Ein Privatmann faßt den Plan irgendeines Unternehmens; selbst wenn dieses Unternehmen in unmittelbarer Beziehung zur Wohlfahrt der Gesellschaft stünde, fiele ihm nie ein, sich an die öffentliche Hand zu wenden, um von dort Hilfe zu erlangen. Er gibt seinen Plan bekannt, bietet sich zur Ausführung an, holt sich andere Privatleute als Helfer und kämpft hartnäckig gegen alle Hindernisse. Oft gelingt es ihm allerdings nicht so gut, wie wenn der Staat es an seiner Stelle täte. Auf die Dauer aber übertrifft das Ergebnis all dieser individuellen Unternehmungen bei weitem das, was der Staat auszurichten vermöchte.(. . .)

Amerika ist das Land, in dem man die Möglichkeit der Menschen, sich zusammenzuschließen, am meisten ausgenutzt und dieses mächtige Mittel auf den verschiedensten Gebieten angewendet hat.

Abgesehen von den dauernden Zusammenschlüssen, die das Gesetz in Form von Gemeinden, Städten und Grafschaften bewirkt hat, gibt es eine Menge anderer, die ihre Entstehung und Entwicklung der privaten Initiative verdanken.

Der Bürger der Vereinigten Staaten lernt von klein auf, daß er sich im Kampf gegen die mancherlei Schwierigkeiten des Lebens auf sich selbst verlassen muß; er hat für die Obrigkeit nur einen mißtrauischen und unruhigen Blick und ruft ihre Macht nur zu Hilfe, wenn er es gar nicht vermeiden kann. Das kann man schon in der Schule beobachten, wo die Kinder sich bis in ihre Spiele hinein Regeln unterwerfen, die sie selbst aufgestellt haben, und einander für selbstgeschaffene Vergehen bestrafen.

Den gleichen Geist finden wir in allen Vorgängen des sozialen Lebens wieder. Auf der Landstraße entsteht ein Hindernis, die Durchfahrt ist gesperrt, der Verkehr steht still; alsbald finden sich die Nachbarn zur Beratung zusammen; aus dieser improvisierten Versammlung geht eine vollziehende Gewalt hervor, die das Hindernis beseitigt, ehe noch irgend jemand auf den Gedanken gekommen ist, eine Autorität zu Hilfe zu rufen, die schon vor derjenigen bestand, die die Betroffenen soeben gebildet haben. Handelt es sich um Vergnügungen, so schließt man sich zusammen, um einem Fest größeren Glanz und größere Ordnung zu geben. Schließlich vereinigt man sich im Widerstand gegen lediglich geistige Feinde: man bekämpft gemeinsam die Trunksucht. In den Vereinigten Staaten schließt man sich zu Zwecken der öffentlichen Sicherheit, des Handels und der Industrie, der Moral und der Religion zusammen. Es gibt nichts, was der menschliche Wille nicht durch die freie Tätigkeit der vereinigten Macht Einzelner zu erreichen hoffte.(. . .)

Ich kenne kein Land, in dem im allgemeinen weniger geistige Unabhängigkeit und wirkliche Diskussionsfreiheit herrscht als in Amerika.

Es gibt keine religiöse oder politische Theorie, die man in den konstitutionellen Staaten Europas nicht frei verkünden könnte und die nicht auch die anderen Staaten erreichte; denn kein Land Europas ist derart einer einzigen Gewalt unterworfen, daß, wer die Wahrheit sagen will, nicht eine Hilfe findet, die ihn gegen die Folgen seiner Unabhängigkeit zu schützen imstande ist. Hat er das Unglück, unter einer absoluten Regierung zu leben, so ist oft das Volk auf seiner Seite; lebt er in einem freien Land, so kann er notfalls bei der königlichen Autorität eine Zuflucht finden. In den demokratischen Ländern schützen ihn die Aristokraten, in den anderen die Demokraten. Aber in einer Demokratie, die wie die amerikanische aufgebaut ist, stößt man auf eine einzige Gewalt, ein einziges Element der Macht und des Erfolges, außerhalb dessen sich nichts behauptet.

In Amerika zieht die Mehrheit einen drohenden Kreis um das Denken. Innerhalb dieser Grenzen ist der Schriftsteller frei; aber wehe, wenn er sie zu überschreiten wagt! Er hat zwar kein Autodafe (Bücher- oder Ketzerverbrennung) zu fürchten, aber er ist allen erdenklichen Unannehmlichkeiten und täglichen Nachstellungen ausgesetzt. Die politische Laufbahn ist ihm verschlossen; er hat die einzige Gewalt, die sie ihm eröffnen könnte, beleidigt. Man versagt ihm alles, selbst den Ruhm. Ehe er seine Ansichten veröffentlichte, glaubte er, Anhänger zu haben; nun er sich allen entdeckt hat, besitzt er, so scheint es ihm, keinen mehr; denn wer ihn ablehnt, bringt das öffentlich zum Ausdruck, und wer denkt wie er, ohne so mutig zu sein, schweigt und entfernt sich. Er gibt nach, erliegt schließlich dem täglichen Ansturm und zieht sich ins Schweigen zurück, als hätte er ein schlechtes Gewissen, die Wahrheit gesagt zu haben.(. . . )

Man sollte sich daher nicht in dem Glauben wiegen, der Aufschwung der englischen Rasse in der Neuen Welt könne gebremst werden. Die Zerschlagung der Union - durch die Aussaat eines Krieges -, die Abschaffung der Republik - durch die Errichtung einer Tyrannis -, sie können die Entwicklung verzögern, nicht aber die Engländer daran hindern, ihre geschichtliche Bestimmung zu vollenden. Keine Macht der Erde kann diese fruchtbaren Wüsten, für den Fleiß weithin offen, eine Zuflucht aller Bedürftigkeit, vor den Einwanderern verschließen.

Was immer künftig geschehen mag, es wird den Amerikanern weder ihr Klima, noch ihre Binnenmeere, ihre großen Flüsse nicht und nicht die Fruchtbarkeit ihres Bodens nehmen. Schlechte Gesetze, Revolutionen und Anarchie werden unter ihnen die Freude am Wohlstand nicht zerstören können und nicht den Unternehmungsgeist, der dieses Volk zu kennzeichnen scheint, noch werden sie seine geistige Klarheit endgültig trüben können.

So gibt es denn, bei aller Ungewißheit dessen, was die Zukunft bringen wird, wenigstens etwas, das sicher ist. Es kommt die Zeit - und hier, wo es sich um das Leben der Völker handelt, dürfen wir sagen, sie ist nicht fern -, da werden die Angloamerikaner den gesamten ungeheuren Raum zwischen dem Polareis und den Tropen allein einnehmen; sie werden wohnen vom Gestade des Atlantik bis zur Küste des Stillen Ozeans.

Ich denke, die Angloamerikaner werden eines Tages ein Gebiet innehaben, das etwa so groß ist wie drei Viertel von ganz Europa. Das Klima der Union ist im großen und ganzen dem europäischen vorzuziehen; die natürlichen Vorzüge sind ebenfalls groß; es ist offenkundig, daß die Bevölkerungszahl Nordamerikas eines Tages der unseren entsprechen wird. Europa, unter so viele verschiedene Völker aufgeteilt, selbst Europa hat es schließlich, durch dauernde Kriege und die Barbarei des Mittelalters hindurch, auf vierhundertzehn Einwohner pro Quadratmeile gebracht. Was auf der Welt könnte die Vereinigten Staaten hindern, eines Tages ebensoviel Einwohner zu haben?

Viele Jahrhunderte werden dahingehen, ehe die Nachkömmlinge der englischen Amerikaner ihren gemeinsamen Charakter verlieren. Die Zeit, da der Mensch die dauernde Ungleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen in der Neuen Welt einrichten wird, läßt sich nicht voraussagen.

Welche Verschiedenheiten auch Krieg oder Frieden, Freiheit oder Tyrannei, Wohlstand oder Elend eines Tages im Los der Nachkömmlinge der großen angloamerikanischen Familie bewirken mögen, sie werden sich doch wenigstens eine ähnliche Gesellschaftsordnung bewahren, sie werden die Sitten gemeinsam haben und die Vorstellungen, die der Gesellschaftsordnung entspringen.

Das Band der Religion vermochte es im Mittelalter allein, die verschiedenen Völker, die Europa bewohnten, in eine Kultur zusammenzufassen. Die Engländer der Neuen Welt haben untereinander tausend andere Bande, und sie leben in einem Jahrhundert, da jeder sich den anderen Menschen anzugleichen strebt.

Das Mittelalter war eine Epoche, da alles auseinanderbrach. Jedes Volk, jede Provinz, jede Stadt, jede Familie wollte sich absondern. Heute läßt sich das Gegenteil wahrnehmen, die Völker scheinen auf die Einheit hinzusteuern. Geistige Bande vereinigen die entferntesten Teile der Erde, und nicht einen Tag möchten sie einander fremd bleiben oder nicht wissen, was in irgendeinem Winkel der Welt vorgeht: Daher unterscheiden sich heute die Europäer von ihren Nachkommen in der Neuen Welt - obgleich der Ozean sie trennt - weniger stark, als gewisse Städte sich im 13. Jahrhundert voneinander unterschieden, die nur ein Bach trennte.

Wenn diese Tendenz der Angleichung fremde Völker einander näherbringt, um wieviel eher wird sie es verhindern, daß die Nachfahren ein und desselben Volkes einander fremd werden!

Es wird also eine Zeit kommen, da werden in Nordamerika einhundertfünfzig Millionen gleicher Menschen leben, der gleichen Familie angehörig, gleicher Herkunft, gleicher Kultur, gleicher Sprache, gleicher Religion, gleicher Gewohnheiten und gleicher Sitten; sie werden gleichförmig denken, und ihr Denken wird sich in den gleichen Farben malen. Alles übrige ist zweifelhaft, dies ist sicher. Freilich eine vollständig neue Tatsache, deren Tragweite sich der Einbildungskraft noch verschließt.

Aus: Frankfurter Rundschau, 20. Januar 2005 (Dokumentationsseite)


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