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Großflächiges Feindbild

Hintergrund. Vor zehn Jahren proklamierte George W. Bush einen Krieg ohne Grenzen, der von seinem Nachfolger Barack Obama fortgesetzt wird

Von Knut Mellenthin *

Vor zehn Jahren wurde der Welt erstmals ein inzwischen schon wieder aus der Mode gekommener Begriff präsentiert: die »Axis of Evil«, die Achse des Bösen. Präsident George W. Bush hatte die drei Worte in die State of the Union Adress, Rede zur Lage der Nation, eingebaut, die er am 29. Januar 2002 den zu einer gemeinsamen Sitzung versammelten beiden Häusern des Kongresses und zahlreichen Ehrengästen vortrug. Gemeint waren mit der »Achse« namentlich, in dieser Reihenfolge der Aufzählung, Nordkorea, Iran und Irak. Während die Ansprache zu den ersten beiden Ländern nur jeweils einen Satz enthielt, widmete Bush dem Irak fünf Sätze. Was er jedoch verschwieg: Zu diesem Zeitpunkt war der Krieg zur Erzwingung eines »Regimewechsels« in Bagdad schon beschlossene Sache. Die Detailplanungen und Vorbereitungen waren im November 2001 angelaufen.

Einige Highlights aus der damaligen Präsidentenrede sind zu Unrecht in Vergessenheit geraten. So etwa, schon im dritten Absatz, der mit starkem Beifall belohnte Spruch: »Terroristen, die einst Afghanistan besetzt hielten, besetzen jetzt Zellen in Guantánamo Bay.« Erinnerns- und bedenkenswert ist auch der Satz, mit dem Bush seinen Vortrag begann: »Während wir uns heute abend versammeln, befindet sich unsere Nation im Krieg, unsere Wirtschaft ist in einer Rezession, und die zivilisierte Welt steht noch nie dagewesenen Gefahren gegenüber. Aber die Lage unserer Union war niemals stärker.« Vermutlich ergab sich das eine aus dem anderen.

Barack Obama hätte es sich einfach machen können und diese Konstruktion wörtlich in seine Rede zur Lage der Nation einbauen können, die er am Dienstag dem Kongreß vortrug. Sachlich wäre die damalige Beschreibung durch seinen Vorgänger auch heute nach zehn Jahren noch aktuell. Aber das Wort »Krieg« kam in der Ansprache des Friedensnobelpreisträgers nur als etwas der Vergangenheit Angehörendes vor: Der »beendete« Krieg im Irak. Der Krieg in Afghanistan, mit dessen »Herunterfahren« er begonnen habe. Gelder, die nun für das Abtragen der Staatsschuld und gesellschaftliche Aufgaben frei geworden seien, da sie nicht mehr länger für den Krieg ausgegeben werden müßten.

Zwar sagte Obama am Dienstag abend auch: »Es soll kein Zweifel aufkommen: Amerika ist entschlossen, Iran daran zu hindern, an Atomwaffen zu kommen. Ich werde zur Erreichung dieses Ziels keine Option vom Tisch nehmen.« Das Publikum reagierte mit starkem Applaus und schien sich nicht daran zu stören, daß der Präsident wieder einmal kein Wort über die riesigen Kosten und die weltweiten Folgen des permanent angedrohten Krieges gegen Iran verlor. Dabei ist das Pentagon-Budget schon jetzt höher als es jemals unter George W. Bush war, der sich im Januar 2002 rühmte: »Mein Haushalt enthält die größte Steigerung der Verteidigungsausgaben seit zwei Jahrzehnten.«

Ohne Schnickschnack

Im Vergleich beider Reden zur Lage der Nation, der von 2002 und der von 2012, hatte der Republikaner Bush zweifellos die größere Ehrlichkeit auf seiner Seite. Er brachte im vollen Wortsinn echt amerikanisches »What You Get Is What You See«: Ihr bekommt genau das, was ihr seht. Keine Dekoration, kein Schnickschnack. Keine Kluft zwischen der Werbung und dem wirklich ausgelieferten Produkt.

Nun ja, daß Bush beiläufig so tat, als gebe es für den Irak noch eine kleine Möglichkeit, dem schon beschlossenen Krieg durch weitreichende Zugeständnisse zu entgehen, war selbstverständlich gelogen. Aber das meiste andere stimmte. So etwa: »Unser Krieg gegen den Terror hat gut begonnen, aber er hat gerade erst begonnen. Diese Kampagne wird vielleicht nicht in unserer Amtszeit beendet werden.« Oder auch: »Es kostet eine Menge, diesen Krieg zu führen. Wir haben mehr als eine Milliarde Dollar im Monat – über 30 Millionen am Tag – ausgegeben, und wir müssen auf zukünftige Operationen vorbereitet sein.« Tatsächlich wurden die Kriegsausgaben noch während der Amtszeit von Bush mehr als vervierfacht.

Als Bush am 29. Januar 2002 seine Rede zur Lage der Nation hielt, schien der Krieg in Afghanistan aus Sicht der US-Regierung und ihrer Verbündeten schon so gut wie beendet. Am 7. Oktober 2001 hatte die US-Luftwaffe begonnen, den Milizen der Nordallianz den Weg nach Süden freizubomben. Ungefähr gleichzeitig kamen auch Spezialeinheiten am Boden zum Einsatz. Nur gut einen Monat später, in der Nacht zum 13. November, zogen sich die militärischen Einheiten der Taliban aus Kabul zurück und überließen der Nordallianz die Hauptstadt. Am 7. Dezember gaben die Fundamentalisten auch die einzige von ihnen noch gehaltene Stadt, Kandahar im Süden des Landes, auf. Etwas später brachten die Verbündeten des Westens, von US-Streitkräften militärisch unterstützt, den letzten Kräften der Taliban, die noch Widerstand leisteten, in der »Schlacht von Tora Bora« eine schwere Niederlage bei und trieben sie über die Grenze nach Pakistan. Am 20. Dezember 2001 wurde, gedeckt durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, die International Security Assistance Force (ISAF) gegründet, an der sich auch Deutschland von Anfang an beteiligte. Das Mandat dieser internationalen Truppe war zunächst auf die Hauptstadt begrenzt und sollte nur in der Übernahme von Polizeifunktionen bestehen. Ob die verantwortlichen Politiker damals zu dumm oder zu uninteressiert waren, um das durchaus Voraussehbare zu erkennen, oder ob sie ihre Nationen absichtlich in einen langen Krieg hinein logen, ist schwer zu beantworten. Vermutlich war es etwas von beidem.

In seiner Ansprache an den Kongreß schien Bush den Krieg in Afghanistan bereits für abgeschlossen zu halten: Die Welt sei »Tausende von Terroristen losgeworden«, ein Volk sei »vorm Verhungern gerettet« und »ein Land von brutaler Unterdrückung befreit« worden. Die letzten »Terroristenführer« seien nur noch dabei, »um ihr Leben zu laufen«. Die USA und Afghanistan seien jetzt »Verbündete gegen den Terror« und »Partner beim Wiederaufbau des Landes«.

Zugleich sprach Bush aber auch schon weitere Schauplätze des »Kriegs gegen den Terror« an: »Während die sichtbarsten Militäraktionen in Afghanistan stattfinden, handelt Amerika auch anderswo. Wir haben jetzt Truppen auf den Philippinen, die bei der Ausbildung der Streitkräfte des Landes helfen, um Terroristenzellen zu jagen (…). Unsere Soldaten haben in Zusammenarbeit mit der bosnischen Regierung Terroristen festgenommen, die einen Bombenanschlag gegen unsere Botschaft planten. Unsere Marine patrouilliert vor den Küsten Afrikas, um die Lieferung von Waffen und die Errichtung von Terroristenlagern in Somalia zu verhindern.«

»Wir kennen ihr wahres Wesen«

Damit noch lange nicht genug. Regierungen, die »zu ängstlich« seien, um im eigenen Land gegen »Terroristen« vorzugehen, müßten wissen: »Wenn sie nicht handeln, wird Amerika es tun.« Das Transkript notiert an dieser Stelle Applaus, selbstverständlich. Beifall übrigens auch für das Lob: »Ich bewundere die starke Führerschaft von Präsident Musharraf.« Der pakistanische General hatte sich im Oktober 1999 an die Macht geputscht. Der Diktator, der sich am 20. Juni 2001 selbst zum Präsidenten machte, mußte im August 2008, in der Schlußphase von Bushs zweiter Amtszeit, seinen Stuhl räumen, um den Weg frei zu machen, für die Rückkehr seines Landes zur Demokratie. Einflußreiche Neokonservative der USA scheinen derzeit bereit, auf ein politisches Comeback Musharrafs zu setzen.

Anschließend kam Bush auf »unser zweites Ziel« zu sprechen: »Regime, die den Terror fördern, daran zu hindern, Amerika oder unsere Freunde mit Massenvernichtungswaffen zu bedrohen. Einige dieser Regime verhalten sich seit dem 11. September ziemlich ruhig. Aber wir kennen ihr wahres Wesen. Nordkorea ist ein Regime, das mit Raketen und Massenvernichtungswaffen gerüstet ist, während seine Bürger hungern. Iran strebt aggressiv nach solchen Waffen und exportiert Terror, während ein paar nicht gewählte Leute die Hoffnung des iranischen Volkes auf Freiheit unterdrücken.«

Nun aber endlich zur Hauptsache: »Irak fährt fort, seine Feindschaft gegen Amerika zur Schau zu stellen und den Terror zu unterstützen. Das irakische Regime hat heimlich mehr als ein Jahrzehnt lang Anthrax, Nervengas und Atomwaffen entwickelt. Das ist ein Regime, das bereits Giftgas angewendet hat, um Tausende seiner eigenen Bürger zu ermorden – wobei die Leichen der Mütter zusammengedrängt über ihren toten Kindern lagen. Das ist ein Regime, das internationalen Inspektionen zugestimmt hatte – und dann die Inspektoren hinauswarf. Das ist ein Regime, das etwas vor der zivilisierten Welt zu verbergen hat.«

Die Bush-Doktrin

Tatsächlich hatte Saddam Hussein in den 1980er Jahren vor allem in seinem Angriffskrieg gegen Iran massiv Giftgas einsetzen lassen – in einem Zeitraum, wo er von den USA und mehreren europäischen Staaten militärisch und politisch unterstützt wurde. Aber damals war er noch »unser Schurke«, und folglich war es auch »unser Giftgas«, also nicht allzu tadelnswert.

Zurück zur Rede. Nach der Erwähnung Nordkoreas, Irans und Iraks fuhr Bush fort: »Staaten wie diese, und ihre terroristischen Verbündeten, stellen eine Achse des Bösen dar, die sich bewaffnet, um den Frieden der Welt zu bedrohen. Indem sie nach Massenvernichtungswaffen streben, stellen diese Regime eine ernste und zunehmende Gefahr dar. Sie könnten diese Waffen Terroristen zur Verfügung stellen (…). Sie könnten unsere Verbündeten angreifen oder die Vereinigten Staaten zu erpressen versuchen. Wir werden eng im Rahmen unserer Koalition zusammenarbeiten, um Terroristen und ihren staatlichen Unterstützern das Material, die Technologie und das Know-how zur Produktion und zum Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu verweigern. (…) Wir sind auf der Hut, aber die Zeit arbeitet gegen uns. Ich werde nicht auf die Ereignisse warten, während sich Gefahren zusammenbrauen. Ich werde nicht untätig zusehen, während das Verhängnis näher und näher kommt. Die Vereinigten Staaten werden nicht zulassen, daß die gefährlichsten Regime der Welt uns mit den zerstörerischsten Waffen der Welt bedrohen.«

Der letzte Satz enthält im Kern das, was dann als Bush-Doktrin bekannt wurde, nämlich eine prinzipielle Legitimation präventiver Kriege – und zwar unabhängig vom Vorliegen sachlicher Beweise für die Existenz der behaupteten Waffen und erst recht unabhängig vom Vorhandensein irgendwelcher aggressiven Absichten der betroffenen Staaten und Regierungen.

Aus Bushs Formulierung »Staaten wie diese« wurde bereits deutlich, daß es mit den drei namentlich genannten nicht unbedingt sein Bewenden haben sollte. Der neokonservative Kriegshetzer John Bolton, zu jener Zeit Staatssekretär im Außenministerium, legte am 6. Mai 2002 in einer Rede nach, die er »Über die Achse des Bösen hinaus: Weitere Bedrohungen durch Massenvernichtungswaffen« betitelt hatte. Schauplatz war eine Veranstaltung der Heritage Foundation, die sowohl für den Krieg gegen Afghanistan wie später gegen Irak planerische Grundzüge entwickelt hatte. Zusätzlich zu den drei schon bekannten Ländern reihte Bolton auch noch Libyen, Syrien und Kuba ein. Als Kriterien für die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe gab er an: »Staatliche Unterstützer des Terrorismus, die nach Massenvernichtungswaffen streben oder die das Potential oder die Fähigkeit haben, unter Verletzung ihrer vertraglichen Verpflichtungen danach zu streben.«

Als Erfinder des Begriffs »Axis of Evil« gilt David Frum, ein überzeugter Neokonservativer, der damals zum Ghostwriter-Team des Präsidenten gehörte, das aus vier oder fünf Personen bestand, ohne aber dessen Chef zu sein. Über die individuellen Beiträge dieser Autoren, deren Entwürfe in der Regel in mehreren Arbeitsgängen bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet werden, muß selbstverständlich absolutes Stillschweigen bewahrt werden. Im Falle Frums wurde seine Urheberschaft durch das Mitteilungsbedürfnis seiner Ehefrau bekannt, die den Sachverhalt »with wifely pride« über das Internet verbreitete. Wie weit das wirklich der Grund für die kurz darauf erfolgte Entlassung Frums aus dem Team war – er selbst bestreitet einen Zusammenhang – ist unklar.

Frum trat später noch einmal groß in Erscheinung als Mitautor eines Buches von Richard Perle, dem einstigen, durch übermäßige Geldgier aus der politischen Karriere gestolperten Vordenker der Neokonservativen. Mit dem Anfang 2004 erschienenen Druckwerk wollten Perle und Frum die USA belehren, »Wie man den Krieg gegen den Terror gewinnt« – so der Buchtitel. Mit Bedauern vermeldeten sie, daß »der Wille zum Sieg abgeebbt« sei und daß sich ein Trend zu Verhandlungen mit Iran, Syrien und Libyen zeige, denen wenige Monate zuvor noch unverhohlen mit militärischer Intervention gedroht worden war.

Im Zentrum des Buches stand ein großflächiges Feindbild, das die Autoren so formulierten: »Religiöse Extremisten und laizistische Militante, Sunniten und Schiiten, Kommunisten und Faschisten – im Nahen Osten verschmelzen diese Kategorien miteinander. Sie alle strömen aus demselben enormen Reservoir an leicht entflammbarer Leidenschaft.« – Perle und Frum erweiterten damit die Idee eines »Weltkriegs gegen den militanten Islam«, für den prominente Neokonservative schon seit dem 11. September 2001 geworben hatten.

Haarsträubende Vergleiche

Nach seiner eigenen späteren Darstellung hatte Frum den Auftrag, einen Entwurf für Bushs Rede zur Lage der Nation zu schreiben, Ende Dezember 2001 erhalten. Er habe seine Vorbereitungen damit begonnen, die Ansprache zu lesen, mit der Präsident Franklin D. Roosevelt am 8. Dezember 1941 nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbour den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg verkündete. Tatsächlich waren Vergleiche zwischen den Angriffen vom 11. September 2001 und Pearl Harbour damals sehr in Mode. Unberücksichtigt blieb dabei die einzige wirklich deutliche Parallele: Beide Ereignisse dienten den Präsidenten der USA als Anlaß für längst geplante und gewollte militärische Maßnahmen. Und in beiden Fällen ist ungeklärt, wie weit US-amerikanische Stellen den Ereignissen zumindest durch Verschweigen ihrer Erkenntnisse Vorschub leisteten.

Offenbar beabsichtigten Frum und nach ihm Bush oder dessen maßgebliche Berater mit der Formulierung »Achse des Bösen« eine historische Parallele zur »Achse Berlin–Rom«, einer vom faschistischen Diktator Benito Mussolini geprägten Bezeichnung für das 1936 vereinbarte Bündnis zwischen Deutschland und Italien, das 1940 durch den Anschluß Japans zum Drei-Mächte-Pakt erweitert worden war. Vermutlich hatte sich Frum zu diesem Vergleich durch einen schon 1992 erschienenen Aufsatz des israelisch-amerikanischen Militärwissenschaftlers Yossef Bodansky inspirieren lassen, der den Titel trug: »Teheran, Bagdad und Damaskus: Der neue Achsenpakt«. Bodansky hatte das Papier für den wissenschaftlichen Dienst des Kongresses verfaßt.

Dieser historische Vergleich war nichts weiter als haarsträubend. Weder Iran, Irak und Syrien noch Nordkorea, Iran und Irak hatten jemals auch nur annähernd so etwas wie ein Bündnis gebildet – nicht einmal insgeheim, und schon gar nicht offiziell. Iran und Irak waren verfeindet, wie der von Saddam Hussein ausgelöste Krieg 1980–1988 gezeigt hatte, und sie blieben Feinde bis zu Saddams Sturz durch die amerikanisch-britische Invasion im März 2003. Anzeichen sprechen dafür, daß Iran sogar noch trotz der öffentlichen Brüskierung durch die Bush-Rede bei der Vorbereitung dieser Invasion Hilfestellungen leistete. Syrien hatte sich während des Golfkriegs 1991 der von den USA angeführten Militärkoalition gegen Irak angeschlossen. Diese Staaten als miteinander eng verbündet darzustellen, war so offensichtlich abstrus und irreal, daß selbst Madeleine Albright, Außenministerin unter Bill Clinton von 1997 bis zum Amtsantritt von George W. Bush im Januar 2001 und eine entschiedene Verteidigerin der Sanktionen gegen Irak, von einem »großen Fehler« sprach. »Vor allem sind sie – Iran, Irak und Nordkorea – sehr verschieden voneinander.«

Dialog mit Iran abgebrochen

Ein wesentlicher Effekt der aggressiven Anprangerung Irans in Bushs Rede bestand darin, eiskaltes Wasser über die diskrete, aber enge und intensive Zusammenarbeit zu gießen, die sich gerade erst zwischen Teheran und Washington in Zusammenhang mit dem Sturz der Taliban entwickelt hatte. Iran hatte in Afghanistan eine ähnliche Bündnispolitik betrieben wie die USA. Insbesondere hatte es, ebenso wie diese, schon vor der militärischen Intervention die Nordallianz unterstützt. Zu vielen einflußreichen afghanischen Politikern und Warlords, auch in Westafghanistan, unterhielten die Iraner traditionell gute Beziehungen.

Der in den USA lebende Exil-Iraner Trita Parsi beschreibt die damalige Situation in seinem gerade erschienenen Buch »A Single Roll of the Dice: Obama’s Diplomacy with Iran«: »Nach dem 11. September leitete Washington Gespräche mit dem Iran über Afghanistan ein (…). Im Gegensatz zur allgemein verbreiteten Vorstellung bildeten die USA keine Koalition gegen die Taliban, sondern Washington schloß sich einer bestehenden Koalition an, die vom Iran geführt wurde. Bei Treffen in Genf, die im Herbst 2001 stattfanden, konzentrierten sich die amerikanisch-iranischen Diskussionen auf die Frage, wie man die Taliban wirkungsvoll stürzen und eine afghanische Regierung einsetzen könnte. Die Iraner boten den USA die Nutzung von Luftstützpunkten an; sie boten die Durchführung von Such- und Rettungsaktionen für abgestürzte US-Piloten an; sie dienten als Brücke zwischen der Nordallianz und den USA in deren Feldzug gegen die Taliban; und sie benutzten sogar von amerikanischen Stellen gelieferte Informationen, um fliehende Al-Qaida-Führer aufzuspüren und zu töten.«

Während der ersten Bonner Afghanistan-Konferenz (27. November bis 5. Dezember 2001), auf der die Zusammensetzung der künftigen Kabuler Regierung und andere Fragen der Machtverteilung ausgehandelt wurden, spielten die Iraner eine entscheidende, aus westlicher Sicht positive Rolle, indem sie ihre afghanischen Verbündeten dazu brachten, bestimmte Kompromißvorschläge zu akzeptieren. Aus Sicht Irans, damals unter der Präsidentschaft des »Reformpolitikers« Mohammad Khatami, der im Juni 2001 für eine zweite Amtszeit wiedergewählt worden war, stellte die Zusammenarbeit mit den USA in Afghanistan nicht nur einen Selbstzweck dar. Die iranische Führung hoffte weit darüber hinaus, daß diese Kontakte auch als Einstieg für eine umfassende Neugestaltung der Beziehungen zwischen den zwei Ländern genutzt werden könnten.

Das hätte aber ein gleichgerichtetes Interesse an einer solchen Entwicklung auf beiden Seiten vorausgesetzt. In Washington war, das signalisierte die Rede zur Lage der Nation am 29. Januar 2002, ein solches Interesse in Wirklichkeit gar nicht vorhanden. Es spricht für den Friedenswillen der Iraner und ihre Hartnäckigkeit in der Verfolgung strategischer Ziele, daß sie den Versuch auch nach dieser Abfuhr nicht aufgaben. So übermittelten sie zum Beispiel im Mai 2003 den USA einen umfassenden, inhaltlich sehr weit gehenden Gesprächsvorschlag, der jedoch in Washington völlig ignoriert wurde. Die USA wollen, das ist die Botschaft von George W. Bush bis Barack Obama, statt dessen einen Krieg, der weder geographische noch zeitliche Begrenzungen kennt.

* Aus: junge Welt, 27. Januar 2012


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