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Die Freiheit vorantreiben

Eine "grundstürzende Wirkung": Wie gehen die USA mit Diktaturen um?

Von Karl Hermann *

Passend zu den Revolten und Umstürzen in der arabischen Welt hat der Verlag C.H. Beck die dritte Auflage des Buches »Von der Diktatur zur Demokratie – Ein Leitfaden für die Befreiung« von Gene Sharp herausgebracht. Das schon 1993 entstandene Werk habe der US-amerikanische Politikwissenschaftler »ursprünglich für die Demokratiebewegung in Myanmar (Birma) geschrieben«, heißt es in der Einführung. Nun aber kursiere »dieses schmale Buch unter den Revolutionären und entfaltet eine grundstürzende Wirkung«. So habe es bei der »Befreiung von Diktaturen in Osteuropa« eine Rolle gespielt, ebenso hätte es »die serbische Widerstandsbewegung beim Sturz von Milosevic benutzt«, so wie es auch »von der Befreiungsbewegung in Georgien, in der Ukraine, in Kirgisistan und Belarus (Weißrußland)« verwendet worden sei. Dieser Klassiker sei nunmehr in 28 Sprachen übersetzt worden.

Sharp wird als Gründer der »Albert Einstein Institution« vorgestellt, der in den USA mit der »wissenschaftlichen Untersuchung und Verbreitung von gewaltlosen Lösungen weltweiter Konflikte« beschäftigt sei. Für die dritte deutsche Auflage hält der Verlag ganz aktuell den Hinweis bereit: »Mit dem Aufstand in Tunesien fing es an. Der Funke des Widerstands gegen die alten Tyrannen sprang über. Viele Beobachter zeigen sich überrascht angesichts der Umwälzungen in der arabischen Welt.« Nun konnte das Verlagshaus C.H. Beck vermutlich nicht mehr länger warten, um auch noch die »grundstürzende Wirkung« des Buches für die jüngsten Entwicklungen in Libyen und Syrien einzuordnen.

Parallelregierung empfohlen

Aber ein offensichtlich über viele Jahre entwickeltes Handbuch, das die Erfahrungen aus der politischen und militärischen Praxis des Westens von Jahrzehnten verallgemeinert und zur weiteren Anwendung empfiehlt, hat auch naheliegende Rezepte für die jüngsten Ziele. So wird im Abschnitt »Freiheit vorantreiben« für den Fall, daß » eine Diktatur noch immer Regierungsämter besetzt«, empfohlen, daß sich mitunter eine »demokratische ›Parallelregierung‹ ins Leben rufen« lasse. Diese dürfte zunehmend als Konkurrenzregierung agieren, »der von der Bevölkerung… Loyalität, Gefolgschaft und Kooperation entgegengebracht« würden. Und »am Ende kann die demokratische Parallelregierung das diktatorische Regime… vollständig ersetzen«. Zu gegebener Zeit würden dann schon eine Verfassung verabschiedet und Wahlen abgehalten werden.

Klappentext zu: Von der Diktatur zur Demokratie

Dieses Buch ist ein Lehrbuch zum gewaltfreien Sturz von Diktaturen. Der Politikwissenschaftler Gene Sharp hat es ursprünglich für die Demokratiebewegung in Myanmar (Birma) geschrieben. Besonders bei der Befreiung von den Diktaturen in Osteuropa hat es im letzten Jahrzehnt eine wichtige Rolle gespielt. Die serbische Widerstandsbewegung"Otpor"hat es beim Sturz Milosevics im Jahre 2000 benutzt, es wurde von den Befreiungsbewegungen"Kmara"in Georgien,"Pora!"in der Ukraine,"KelKel"in Kirgisistan und"Subr"in Belarus (Weißrußland) verwendet. Der Klassiker der Widerstandsliteratur, der bisher in 28 Sprachen übersetzt wurde, liegt jetzt erstmals auch in deutscher Sprache vor.

Produkt-Beschreibung zu: Von der Diktatur zur Demokratie
Mit dem Aufstand in Tunesien fing es an. Der Funke des Widerstands gegen die alten Tyrannen sprang auf Ägypten über. Viele Beobachter zeigten sich überrascht angesichts der Umwälzungen in der arabischen Welt. Unter den Revolutionären kursiert dieses schmale Buch und entfaltet eine grundstürzende Wirkung. Gene Sharp hat es ursprünglich für die Demokratiebewegung in Myanmar (Birma) geschrieben, und besonders bei der Befreiung von Diktaturen in Osteuropa spielte es eine Rolle. Längst ist es ein vielfach übersetzter Klassiker der Befreiungsliteratur: Ein Lehrbuch zum gewaltlosen Sturz von Diktaturen.

Autoren-Porträt von Gene Sharp:
Gene Sharp geboren 1928 in Ohio, saß als junger Mann neun Monate im Gefängnis, weil er die Einberufung in den Koreakrieg verweigert hatte. Er ist Politikwissenschaftler und lehrte an der Eliteuniversität Harvard. 1983 grürndete er das Albert-Einstein-Institut, das sich mit der wissenschaftlichen Untersuchung und der Verbreitung von gewaltfreien Lösungen weltweiter Konflikte beschäftigt.

Quelle: weltbild.de



Mit aller strategischen Umsicht wird den hier wirkenden »Demokraten« empfohlen, daß es sich »am Ende des Kampfes ... bei der Einsetzung einer funktionierenden Regierung« nicht einfach nur um die alte mit neuem Personal handeln sollte. Man müsse überlegen, welche Bereiche, wie etwa die Polizei, beibehalten und später demokratisiert und welche abgeschafft werden sollten. Doch Vorsicht: Ein Regierungsvakuum könne leicht ins Chaos oder zu einer neuen Diktatur führen. Vorsichtshalber werden die Akteure gewarnt, »nicht zu glauben, daß mit dem Sturz einer Diktatur sofort eine Idealgesellschaft entsteht«.

Schlechtes Beispiel Myanmar

Für seine nur 118 Seiten nimmt der Autor für sich in Anspruch, eine Strategie für »gewaltlose« Veränderungen entwickelt zu haben. So bleibt er dann auch beim Abschnitt »Aktionen der internationalen Regierungen« sehr zurückhaltend und beschränkt sich auf diplomatischen Druck wie Einfrieren der diplomatischen Beziehungen, Verweigerung der Mitgliedschaft in internationalen Organen, Ausschluß aus internationalen Organisationen. Für Methoden der »wirtschaftlichen Nichtzusammenarbeit« werden dann aber doch »Aktionen der Regierungen« in Form verschiedener Embargos einschließlich eines internationalen Handelsembargos vorgeschlagen.

Eben solche wirtschaftlichen Sanktionen verhängten die Staaten der Europäischen Union im Jahre 1988, einem jähen Schwenk der USA-Politik folgend, gegen Myanmar, angeblich zur Schwächung der Position der Militärregierung. Bemerkenswerterweise hatte die Regierung der Bundesrepublik Deutschland bis dahin eine Politik der Freundschaft mit den führenden Militärs von Myanmar gepflegt, wie sie zum Beispiel in der Errichtung von Fabriken zur Herstellung von Waffen und Munition und in einer jährlichen Einladung an den Staatschef, General Ne Win, zum Genesungsaufenthalt im Schwarzwald zum Ausdruck gekommen war.

Im Jahr 2011 nun mußte die EU feststellen, daß ihre Wirtschaftssanktionen die Lage der Bevölkerung Myanmars durch den Mangel an Waren langfristig verschlechtert und gleichzeitig den wirtschaftlichen Wohlstand der regierenden Militärs weiter gestärkt haben. Sharps speziell für den Regimewechsel in Birma verfaßte Schrift verfehlte ihre Wirkung also in hohem Maße, unter anderm auch deshalb. weil die in der ASEAN organisierten Staaten Südostasiens nicht bereit waren, Myanmar trotz starken politischen Drucks seitens der USA und der EU auszugrenzen.

Sie hatten offenbar Lehren gezogen aus der Entwicklung in Kambodscha. Obwohl vietnamesische Truppen 1979 das mörderische Pol-Pot-Regime abgesetzt hatten, gelang es den USA, die ASEAN-Staaten davon zu überzeugen, gegen die neue Regierung in Phnom Penh eine diplomatische Blockade zu verhängen. Statt dessen wurde dem Pol-Pot-Regime als Exilregierung mit offiziellem Sitz in der UNO gehuldigt – bis 1993.

Dabei hatte das Wissen der US-Administration um die Verbrechen der »Roten Khmer« gegen die Khmer-Bevölkerung sowie die chinesische und vietnamesische Minderheit die USA nicht daran gehindert, eben diese noch bis 1994 mit Geld und Waffen über Thailand zu versorgen, damit sie in Nordkambodscha einen Guerillakrieg führen konnten. Die ASEAN-Staaten aber beeilten sich Ende der 80er Jahre, ihre Beziehungen zu Vietnam zu normalisieren, als die dortige Regierung mit der Einführung marktwirtschaftlicher Elemente begann und das hohe Entwicklungstempo der Wirtschaft des Landes zum Anziehungspunkt für ausländische Investitionen wurde.

Zu jenem Zeitpunkt waren der verlorene Krieg der USA gegen Vietnam und der damit verbundene geheime Krieg Washingtons in Laos und Kambodscha im Zeitraum 1964 bis 1973 schon jüngste Geschichte. Unvergessen aber blieben bei den Politikern der ASEAN-Staaten die Schicksale der getreuen Statthalter der USA in den Ländern Indochinas während dieses Krieges und vielleicht auch jene der geschundenen und als Kanonenfutter mißbrauchten Bergstämme in Laos und Kambodscha. Die USA waren mit ihren Freunden wie mit Marionetten umgesprungen. Dem Ministerpräsidenten der neutralen Regierung in Laos, Prinz Souvanna Phouma, war unterstellt worden, daß er von der US-Regierung die jahrelangen Bombardierungen seines Landes durch B-52-Bomber »erbeten« habe. Im Falle Kambodschas sollte Prinz Sihanouk noch 1969, ein Jahr vor seiner Entmachtung durch seinen proamerikanischen Verteidigungsminister Lon Nol, die US- Air Force zu Flächenbombardierungen seines Landes eingeladen haben.

Beide Politiker wiesen diese Unterstellungen, die dem Pentagon vor dem US-Kongreß als Rechtfertigung gedient hatten, zurück. Wie inzwischen aus US-amerikanischen Quellen nach Öffnung der Archive zu entnehmen ist, wurden in Laos über zwei Millionen Tonnen Bomben abgeworfen, auf Kambodscha fast 600000 Tonnen. Davon sind in Laos allein noch ca. 80 Millionen Streubomben und in Kambodscha ca. acht Millionen Streubomben als Blindgänger aktiv. Die finanzielle Hilfe der US-Regierung zur Beseitigung der Blindgänger ist bis heute beschämend gering. Doch der Statthalter der USA in Kambodscha von 1970 bis 1975 durfte wenige Tage vor dem Sieg der vietnamesischen Befreiungskräfte in Saigon noch rechtzeitig mit einigen Millionen US-Dollar im Gepäck nach Hawaii flüchten. General Vang Pao, der zur Unterstützung der USA im geheimen Krieg in Laos von 1958 bis 1975 Zehntausende Männer, Frauen und Halbwüchsige seines Hmong-Stammes für fremde Interessen verheizt hatte, war es gestattet, 1975 mit einer Abfindung in die USA zu flüchten und dort bis zu seinem Tode im Jahre 2010 zu leben.

Todbringender Freund

Die USA-hörigen Diktatoren in Südvietnam allerdings standen auf besonders gefährlichem Posten. Ngo Din Diem, der aus amerikanischer Sicht in Vorbereitung des Krieges als nicht hart genug gegolten hatte, starb im Ergebnis eines Putsches 1963, ein Jahr vor Kriegsbeginn. Sein Nachfolger Nguyen Van Thieu verweigerte 1968 zu einem Zeitpunkt, als die USA ihre Niederlage bereits vorausahnten und geheime Verhandlungen in Paris mit der vietnamesischen Regierung begannen, seine Teilnahme an Regierungstreffen, weil er befürchtete, die USA wollten sich unter der Losung der »Vietnamisierung« des Krieges zurückziehen. Es muß ernst um ihn gestanden haben. Denn wie aus Henry Kissingers Memoiren (»White House Years«, 1979) zu entnehmen ist, hatte Kissinger damals den Präsidentschaftskandidaten Nixon gewarnt, daß Verteidigungsminister Clark Cliffort gegen Thieu zum gleichen Mittel wie gegen Diem greifen könnte. »Sollte Thieu ermordet werden, wie es im November 1963 mit Diem geschah, wird sich unter den Nationen der Welt herumsprechen, daß es gefährlich sein könnte, als Feind Amerikas zu gelten; ein Freund der USA zu sein, aber könne sogar den Tod bringen«. (Vergleiche auch Robert Dallek: »Partners in Power – Nixon and Kissinger«, 2007)

Gewaltlos bewaffnet

Bekanntlich unterhalten die USA die teuerste Militärmaschinerie der Welt. In der linken US-Zeitschrift Monthly Review (Oktoberausgabe 2008) rechneten drei Politikwissenschaftler vor, daß die USA für militärische Zwecke jährlich nicht allein die offiziell vom Kongreß bewilligten 500 bis 600 Milliarden US-Dollar ausgegeben, sondern unter Berücksichtigung der in zahlreichen Teilbudgets versteckten Mittel wird »in Wahrheit die wahnsinnige Summe von einer Billion US-Dollar für militärische Zwecke eingesetzt«.

Trotz der Gelddruckpolitik der US-Notenbank scheinen in der zunehmenden Finanzkrise diese Mittel nicht mehr zu reichen, weshalb schon seit längerem die NATO-Partner zur Kasse gebeten werden, um sich an den neuen Weltordnungskriegen der USA militärisch wie finanziell zu beteiligen. Die bisherigen Ergebnisse bleiben aber für die USA ökonomisch wie politisch unbefriedigend, was selbst konservativen US-Politikern wie beispielsweise dem Republikaner Ron Paul, der im Repräsentantenhaus sitzt, auffällt. In seinem 2010 erschienenen Buch »Befreit die Welt von der US-Notenbank« stellt er fest: »Es heißt, Militärausgaben seien notwendig, um unsere Sicherheit zu gewährleisten. Das Ergebnis ist, daß der militärisch-industrielle Komplex blüht und gedeiht – und wir wesentlich weniger sicher, dafür aber viel ärmer sind.« Es wachsen die Zweifel, ob man sich die bisherige imperiale Politik überhaupt noch leisten kann.

Gleichwohl wird eine Politik des »Regime Change« weiterverfolgt. Ging es in Asien in den 1960er und 1970er Jahren noch um die Rettung der Welt vor dem Kommunismus, so geht es heute um die Sicherung der Ölreserven. Ob friedlich oder gewaltsam, ist eine rein taktische, keine strategische Frage, zumal die vielfältigen »gewaltlosen« Methoden seit dem Ende der Blockkonfrontation auch den Einsatz der Luftwaffe zum »Schutz der Bevölkerung« beinhalten.

Die Methoden des Vorgehens können sich schnell wandeln: Vom gewaltfreien Handkuß zum Handschuß. Meine Empfehlung: Besorgen Sie sich zusätzlich zu anderen aufklärenden Schriften auch den »vielfach übersetzten Klassiker der Befreiungsliteratur«. Sie werden sich jetzt und in den nächsten Jahren in dieser Welt vermutlich besser zurechtfinden.

* Karl Hermann arbeitete früher im diplomatischen Dienst und lebt in Berlin.

Aus: junge Welt, 19. November 2011



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