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Und sie bewegt sich doch!

Räumung des New Yorker Zuccotti-Parks kann Occupy-Bewegung nicht einschüchtern / Heute Aktionstag

Von Max Böhnel, New York *

Nach der Räumung des New Yorker Protestcamps der Occupy-Bewegung hat die Justiz ein Zeltverbot im Zuccotti-Park bestätigt. Allerdings erlaubte die Polizei am Dienstagabend (15. Nov.) den Demonstranten, auf der Grünfläche ihren Protest gegen die Finanzmärkte fortzusetzen.

Das Zeltlager im Zuccotti-Park, das vor fast zwei Monaten Hunderte von Occupy-Gruppen in den USA und weltweit inspiriert hat, ist seit Dienstag Geschichte. Mit einer überfallartigen Vertreibungs- und Festnahmeaktion überrannten Hunderte von Beamten des New York City Police Department NYPD das Lager, nahmen fast 200 Menschen fest und zerstörten und beschlagnahmten innerhalb von ein paar Stunden alles, was nicht niet- und nagelfest war.

Am späten Dienstagnachmittag war der Park wieder »offen«. Auf gerichtliche Anweisung hin steht der »öffentliche Park«, der einer privaten Immobilienfirma gehört, der Öffentlichkeit wieder zur Verfügung. Gleichzeitig ist auch das Recht auf freie Meinungsäußerung gewährleistet. Aber: Campen und Übernachten fällt laut dem Richter nicht unter das Recht der Versammlungsfreiheit. Beamte des NYPD sowie eine private Sicherheitsfirma kontrollieren deshalb die Zugänge zu dem Park.

Wer am Dienstagabend (15. Nov.) eine größere Tasche, einen Schlafsack oder auffällig viel Lebensmittel in den Zuccotti-Park mitbringen wollte, wurde abgewiesen. Trotzdem versammelten sich um 19 Uhr, wie seit dem 17. September jeden Abend, Platzbesetzer zur Vollversammlung. Dieses Mal waren es fast 2000, so viele wie nie zuvor. Die Stimmung: enthusiastisch. Viele äußerten sich enttäuscht darüber, dass Übernachtungen nicht mehr möglich sind. Aber alle, die ich fragte, äußerten sich zuversichtlich und optimistisch über die Aussichten der »Occupy Wall Street«-Bewegung. »Sie kann nur wachsen, und sie wird es auch«, sagte die 22-jährige Jaden, eine Politikstudentin an der New York University, während sie sich warm tanzte. Es werde so oder so bald zu kalt zum Übernachten im Freien, und sie habe eine Bleibe. Die Obdachlosen, die sich in den letzten beiden Wochen in zunehmender Zahl im Zuccotti-Park niedergelassen hatten, würden sich jedenfalls in städtischen Heimen umsehen müssen. »Symbolisch« sei das Übernachten im Park inzwischen geworden, so der 31-jährige Maurer Jack McGrath, der im Direct Action Committee (Ausschuss für direkte Aktion) mitmischt. Die Bewegung habe nach wie vor Sachspenden im Überfluss sowie über 200 000 Dollar Spendengelder auf Bankkonten. Es sei ihm niemals nur um einen »Lebensstil«, etwa das für Jugendliche aufregende Zelten mitten in der Großstadt, gegangen, auch nicht um »die Wiederaneignung von öffentlichem Raum«, wie es manche Soziologiestudenten nannten. Für ihn, McGrath, ging es darum, »eine physische Ausgangsbasis zu haben, um kollektiv linke Politik zu machen«. Das Zelten sei für manche zum »Selbstzweck, zum Fetisch« geworden.

Seit dem 17. September, der Geburtsstunde von »Occupy Wall Street« (OWS), wird es von Tag zu Tag schwerer, den Überblick über neu hinzugekommene Zeltlager, von der Polizei zerstörte Camps, Protestaktionen kleinerer und größerer Gruppen und Debatten zu bewahren. Denn innerhalb von zwei Monaten hat sich die Bewegung multipliziert. Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, der nicht von diesem Phänomen berührt worden ist.

Die Schnelligkeit, mit der sich diese soziale Bewegung wie keine andere in einem spätkapitalistisch-formaldemokratischen Land wie den USA verbreitet hat, ist im Wesentlichen auf das Internet und seine fast überall verfügbaren Fahrzeuge auf der Datenautobahn zurückzuführen. Proteste werden live über iPhone ins Web übertragen und können gleichzeitig Tausende von Kilometern entfernt mitverfolgt und debattiert werden. Polizeiübergriffe können viel leichter als früher mit einer Tabletkamera dokumentiert und damit gerichtlich relevant werden.

Aber auch jenseits der Technik lässt sich aus den Ereignissen der letzten beiden Monate in den USA eine Erkenntnis ableiten, die - wäre sie im Sommer vorgetragen worden - noch als Spinnerei abgetan worden wäre. In diesem riesigen Land mit seinen mächtigen Großkonzernen und seinen beiden Parteien, die wegen des korrupten Wahlkampffinanzierungssystems von Wall-Street-Geldern abhängig sind, hat sich in den vergangenen 20, 30 Jahren der Deregulierung eine nicht mehr zu übersehende Linke mit sozialdemokratischen, sozialistischen und anarchistischen Tendenzen entwickelt. Sie hat keine Partei wie in westeuropäischen Ländern, sie ist jung, unorganisiert und höchst motiviert, etwas zu verändern. In gewisser Weise waren viele, wahrscheinlich die meisten von ihnen, als Freiwillige in Obamas Wahlkampfapparat tätig. Aber diese Zeiten sind vorbei. Denn die OWS-Linken sind schwer enttäuscht, und die Apparatschik-Demokraten ebenso wie der Präsident machen bisher keine Anstrengungen, die Occupy-Leute, die heute von militarisierten Polizeieinheiten geräumt und verprügelt werden, zu integrieren.

Räumungen von besetzten Lagern hin oder her - am heutigen Donnerstag ist »International Day of Action«. Er markiert das zweimonatige Bestehen von OWS sowie den Jahrestag des griechischen Studentenaufstands gegen die Junta 1973. Das Datum ist in der neuen US-Linken durchaus bekannt. Geplant sind in New York ab 7 Uhr morgens ein »Shut Down Wall Street«, das Dichtmachen des Hochfinanzviertels mittels Masse. Am Nachmittag sollen von 16 U-Bahn-Stationen aus im weltweit größten Verkehrsnetz »Volksaufklärungen« stattfinden. Nach Feierabend um 17 Uhr stoßen Gewerkschafter gegenüber dem Bürgermeisteramt dazu, um Gelder für Jobs und Infrastruktur zu fordern. Später soll es einen gemeinsamen Marsch auf die Brooklyn Bridge geben.

* Aus: neues deutschland, 17. November 2011


New York: Camp geräumt

Polizeieinsatz gegen Wall-Street-Protestler **

Der New Yorker Zuccotti Park gilt als der Zentrum der weltweiten Occupy-Bewegung. Die Wall-Street-Protestler campieren hier seit rund zwei Monaten. Nun hat die Polizei das Lager geräumt. Doch die Demonstranten organisieren sich schon wieder.

In der Nacht zu Dienstag rückten Polizisten in Kampfmontur an und umstellten den New Yorker Zuccotti Park, in dem seit fast zwei Monaten die Menschen in Zelten ausharren und ihre Aktionen gegen die Macht der Banken und soziale Ungerechtigkeiten organisieren. Die Protestler wurden mit Handzetteln und Megafonen aufgefordert, das Gelände zu verlassen. Wer blieb, wurde von Polizisten in Handschellen abgeführt. Bis zum Morgen war der Park geräumt, und Putzkolonnen rückten an. Auch in Zürich wurde nach einmonatiger Duldung ein Zeltlager geräumt.

»Wessen Park? Unser Park!« skandierten in New York die geschätzt 200 Menschen auf dem Gelände im Finanzbezirk, als die Polizeiaktion gegen 1 Uhr nachts begann. Viele Protestler verließen den Park unter dem Eindruck der Polizeimacht. Einige Dutzend harrten weiter aus, ketteten sich teilweise an, um die Räumung zu verhindern. Manche trugen Atemschutzmasken, weil sie den Einsatz von Tränengas fürchteten. Was später genau passierte, ist unklar. Die Fernsehteams, die mit ihren Übertragungswagen seit Wochen am Park stehen, wurden von der Polizei abgedrängt.

»Ich habe gesehen, wie die Polizei Leute geschlagen hat«, sagte ein Mann in die Fernsehkameras. Bürgermeister Michael Bloomberg erklärte auf einer Pressekonferenz am Morgen (Ortszeit): »Es gibt keine ernsthaften Verletzungen, von denen wir wüssten.« Die Polizei sei professionell vorgegangen. Nach Bloombergs Worten gab es annähernd 200 Festnahmen im Park und den umliegenden Straßen, in die Protestler geflüchtet waren.

New Yorks Polizeichef Raymond Kelly persönlich überwachte die Räumung. »Es waren mehrere Hundert Polizisten im Einsatz«, sagte er auf der Pressekonferenz. Bloomberg begründete die Räumung mit Sicherheitsbedenken: »Meine Sorgen haben zugenommen - wie die des Parkbesitzers Brookfield Properties -, dass die Besetzung eine Gesundheits- und Feuergefahr für die Protestler selbst und für die umliegende Nachbarschaft darstellt.« Schon einmal hatte Bloomberg einen Polizeieinsatz angeordnet, aber dann einen Rückzieher gemacht.

Über soziale Netzwerke wie Facebook begannen die Demonstranten gleich wieder, sich zu organisieren. Am Morgen zogen sie in großen Gruppen durch Downtown Manhattan. Ihr Motto nun: »Erobert die Wall Street zurück.« Für Donnerstag haben die Demonstranten einen Straßenkarneval direkt an der Finanzmeile angekündigt.

** Aus: neues deutschland, 16. November 2011


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