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Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?

In den Umfragen liegt Obama vorn – seine Anhänger bangen dennoch

Von Max Böhnel, New York *

Die einzige Entspannung, die sich die 36-jährige New Yorkerin Jennifer Fireman in den letzten beiden Wochen leistete, war Halloween am vergangenen Freitag. Mit Maske, Minirock, Maschinenpistole und Bibel ausgestattet, zog sie – verkleidet als republikanische Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin – bis nach Mitternacht durch die Kneipen des Viertels East Village in Manhattan. Die Lacher und zahlreiche Gratisbiere hatte sie damit auf ihrer Seite. »Kunststück«, sagt sie zwei Tage später dazu, »hier sind alle gegen McCain und Palin.« Aber die Sause sei »rein entspannungstechnisch« ein Muss gewesen. Wie es im Rest des Landes aussieht, bereitet ihr »seit Wochen« Bauchschmerzen. Denn ein Sieg Barack Obamas, rechnet die Demokratin vor, sei »nicht eindeutig«. Frühstück vor dem Computer

Wie Hunderttausende andere Obama-Unterstützer ist die Angestellte einer Softwarefirma zum schlaflosen Internet-Junkie geworden. Morgens vor der Arbeit schlürft sie ihren Kaffee nicht, wie sonst, beim gemächlichen Lesen der Kulturseiten der »New York Times«, sondern vor dem Computer – mit dem immergleichen Ziel: die Umfrageergebnisse zu sondieren und herauszufinden, ob »das Ende der Republikanerherrschaft, die dieses Land erstickt, am Dienstag Wirklichkeit werden kann«. Den jüngsten Umfragen vom Wochenende zufolge führt Barack Obama mit 6,4 Prozentpunkten Vorsprung vor McCain – so jedenfalls die Webseite »realclearpolitics«, die täglich den Durchschnitt aller Umfragen ermittelt.

Auf die Medien ist das Rennen zwischen den beiden Kandidaten und ihren »running mates« bestens zugeschnitten. Seit Tagen gibt es keinen Sender mehr, der nicht mit »breaking news« auf sich aufmerksam zu machen und mit den Zuschauerquoten die Werbesponsoren auf Trab zu halten versucht. Die Stichworte lauten neben den neuesten Umfragen und Berechnungen »swing states« (Wechselwählerstaaten) und Wahlbeteiligung. McCains Hoffnungen auf einen Sieg in letzter Minute beruhen darauf, »swing states«, die Obama nicht sicher in der Tasche hat, wieder zurückzugewinnen, etwa Ohio, Florida, Pennsylvania, Missouri, North Carolina, Indiana und Montana. McCain drängte am Sonnabend seine Anhänger in Pennsylvania, »die Umfragen zu ignorieren. Wir geben niemals auf. Wir geben niemals nach.«

Kandidaten reisten sechs Mal um die Erde

Obama verbrachte den Tag in Ohio. Vor 60 000 Kundgebungsteilnehmern nannte er McCain einen »Handlanger« Bushs. McCain bestritt in den vergangenen acht Tagen zwei Dutzend Veranstaltungen in sechs Bundesstaaten, Obama reiste im selben Zeitraum durch zehn Bundesstaaten. Seit Juni hat der Republikaner eine Wahlkampfstrecke zurückgelegt, die ihn 2,8 mal um den Erdball geführt hätte, Obama sogar 3,2 mal.

Mehr als die Auftritte der Kandidaten zählten am Wochenende allerdings die millionenteuren Werbespots, mit denen die Fernsehzuschauer bombardiert wurden. Die Obama-Strategen wagten sich dabei sogar bis in die Republikanerhochburgen Georgia, North Dakota und – ein genüsslicher Affront gegen McCain – in dessen Heimatstaat Arizona vor.

Die McCain-Wahlkämpfer wiederum versuchten sich verbissen zu behaupten und ließen ihre Werbung in »swing states« ausstrahlen. Angeblich gaben sie dafür sogar mehr Geld aus als Obama – zehn Millionen Dollar. Doch ob es nützt? Nur ein einziges Mal konnte der Republikaner innerhalb des vergangenen halben Jahres seinen Rückstand auf Obama wettmachen. Das war Mitte September, nach dem Republikaner-Parteitag, als die US-Amerikaner noch fasziniert von McCains neuer Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin waren und noch nicht viel über sie wussten. Seitdem geht die Schere wieder auseinander.

In sämtlichen 159 USA-weiten Erhebungen der letzten sechs Wochen lag der Demokrat vorne. Nur noch eine böse Überraschung – ein schwerer Anschlag, eine außenpolitische Krise, eine sensationelle Enthüllung, Kandidatenmord – könnte das Pendel in letzter Minute ins Gegenteil ausschlagen lassen.

So weit will die bange Jennifer Fireman gar nicht gehen. Sie verweist auf den Rassismus in erheblichen Teilen der Bevölkerung und auf den »Bradley effect«. Wissenschaftlich ist erwiesen, dass in Umfragen bis zu sieben Prozent der Befragten aus »Scham« lügen. Der afroamerikanische Demokrat Tom Bradley hatte im Rennen um das Gouverneursamt in Kalifornien 1982 in Umfragen deutlich geführt, die Wahl aber verloren. »Haben in den zahlreichen Umfragen ebenso viele Rassisten ihre Abneigung gegen den nichtweißen Barack Obama verheimlicht?«, fragt Fireman.

Zudem war jeder siebte Wähler noch am Wochenende unentschieden. Wie wird sich das von McCains Leuten aufgewärmte Verhältnis Obamas zu seinem ehemaligen Pastor Jeremiah Wright, der heißblütige Reden schwang, auf die Unentschiedenen auswirken? Jennifer Fireman rechnet vor: »Nimm nur die Hälfte der Bradley-Rassisten und weitere zwei Prozent von den Wright-Reden Verunsicherte zusammen, dann hat Obama keinen Vorsprung mehr.«

Ungute Erinnerung an »gestohlene« Wahl

Wie Jennifer Fireman denken vor der Wahl Hunderttausende von Obama-Anhängern. Die Wahlangst liberaler, linksliberaler und linker Amerikaner war der »New York Times« am Sonnabend sogar eine Titelreportage wert.

Eine weitere Befürchtung, die viele der Zeitung zufolge hegen, ist Wahlbetrug. Die »gestohlenen« Wahlen von 2000 und die »Unregelmäßigkeiten« im Wechselwählerstaat Ohio vor vier Jahren sind noch in schlechter Erinnerung. Und ob sich die republikanischen Strategen in ihren Rückstand und den Machtverlust so sang- und klanglos, und dieses Mal ohne Tricksereien und Seilschaften ergeben werden, das bezweifeln nicht wenige. Andererseits gibt es Hinweise darauf, dass die Umfrageergebnisse ebenso schief wie die Befürchtungen grundlos sind, weil sie die Jung- und Erstwähler kaum in Betracht ziehen. Denn zum einen spiegeln die telefonischen Umfragen nur die Aussagen von Besitzern von Festnetzanschlüssen wider – während ein 20-Jähriger üblicherweise nur ein Mobiltelefon hat. Dazu kommen die Popularität Obamas bei jungen US-Amerikanern und die erfolgreiche Registrierung von Erstwählern. Nach Schätzungen haben sich zwei Drittel der »Neuen« als Demokraten eingeschrieben.

Bleiben Überraschungen aus, rechte Tricks wirkungslos und die Prognosen einigermaßen zuverlässig, so wird die Präsidentschafts- und Kongresswahl tatsächlich »historisch« ausgehen. Zum ersten Mal in der Geschichte wäre ein Afroamerikaner USA-Präsident. Er könnte sich außerdem auf eine Demokraten-Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus stützen.

Rekordergebnisse stehen in Sachen Wahlbeteiligung und Ausgaben bereits fest. Politikwissenschaftler erwarten, dass zwei von drei Wahlberechtigten ihre Stimmen abgeben, was die höchste Wahlbeteiligung seit hundert Jahren wäre. Dass Geld und Wahlen in den USA stärker verflochten sind als je zuvor, ist unabhängig vom Wahlausgang auch eine Tatsache.

Die Washingtoner Denkfabrik Center for Responsive Politics hat ermittelt, dass sich das Spendenaufkommen im Vergleich zur letzten Präsidentschaftswahl 2004 verdoppelt hat. Für das Rennen um das Amt im Weißen Haus sowie für die 435 Sitze im Repräsentantenhaus und 35 Senatssitze wurden von allen Beteiligten insgesamt über 5,3 Milliarden Dollar verprasst. Allein Obama sammelte mit Stand Mitte Oktober rund 640 Millionen, McCain 370 Millionen Dollar. Die Summe wird aufgrund der Spendenaufrufe der letzten beiden Wochen die Ein-Milliarden-Grenze weit überschreiten.

Auch Jennifer Fireman hat für Obama gespendet – jeden Monat 25 Dollar. »Anders kannst du hier als Politiker nicht bekannt werden«, gibt sie zu. Die vier Millionen Dollar, die der diesmal als Unabhängiger kandidierende Ralph Nader einnahm, oder die 190 000 Spendendollars der Kandidatin der Grünen, Cynthia McKinney sind da nur »Peanuts«. Entsprechend klein ist die Resonanz bei den Wählern. Nader wird den wenigen Umfragen zufolge, die sich mit ihm befassen, um die zwei Prozent der Stimmen erhalten, McKinney so wenig, dass sie in Erhebungen nicht einmal erwähnt wird.

* Aus: Neues Deutschland, 4. November 2008


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