Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Change" zur Halbzeit

Kongreßwahlen in den USA: Konservative bringen Präsidenten und Demokraten in Bedrängnis. Republikaner-Mehrheit wahrscheinlich

Von Philipp Schläger, New York *

Auf den Tag genau fast zwei Jahre liegt die historische Wahl von US-Präsident Barack Obama zurück. Doch es könnten auch vier oder acht sein. »Ich weiß, gefühlsmäßig liegt unser Sieg eine halbe Ewigkeit zurück. Viele von euch haben ihre Zweifel, wenn sie ›Yes, we can!‹ hören. Vielen von euch ist die Begeisterung abhanden gekommen«, sagte Obama erst kürzlich bei einem Auftritt in der Ohio State University in Columbus. Wenige Tage vor der Kongreßwahl am 2. November drohen die Stammwähler der Partei zu Hause zu bleiben, ganz zu schweigen von Unabhängigen, jungen Wählern und Frauen. Der überwältigende Zuspruch dieser Gruppen hatte Obama 2008 einen Vorsprung von Millionen Stimmen und die Festigung der demokratischen Mehrheit im Kongreß beschert. Nach einer aktuellen Umfrage des Fernsehsenders CBS und der New York Times sind sie es, die den Demokraten seit Monaten in Scharen den Rücken kehren und sich den Republikanern zuwenden. Die Enttäuschung scheint so tiefgreifend, daß knapp zwei Drittel der Befragten sagen, daß sie einem Kandidaten mit geringerer Erfahrung eine Chance geben würden. Fast ein Drittel von ihnen zeigte sich offen dafür, einen Kandidaten mit »extrem erscheinenden Ansichten« und geringer Erfahrung zu wählen – eine Entwicklung, die vor allem Kandidaten der erzkonservativen Tea-Party-Bewegung nützen könnte. Die anhaltende Wirtschaftskrise und die beständig hohe Arbeitslosigkeit lasten auf den demokratischen Amtsinhabern. Andere innenpolitische Themen oder die Außenpolitik spielen dagegen keine Rolle.

Doch ein überwältigender Sieg der Konservativen ist keineswegs sicher. Im Gegensatz zu praktisch jeder anderen Umfrage signalisiert eine aktuelle Befragung des Newsweek-Magazins eine viel positivere Stimmungslage für die Demokraten. Danach würden derzeit eine Mehrheit von 48 Prozent der registrierten Wähler demokratisch und nur 42 Prozent für die Republikaner stimmen. Obamas Popularität ist nach der neuen Umfrage innerhalb eines Monats und nach unzähligen Wahlkampfauftritten um immerhin sechs Prozentpunkte auf 54 Prozent gestiegen. Weniger als eine Woche vor den Halbzeitwahlen haben zudem schon rund zehn Millionen Amerikaner von der Möglichkeit der Frühwahl Gebrauch gemacht. Die Demokratische Partei verwies darauf, daß sie in elf kritischen Bundesstaaten entgegen den Berichten von einem mangelnden Enthusiasmus ihrer Stammwählerschaft vorn liege. Dies treffe etwa auf Nevada zu, dem Bundesstaat, in dem der demokratische Mehrheitsführer im Senat, Harry Reid, gegen eine radikale Tea-Party-Kandidatin um jede Stimme kämpfen muß. Auch in Kalifornien, wo Wähler zudem über die Legalisierung von Marihuana abstimmen, und mehreren anderen Bundesstaaten reihten sich mehr Demokraten vor den Wahllokalen.

Die Republikaner verwiesen dagegen auf wichtige Staaten wie Florida und Pennsylvania, in denen sie führten. Eine Übernahme des Senats, in dem 37 Sitze zur Wahl stehen, erscheint aufgrund mehrerer radikaler Tea-Party-Kandidaten nicht mehr sicher. Dort müßten die Republikaner zehn Sitze hinzugewinnen. Im Repräsentantenhaus, der zweiten Kammer im Kongreß, stehen alle 435 Sitze zur Wahl, und der Zugewinn von 39 Sitzen zur Eroberung einer republikanischen Mehrheit scheint wahrscheinlich.

Nach einer neuen Studie des parteiunabhängigen Center for Responsive Politics werden die Ausgaben für den Wahlkampf mit 3,7 bis vier Milliarden Dollar einen neuen Rekordstand erreichen. Die Demokratische Partei und ihre Kandidaten liegen mit rund 1,64 Milliarden Dollar leicht vor den Republikanern (1,59 Milliarden).

Zeitgleich mit der Halbzeitwahl zum US-Kongreß finden auch 37 Gouverneurswahlen und 46 Parlamentswahlen statt, die die politische Landkarte der USA tiefgreifend verändern könnten. Eine konservative Mehrheit in den Bundesstaaten wäre demnächst damit beschäftigt, die alle zehn Jahre laufende Neuzuschneidung von Wahlbezirken zu ihren Gunsten zu gestalten – und damit die Wahlen für das nächste Jahrzehnt wesentlich zu beeinflussen.

* Aus: junge Welt, 30. Oktober 2010


Ein Lehrstück

USA: Milliarden für Wahlmanipulation

Von Rainer Rupp **


Republikaner und Demokraten haben für die am 2. November stattfindenden US-Zwischenwahlen bis zur vergangenen Woche 3,7 Milliarden Dollar ausgegeben, am Ende werden es über vier Milliarden sein. Diese Summe stellt zwar nicht die Rekordausgaben des letzten Präsidentschaftswahlkampfes in den Schatten, aber sie unterstreicht, welche Rolle die großen Geldgeber bei Abstimmungen im vermeintlichen Musterland der Demokratie spielen. Angeblich wetteifern die Kandidaten für 37 Senatorenposten und für alle 435 Plätze im Repräsentantenhaus um die Gunst der Wähler. Tatsächlich aber haben jene, die die größten Spenden leisten, das Votum längst entschieden. In den USA gilt noch mehr als hierzulande, daß finanzielle Mittel aus Konzernzentralen Politikern zum Sieg verhelfen, damit die anschließend der Bevölkerung »dienen« können.

»Die beste Demokratie, die man für Geld kaufen kann«, lautete 2002 der Titel eines Buches des britischen Journalisten Greg Palast. Der Autor nahm sich die US-Präsidentschaftswahl des Jahres 2000 vor und wies die Verfilzung des globalen Kapitals mit der US-Politik detailliert nach, genauer: Wie die großen Gesellschaften aus Industrie und Finanzwesen sich den passenden US-Präsidenten mitsamt seiner Regierungsmannschaft kaufen. Sie sichern ab, daß die globale Gewinnmaximierung auf Kosten von Lohnabhängigen und Umwelt unangetastet bleibt. Notfalls wird militärisch nachgeholfen, wenn es darum geht, »amerikanische Interessen zu verteidigen«. So gelang es in jenem Jahr insbesondere den US-Finanz-, Öl- und Rüstungskonzernen, mit George W. Bush einen der wohl dümmsten US-Präsidenten aller Zeiten mitsamt einem neokonservativen Trupp von Kriegsverbrechern ans Steuer der hochgerüsteten und strukturell aggressiven Supermacht zu hieven.

Die große Masse der amerikanischen Bevölkerung ist unpolitisch, historisch kaum gebildet und hat vom Klassenkampf nie etwas gehört. Potentielle Wähler können nur durch ansprechende Werbespots in Fernsehen oder Rundfunk motiviert werden, ihre Stimme abzugeben. Wahlkampf ist aber teuer. Wer mehr Zuwendungen als seine Mitbewerber erhält, kann seine Chancen potenzieren, gewählt zu werden. Die Wirtschaftszentralen entscheiden, wer die größten Summen erhält. Die richtigen Politiker anzufüttern und zu kaufen, ist allerdings eine Kunst. Dafür unterhält allein die US-Finanzindustrie in Washington über 3000 hochbezahlte Einflußagenten. Hinzu kommt: Bei den diesjährigen Zwischenwahlen ist viel zu gewinnen. Mit einem Sieg der Republikaner könnten Obamas Krankenversicherung für alle US-Bürger und seine Gesetze zur Bankenkontrolle rückgängig gemacht werden. Daher setzen diesmal vor allem Wall Street, Versicherungs-, Pharma- und Krankenhausbranche hohe Beträge auf die Republikaner. Ein Lehrstück bürgerlicher Demokratie.

** Aus: junge Welt, 30. Oktober 2010

Mehr zu den US-Wahlen

Großdemo des US-Satirikers Stewart in Washington

200.000 wollen Vernunft wiederherstellen

Ihre Feinde sind Intoleranz und Polemik - ihr Held ist der Satiriker Jon Stewart. Der hatte geladen und 200.000 Menschen kamen kurz vor den Wahlen nach Washington. Sie wollten trotz heftigem Wahlkampf zeigen, dass US-Bürger mehr eint als trennt - und den Konservativen contra geben.

"Seid ihr bereit, die Vernunft wiederherzustellen?", ruft der Satiriker Jon Stewart von der Bühne. Perfekter geht es kaum. Das strahlend weiße Capitol im Hintergrund, der Himmel knallblau, die Temperaturen angenehm und das Publikum beeindruckend groß. "Ich sehe über zehn Millionen Menschen", sagt Stewart. So viele sind es nun doch nicht - aber schätzungsweise 200.000.

Die Show auf der Bühne dauert drei Stunden. Jon Stewart und sein Kollege Stephen Colbert sind amüsant wie in ihren Satire-Sendungen im Fernsehen. Sie unterhalten ihr Publikum aufs Beste. Zum Schluss jedoch wird Stewart ernst. Sicher, die Zeiten seien schwierig, aber es gäbe keinen Grund für Endzeitstimmung, sagt der Satiriker. Er kritisiert vor allem die Medien. Sie trügen mit ihrer schrillen Berichterstattung zur aufgeheizten Stimmung in den USA bei. "Wenn wir alles lauter machen, hören wir nichts", so Stewart.

Eine Wahlempfehlung gibt der linksliberale Comedian nicht. Er wollte eine zivilisierte Zusammenkunft auf der Mall, wollte zeigen, dass die USA mehr zu bieten haben als die lauten Anhänger der Tea Party, er wollte den Leuten einen schönen Nachmittag bereiten und das hat er geschafft. "Eure Anwesenheit ist das, was ich wollte", ruft er den Menschen zu.

Quelle: tagesschau.de, 31.10.2010


Präsident im TV: Werbung auf allen Kanälen ***

Angesichts der drohenden Niederlage appelliert US-Präsident Barack Obama wenige Tage vor der Kongreßwahl an seine Anhängerschaft, zur Wahl zu gehen und Geduld zu zeigen. »Als wir während des Wahlkampfs ›Wandel, an den Sie glauben können‹ (›Change you can believe in‹) versprochen haben, war das kein Wandel, an den Sie glauben können, in 18 Monaten«, sagte Obama in dieser Woche in der berühmten Comedy-Sendung »Daily Show«. Obama war der erste amtierende US-Präsident in der Satiresendung und wollte mit seinem Auftritt vor allem junge Wähler erreichen. Doch der Besuch bei dem scharfzüngigen Comedian Jon Stewart verlief kaum nach dem Geschmack des Weißen Hauses. Stewart erinnerte den stets ernst wirkenden Obama an seine eigenen Worte als Kandidat, nach denen »das größte Risiko« darin bestehe, »die gleiche Politik mit den gleichen Leuten zu versuchen und ein anderes Ergebnis zu erwarten«. Was habe er sich dabei gedacht, als er Leute wie den Washington-Insider Lawrence Summers ins Weiße Haus holte, fragte Stewart unter höhnischem Gelächter des Publikums.

Die Einschätzung, er sei mit dem »Wagnis Hoffnung« angetreten und habe zaghaft regiert, wies Obama zurück. Als Beispiel nannte er die Gesundheitsreform, die sich mit den wichtigsten Gesetzen in der US-Geschichte messen lassen könne. »Man vergißt das, weil man die Tendenz hat, daran zu denken, daß nicht 100 Prozent von dem, was man wollte, erreicht wurden, sondern nur 90 Prozent«.

In Reaktion auf die Tea-Party-Bewegung hat Stewart für diesen Samstag zu einer Demonstration aller, »die keine Zeit zum Demonstrieren haben«, unter dem Titel »Rally to Restore Sanity« (»Demonstration zur Wiederherstellung der Vernunft«) in Washington aufgerufen. (ps)

*** Aus: junge Welt, 30. Oktober 2010


Vernünftig

Jon Stewart / Der US-Satiriker organisiert eine Demo der Vernunft

Von Oliver Händler ****


Dass Jon Stewart 2009 zum vertrauenswürdigsten Nachrichtenmenschen der USA gewählt wurde, ist ihm Grund genug für eine Demonstration. Er ist schließlich Satiriker, kein Journalist. Täglich findet er neue Gründe für seine Großdemo »zur Wiederherstellung der Vernunft«, zu der am heutigen Samstag in Washington über 200 000 Menschen erwartet werden. Stewart hat Macht, auch wenn der TV-Moderator es nicht zugibt. Nutzen will er sie allemal.

Der 1962 in New York in eine jüdische Lehrerfamilie geborene Stewart fühlt sich – typisch Stand-up-Comedian – unwohl, wenn das Publikum nicht lacht. In den 80ern arbeitete er als Busfahrer, Lagerarbeiter und Barmann und trat nachts in Comedyschuppen auf. Eine gute Schule, denn die Zuhörer fressen dem Kultkomiker mittlerweile aus der Hand. Kein Unwohlsein mehr. Fast zwei Millionen Menschen schauen täglich seine Mischung aus satirischer Nachrichtensendung und Talkshow. 13 Emmys hat er bekommen, zweimal die Oscars moderiert. Junge, gebildete, meist linke Wähler suchen in Stewarts »Daily Show« ihre politischen Informationen, nicht in den Nachrichten. Er verzichtet auf den Zeigefinger, die Parteilichkeit und die Angst, unangenehme Fragen zu stellen. Jene Dinge, die bei den »echten« US-Journalisten zunehmend zu beobachten sind.

Sein wichtigstes Mittel bleibt der Witz. Der Lacher verhindert, dass aus Lehre Belehrung wird. Letztere überlässt Stewart seinem Lieblingsfeind, dem Fernsehsender »Fox News«. Kaum ein Tag, an dem die »Daily Show« nicht zeigt, wie Fox im Sinne der Konservativen lügt, betrügt und manipuliert. »Die Agenda wird durchgezogen. Wenn die Nachrichten nicht mit ihr übereinstimmen, werden eben die Nachrichten geändert. Aber nie die Agenda!«, sagt Stewart über Fox nicht ohne Bewunderung.

Am Mittwoch (27. Okt.) war Barack Obama im Studio. Beim Satiriker! Vorwürfe, Stewart würde sich kurz vor Wahlen instrumentalisieren lassen, scheut er nicht. Niemand war so häufig sein Gast wie John McCain – bis er Präsidentschaftskandidat wurde und die reißerische Übertreibungsrhetorik übernahm. Stewart entlarvte seinen »Lieblingsrepublikaner«, und McCain wollte nicht mehr kommen. Bei Stewart müsste er ja wieder vernünftig sein.

**** Aus: Neues Deutschland, 30. Oktober 2010




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