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Terrorist oder Friedensengel

Anklage sieht Wikileaks als Umweg zu Al Qaida / Bradley Manning wollte aufklären

Von Max Böhnel, Boston *

Vor dem Militärgericht von Fort Meade unweit Washingtons läuft seit Wochenbeginn der Prozess gegen den Obergefreiten Bradley Manning. Er hatte im Februar ein Teilgeständnis zum größten Datenleck der USA-Geschichte abgelegt. Die Anklage will, dass Manning als »Verräter« für immer hinter Gittern verschwindet. Für seine Verteidiger und Unterstützer ist er ein Held, der die Wahrheit über den Krieg an die Öffentlichkeit brachte.

Bradley Manning habe Osama bin Laden unterstützt. Auf diese Strategie legen es die Ankläger in Fort Meade an, folgt man den Protokollen der Anhörungen vor dem Prozess. Der 25-Jährige ist in 22 Punkten angeklagt. Der am schwersten wiegende Vorwurf besagt, Manning habe laut Paragraf 104 der Militärjustiz den »Feind unterstützt«. Die Anklage versucht in dem voraussichtlich drei Monate dauernden Verfahren nachzuweisen, dass der Angeklagte wissentlich Geheiminformationen an Al Qaida weitergab – auf dem Umweg über Wikileaks.

An die Enthüllungswebseite hatte der Nachrichtenauswerter Manning aus Irak eine gute Viertelmillion Dokumente geschickt. Darunter befanden sich nicht nur peinliche Depeschen des USA-Außenministeriums, sondern auch Videoaufnahmen aus Irak und Afghanistan, die mörderische Jagden von USA-Soldaten auf Zivilisten zeigen. Das bekannteste ist das Video »Collateral Murder«. Es zeigt aus der Sicht einer USA-Einheit von einem Apache-Hubschrauber aus, wie die johlende Crew im Juli 2007 Zivilisten und zwei Journalisten ins Visier nimmt und umbringt.

Die Anklage versucht nachzuweisen, dass Osama bin Laden aus seinem pakistanischen Versteck heraus einen Vertrauten per Brief aufgefordert hatte, die Wikileaks-Dokumente herunterzuladen – und sie erhielt. Dafür will das Gericht einen anonym bleibenden Soldaten hören, der den Computer bin Ladens im Mai sicherstellte. Gegen den Einspruch der Verteidigung hatte Militärrichterin Denise Lind bei Voranhörungen die angebliche Verbindung Manning-Al Qaida als prozessrelevant zugelassen.

Er habe niemandem schaden wollen, sondern geglaubt, eine Auseinandersetzung über »unser Militär und unsere Außenpolitik« auslösen zu können, sagte Manning im Februar bei einer Anhörung. Er bekannte sich in zehn der 22 Anklagepunkte schuldig, einer davon betrifft die Weitergabe von Geheimdokumenten. Zwischen November 2009 und Mai 2010 hatte Manning, 60 Kilometer von Bagdad entfernt stationiert, die Dateien heruntergeladen und an Wikileaks weitergegeben.

Er hatte gehofft, Militärrichterin Denise Lind würde für dieses Schuldeingeständnis den Vorwurf der Feindunterstützung fallen lassen. Doch vergeblich: Alle 22 Anklagepunkte sollen bis September verhandelt werden und in ein Urteil münden. Die Regierung besteht laut eigener Aussage zwar nicht auf der Todesstrafe, doch sieht Manning im Falle des Schuldspruchs mindestens 20 Jahren Haft entgegen.

Aus den Voranhörungen lässt sich schließen, dass Mannings Hauptverteidiger David Coombs zwei Strategien verfolgen wird. Eine zielt auf die Identitätskrise des damals 22-Jährigen ab. Der homosexuelle Manning hatte mehrmals den Wunsch geäußert, zur Frau zu werden. Darüber hinaus hatte ein Psychologe Mannings Militärtauglichkeit in Frage gestellt, weil er für sich und andere eine Gefährdung darstellen könne. Trotz der Zweifel genoss Manning Zugang zu geheimen Daten – ein Widerspruch, auf den Verteidiger Coombs hinweisen wird.

Zum anderen wird die Verteidigung den aufklärerischen Willen Bradley Mannings nachzuweisen versuchen. Schon in E-Mails mit dem FBI-Informanten, der ihn an die Behörden verriet, hatte der junge Mann die Weitergabe der Dokumente politisch und ethisch begründet. In einer E-Mail hieß es beispielsweise, er wolle »weltweit politische Debatten und Reformen auslösen«.

Die Anklage hat die gesamte Macht der Militärführung und der Washingtoner Regierung hinter sich. Präsident Barack Obama ließ schon kurz nach der Verhaftung Mannings und vor der Anklage keinen Zweifel daran, dass er den Gefreiten für einen Gesetzesbrecher hält. Dem gegenüber steht das »Bradley Manning Support Network«, das mühsam Geld für die Verteidigung sammelt.

Aus reinem Eigeninteresse verfolgen die großen Massenmedien das Verfahren aufmerksam. Denn es reiht sich ein in die strafrechtliche Verfolgung und das Abhören von Journalisten und Medien durch die Obama-Regierung.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 5. Juni 2013

Wikileaks

  • Wikileaks wurde 2006 als Enthüllungsplattform von Aktivisten aus Europa, Australien und den USA gegründet. Ihr Gesicht für die Öffentlichkeit wurde der Australier Julian Assange.
  • Wikileaks enthüllte Dokumente zu Korruption in Kenia, bei Scientology, in Schweizer Privatbanken und dem Lkw-Maut-Betreiber Toll Collect.
  • Weltweit bekannt wurde die Plattform mit Geheimdokumenten der USA-Streitkräfte zum Irak-Krieg. Im Sommer 2010 wurden 92 000 USA-Militärdokumente über den Afghanistan-Krieg sowie fast 400 000 Militärakten zu Irak vorgelegt.
  • Größtes Aufsehen erregte die Veröffentlicht von 250 000 vertraulichen Dokumenten aus USA-Botschaften in aller Welt.
  • Der US-Soldat Bradley Manning wurde im Mai 2010 in Irak festgenommen und zwei Monate in Kuwait festgehalten. Danach kam er für neun Monate in ein Militärgefängnis in Quantico (Virginia).
  • Auf die Anklagepunkte gegen Manning stehen insgesamt mehr als 150 Jahre Haft.
  • Im Dezember 2010 stellte sich Wikileaks-Gründer Julian Assange, gegen den ein EU-weiter Haftbefehl wegen Sexualdelikten in Schweden besteht, der Polizei in London. Er wurde in einen Hausarrest entlassen und sitzt seit Juni 2012 in der diplomatischen Vertretung Ecuadors in London fest.
  • Die deutsche Wau-Holland-Stiftung (WHS) kürzte wegen sinkender Spenden ihre Zuwendungen an Wikileaks. Nach insgesamt 1,5 Millionen Euro in den Jahren 2010 bis 2012 stellt die Stiftung aus dem Umfeld des Chaos Computer Clubs 2013 nur noch rund 8000 Euro zum Betrieb der Server bereit.


Hoffnung auf freies Geleit

Julian Assange sitzt seit einem Jahr in London fest **

Wikileaks-Gründer Julian Assange kann neue Hoffnung schöpfen. Vielleicht eröffnet sich dem Australier doch eine Möglichkeit, nach rund einem Jahr sein Exil in der Botschaft Ecuadors in der englischen Hauptstadt zu verlassen. Der britische Außenminister William Hague erwäge, so Medienberichte, ein Treffen mit seinem ecuadorianischen Amtskollegen Ricardo Patiño, der in diesem Monat London besuchen wolle.

Es geht um freies Geleit. Politisches Asyl hat das südamerikanische Land dem 41-Jährigen gewährt, doch bekommt es seinen Schützling aus der Vertretung faktisch nicht hinaus. Setzt er einen Schritt vor die Tür, drohen ihm Verhaftung und Auslieferung an Schweden, wo er der Vergewaltigung beschuldigt ist. Wäre er erst einmal dort, müsste er die Auslieferung an die USA befürchten. Dort soll ihm wegen Geheimnisverrates ebenso der Prozess gemacht werden wie zur Stunde dem US-Obergefreiten Bradley Manning.

Wikileaks wehrt sich derweil gegen den Vorwurf unlauterer Motive von Manning und Assange. Nach der Premiere des Films »We Steal Secrets: The Story of Wikileaks« des Oscar-Preisträgers Alex Gibney (»Taxi zur Hölle«) vergangene Woche wurde kritisiert, dass die Manning vorgeworfene Weitergabe geheimer Informationen »als Charakterschwäche statt als Triumph des Gewissens dargestellt« werde.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 5. Juni 2013


"Ein wenig naiv"

Prozeßbeginn gegen Bradley Manning. Verteidigung: Ihr Mandant sei erschüttert darüber gewesen, wie wenig Menschenleben für die USA zählen

Von Jürgen Heiser ***


Über drei Jahre nach der Verhaftung des US-Nachrichtenanalysten Bradley Manning im Irak begann am Montag der Prozeß vor dem US-Militärgericht in Fort Meade nahe der Hauptstadt Washington D.C. Der 25jährige Obergefreite könnte wegen des Vorwurfs, sich als »Whistleblower« der Enthüllungsplattform Wikileaks der »Unterstützung des Feindes« schuldig gemacht zu haben, den Rest seines Lebens in einem Militärgefängnis verbringen.

In einem viel zu kleinen Gerichtssaal, für den fünfmal so viele Akkreditierungsanträge der Medien gestellt wurden als Presseplätze vorhanden sind, zeichneten die Ankläger des Pentagon eingangs ein Bild des Angeklagten als Landesverräter. Durch die Offenlegung der Afghanistan- und Irak-Kriegsprotokolle habe er Al-Qaida unterstützt und damit den USA absichtlich schweren Schaden zugefügt. An die Gerichtsvorsitzende Oberst Denise Lind gerichtet führte Staatsanwalt Hauptmann Joe Morrow aus, dies sei der Fall »eines Soldaten, der systematisch Hunderttausende Dokumente aus geheimen Datenarchiven sammelte, sie ins Internet stellte und so dem Feind in die Hände spielte«. Dabei habe Manning mit dem Wikileaks-Gründer Julian Assange »konspiriert« und von Wikileaks »Anweisungen erhalten«. Die Beweisaufnahme werde zeigen, daß er damit »bewußt den Feind unterstützte«. Zum Erstaunen der anwesenden kritischen Öffentlichkeit entwarfen die beiden Anklagevertreter die Schritte ihrer Beweisführung mittels einer Diashow.

Hauptverteidiger David Coombs entgegnete den Anklägern in seinem Eröffnungsplädoyer, sein Mandant habe keineswegs seinem Land schaden wollen. Vielmehr sei er seit 2009 bei seiner Arbeit zunehmend mit Dokumenten über die Opfer unter der irakischen Zivilbevölkerung konfrontiert worden und habe »innerlich mit sich gekämpft«. »Untypisch für Ihre Soldaten«, so Coombs zu den Anklägern, habe auf Mannings »Erkennungsmarke sinnbildlich ›Humanismus‹ gestanden«. Er sei bestrebt gewesen, seiner Einheit zu helfen, daß jeder sicher nach Hause zurückkehrt, aber »er wollte auch, daß die Einheimischen jeden Tag sicher nach Hause zurückkehren können«.

Als sein Mandant die Videoaufnahmen über den Einsatz einer US-Hubschrauberstaffel weitergab, dem Zivilisten und Reporter zum Opfer gefallen waren, habe er offenlegen wollen, »daß der Irak-Krieg in Wahrheit anders geführt wurde, als berichtet wird«, so Coombs über das Wikileaks-Video »Kollateraler Mord«. Sein Mandant sei erschüttert gewesen darüber, »welchen Wert Menschenleben für uns haben«. Er habe die amerikanische Öffentlichkeit aufrütteln wollen, »damit sich die Dinge ändern«. Aus demselben Grund habe er diplomatische Depeschen des US-Außenamts, die Gefangenenakten der in Guantánamo Inhaftierten und weitere Materialien weitergegeben. Coombs schloß seine Ausführungen über das Handeln seines Mandanten, für das dieser schon im Februar Verantwortung übernommen hatte, mit den Worten: »Er war 22 Jahre alt. Er war jung.« Vielleicht sei er »ein wenig naiv gewesen« zu denken, diese Informationen könnten wirklich etwas verändern, »aber er tat es in guter Absicht«. Das Verfahren wird mit der Vernehmung der ersten Zeugen der Anklage fortgesetzt.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 5. Juni 2013


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