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"Es tut sich was" in der USA-Friedensbewegung

Zehntausende gehen gegen Kriegspläne des Weißen Hauses auf die Straße

Von Max Böhnel, New York

Vivian Stromberg hat nie geschwiegen, wenn die USA-Regierung zum Krieg blies. Andere waren nach dem 11. September 2001 wie gelähmt. Nun scheint es, als sei die US-amerikanische Friedensbewegung neu erwacht. Es tut sich was«, sagt Vivian Stromberg, als sie ihr Büro der Frauen- und Kinderhilfsorganisation »Madre« nach einem anstrengenden Tag verlässt. »Immerhin, es tut sich etwas«, wiederholt die 59-Jährige, hält inne und erklärt: »Der offene Krieg ist noch nicht im Gange, und gemessen daran, dass wir auf die Aggressionskriege Washingtons immer erst dann reagiert haben, wenn die Bomben bereits fielen, ist dies ein Fortschritt.«

Die ehemalige Musiklehrerin Vivian Stromberg marschierte bereits in den 60er Jahren auf Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg mit, sie beteiligte sich an linken und feministischen Bewegungen und gründete 1983 zusammen mit anderen Frauen, schockiert von der USA-Politik in Nikaragua, die Organisation »Madre« (www.madre.org). Die Gruppierung hat USA-weit inzwischen mehr als 20000 Mitglieder, und dass sie im Gegensatz zu anderen Lateinamerika-Solidaritätsgruppen die Repression der Reagan-Ära und des FBI überlebt hat, ist der Tatsache zuzuschreiben, dass »Madre« von Anfang an nicht nur die Hilfe von Rechtsanwälten in Anspruch nahm, sondern auch auf einer peniblen Rechnungsführung beharrte.

Mittlerweile unterstützt »Madre« Menschenrechtsorganisationen über Lateinamerika hinaus. An ihrer grundsätzlichen Ablehnung der Kriege sämtlicher USA-Regierungen macht Vivian Stromberg keine Abstriche. Der geplante Irakkrieg ist in aller Munde. Laut Umfragen verfolgen fast 90 Prozent der USA-Bevölkerung die Nachrichten über den »Krieg gegen den Terrorismus« täglich mit. Und in der Rest-Linken, aber nicht nur dort, bemühen sich alte und neue Aktivisten – auch Menschen, die nach dem 11. September schockiert waren und zum Afghanistankrieg schwiegen oder ihm sogar zustimmten – um Hintergrundinformationen. Nicht wenige davon haben auch ihre Bereitschaft bekundet, wieder auf die Straßen zu gehen.

»Immerhin, es tut sich was«, sagt Vivian Stromberg aber auch desillusioniert. Denn ihr sind, wie sie sagt, die Auseinandersetzungen der »Kein Blut für Öl«-Demonstrationen Anfang der 90er Jahre noch in unangenehmer Erinnerung. Die Massendemonstrationen in den USA waren damals zwar, wie Stromberg erläutert, am Anfang von breiten Bündnissen gekennzeichnet. Doch im Verlauf des Krieges traten die tiefen politischen Unterschiede innerhalb der Linken an die Oberfläche und führten zur Spaltung der Bewegung: an der Frage nämlich, wie das Regime Saddam Husseins einzuschätzen sei. Aus »No blood for oil« war bei beinharten Ultralinken, die die Antikriegsbündnisse zu dominieren versuchten, die Losung »Verteidigt Saddam Hussein gegen den USA-Imperialismus« geworden – und da wollten viele nicht mehr mitgehen. Der Stand der Dinge heute: Zahlreiche Grüppchen politisch Unorganisierter haben sich in über 250 Städten und kleinen Ortschaften in den USA formiert. Politische und religiöse Pazifisten, College- und Universitätsinitiativen, Organisationen und sogar vereinzelt Mainstream-Politiker haben bekundet, gegen einen Irakkrieg zu sein. Auf nationaler Ebene existieren inzwischen zwei Bündnisse, die bereits jetzt Zehntausende zu mobilisieren in der Lage sind: »Not in our name« (Nicht in unserem Namen) und »ANSWER« (Antwort). Am 26. Oktober werden auf den ersten nationalen Großdemonstrationen in Washington und San Francisco die ersten Früchte der Organisationsarbeit zu sehen sein. Erwartet werden bis zu 100000 Menschen.

Veranstaltungen und Demonstrationen finden seit Wochen statt, bisher sehr zum Unwillen des Friedensspektrums aber eingeschränkt durch eine Medienblockade. Zwar berichten örtliche Medien – das lokale Fernsehen meist ausgenommen – von einer Mahnwache hier und dort. Doch in den national verbreiteten Zeitungen wie »New York Times« und »USA Today« existiert die neu erwachte Friedensbewegung noch nicht, geschweige denn in den großen Fernsehnetzen. Doch dank Internet und dem werbefreien linken Radionetzwerk »Pacifica«, das immerhin in einigen Ballungszentren zu empfangen ist, kann man einiges erfahren:
Mehr als 300 »peace events« gab es im September, darunter an Orten im Süden, Norden und Mittleren Westen, von denen man nie zuvor gehört hat. 880 Menschen, demonstrierten gegen einen Auftritt des Bush-Sprechers Ari Fleischer in Middlebury im Bundesstaat Vermont; 44 wurden in San Francisco festgenommen, als Demonstranten ein Bundesgebäude als Protest gegen die Kriegsresolution des Kongresses blockierten; 300 versuchten eine Bush-Rede in Knoxville im Bundesstaat Tennessee zu unterbrechen; 200 Demonstranten an der Universität in Miami, 85 in Englewood (New Jersey), 100 bei einer Spontandemo durch Downtown Indianapolis, 60 marschierten über den Gemüsemarkt von Traverse City (Michigan) und sagen »Give peace a chance«. In Cincinnati demonstrierten am 7. Oktober laut örtlicher Presse »Tausende«, als Präsident Bush sein Kriegsgeheul erneuerte. Das »Not in our name«-Netzwerk (www.notinourname.net), das von Angehörigen von Opfern des 11. September gegründet worden war, aus Opposition gegen den Afghanistankrieg eine pazifistische Gruppe namens »Peaceful tomorrows« ins Leben gerufen hatte und daraus ein loses nationales Netzwerk machte, berichtete, dass am 6. Oktober in 28 US-amerikanischen Städten rund 85000 Menschen gegen einen Irakkrieg demonstrierten. Allein im New Yorker Central Park versammelten sich 25000 Kriegsgegner. Auch die Abstimmung im USA-Kongress mobilisierte Tausende. Am 3. Oktober wurden 16 Demonstranten in Philadelphia beim Versuch festgenommen, das Büro des republikanischen Senators Rick Santorum zu besetzen. Ähnliche Versuche erfolgten bei Dutzenden anderer Politiker. Ende September waren 3000 Menschen vor das Haus des Vizepräsidenten Dick Cheney in Washington marschiert.

Erwähnung finden in den nach spektakulären Erklärungen gierenden Massenmedien bislang freilich nur die Stimmen von Prominenten. Der Sänger Harry Belafonte machte vor kurzem von sich reden, als er Außenminister Colin Powell in einer Talkshow mit scharfen Worten geißelte, sich innerhalb seiner Regierung wie ein unterwürfiger Sklave zu verhalten. Und mehrere Hollywood-Größen, Barbara Streisand etwa und Martin Sheen, machten deutlich, dass sie von einem Angriff auf Irak nichts halten.

Auch Vivian Stromberg, die Leiterin von »Madre«, überlegt zusammen mit den sechs fest angestellten Frauen ihrer Organisation, wie eine dauerhafte Struktur geschaffen werden könnte, mit der sich die Kriegspläne des Weißen Hauses durchkreuzen ließen. Nach Washington am 26. Oktober wird sie nicht fahren, wie sie sagt, die Demonstration sei ihr zu sehr von »ANSWER« dominiert, hinter der sich die straff geführte, marxistisch-leninistische Workers World Party verbirgt, die seit vielen Jahren Bündnispolitik mit dem Anwerben von Kadern verwechselt. Trotzdem, sagt Stromberg, wünsche sie der Demonstration das Beste und eine Teilnehmerschar von Zehntausenden.

Stromberg selbst hatte sich damals – mitten im USA-Krieg gegen Irak – von den Zerwürfnissen innerhalb der Antikriegsbewegung angewidert, zusammen mit einigen erfahrenen Kämpinnen selbst auf den Weg in den Nahen Osten gemacht. Im jordanischen Amman hatte »Madre« Lastwagen gemietet und darauf tonnenweise Spielsachen, Medizin und Nahrung geladen. Stromberg und ihre Mitstreiterinnen kamen bis Bagdad durch – wo sie die mit USA-Dollars erworbenen Güter an die Not leidende Bevölkerung verteilten.

Aus: Neues Deutschland, 24. Oktober 2002





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