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Der Traum vom schottischen Alleingang

Die Idee der Unabhängigkeit ist selten so real und so skeptisch diskutiert worden wie heute

Von Reiner Oschmann, Glasgow *

Die jüngsten Jugend-Randale in mehreren englischen Städten und die schweren sozialökonomischen Konflikte in ihrem Hintergrund haben selbstverständlich keinen direkten Bezug zu den wachsenden Unabhängigkeitsüberlegungen im Norden des Königreichs. Der Traum von wie auch immer gearteten schottischen Alleingängen dürfte dadurch jedoch kaum schwächer werden. Im Gegenteil.

Schottland hat etwas von Dr. Jekyll und Mr. Hyde, den Figuren des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson (1850-1894). Die Nation im britischen Norden mit rund fünf Millionen Einwohnern – weniger als London – erinnert zu Recht an Unterdrückung durch die Engländer und liebt sich als Opfer.

Die andere Seite trifft man ebenso oft: ein Gefühl der Überlegenheit. »Scotland the brave« – Schottland, das tapfere, das nie unterzukriegen ist. Es handelt von Erfindergeist, von Widerstand und Patriotismus, sichtbar in der Anhänglichkeit vieler Auslandsschotten an die Heimat und der gut vermarkteten Gewissheit: »You can take the boy out of Scotland, but you can’t take Scotland out of the boy« – Sie können den Jungen aus Schottland holen, aber nie Schottland aus dem Jungen.

Der Schotte ist praktisch, beweglich und hat ein großes Herz für Folklore. Der Scotch hat daran einen größeren Anteil, als es die zehntausend direkt in der Whiskyindustrie Beschäftigten oder der Rekordanteil von knapp vier Milliarden Euro an der britischen Handelsbilanz (2010) belegen.

Salmond will sich nicht aufhalten lassen

Eine Reise nach Glasgow, Aberdeen und auf die atlantischen Hebrideninseln Islay und Skye, wo einige der besten Malzwhiskys reifen, bietet diesen Sommer Gelegenheit, nicht nur die Komplexität des Nationalgetränks zu ergründen. Der Sommer 2011 findet in einem neuen Koordinatensystem statt. Bei der Parlamentswahl im Mai veredelte die nationalistische Scottish National Party (SNP) ihre knappe in eine absolute Sitzmehrheit in Edinburgh, und der gestärkte Premier Alex Salmond verkündete: »Ein vom Vereinigten Königreich unabhängiges Schottland ist jetzt nicht aufzuhalten.« Fürs Ende der Legislaturperiode kündigte der mundflinke, taktisch versierte Salmond ein Referendum an. Damit wechselt das Thema aus dem Nebel feuriger, aber folgenloser Stammtischdebatten in den Bereich politischen Kalküls.

Eine neue Situation auch für viele Schotten. Sie waren schon einmal förmlich unabhängig, ehe es 1603 zur Union der Kronen, der Vereinigung der schottischen und englischen Königshäuser, 1707 zur Parlamentsunion und zu Londons Vorherrschaft kam. Erst in den letzten 20 Jahren erhielten Schottland und das neue Regionalparlament mehr Zugriff auf Gesundheit, Erziehung und Polizei, Umwelt, Justiz und Tourismus.

Der SNP, einer linken nationalistischen Kraft, reicht das nicht. Sie will den Kurs zur Unabhängigkeit weiter gehen. Angus Robertson vertritt die SNP im Parlament des Königreichs in London: »Der normale Zustand für eine Nation ist, sich selbst zu bestimmen. Bei wichtigen Fragen im Verteidigungsbereich, wo in England die staatstragenden Parteien alle den britischen Besitz von Atomwaffen unterstützen, sind wir in Schottland dagegen. Doch alle Kernwaffen stehen in Schottland.«

Das Verlangen nach mehr Eigenständigkeit ist im Norden zu hören. Doch von einem einmütigen Drängen auf staatliche Selbstständigkeit kann keine Rede sein. Die meisten Gesprächspartner schwanken zwischen der Überraschung, wie weit das Thema nach vorn gerückt ist, und dem Zweifel, ob Unabhängigkeit machbar und sinnvoll wäre. Auf der Isle of Skye, fast doppelt so groß wie Rügen und größte Hebriden-Insel, sagt Mark Lochhead (46), Chef der Whisky-Brennerei Talisker: »Die Unabhängigkeit war noch nie so diskutabel wie jetzt. Ich bin in Glasgow aufgewachsen als einer, der für den Zusammenhalt des Königreichs steht. Die heutige junge Generation dagegen denkt mehr an ihren Landesteil. Sie war gegen die Kriegsteilnahme in Irak und Afghanistan und ist gegen britische Atomwaffen.« Im Sieg der SNP bei der Regionalwahl sieht der Manager weniger ein Zeichen heftiger Unabhängigkeitswünsche als »eine Folge der schwachen Leistung der Labour Party, der Liberaldemokraten und der Konservativen. Alex Salmond hat sie gnadenlos genutzt. Doch mit der neuen Mehrheit wird es für ihn und die SNP schwerer: Eine Partei mit absoluter Mehrheit hat keine Entschuldigungen mehr.«

»Können wir uns das leisten?«

Fiona MacIntyre kümmert sich bei Talisker um die Besucher. Sie ist überzeugt: »Wenn Schottland ökonomisch auf eigenen Füßen stehen könnte, wäre die Mehrheit der Schotten für Selbstständigkeit. Aber ob das so wäre, ist für viele ungewiss.«

In eine ähnliche Kerbe schlägt Brendan McCarron (31) auf der Hebrideninsel Islay. Er ist Chef aller Brennereien, die wie Lagavulin zum weltgrößten Spirituosenhersteller Diageo gehören: »Nach der jüngsten Entwicklung kann die Selbstständigkeit womöglich schneller kommen als gedacht. Sie ist keine Fantasie mehr. Ich bin nicht dafür, da ich nicht weiß, was Unabhängigkeit bedeuten würde. Könnten wir uns eine Armee, können wir uns einen Alleingang leisten? Ich habe meine Zweifel.«

Zweifel hat auch Fotograf Glyn Satterley. Der 60-jährige Engländer lebt mit seiner schottischen Frau sein halbes Leben nahe Edinburgh. Er hat den Norden in 30 Jahren lieben gelernt. »Schotten erkennen an meiner Sprache, dass ich keiner von ihnen bin. Doch das hat mir nie Probleme bereitet. Ich mag die Leute hier. Sie sind einladend, besonders im Hochland und auf den Inseln; sie sind herzlicher als wir Engländer. Und was für mich als Fotografen wichtig ist: Highlands und Inseln bieten eine fantastische Kulisse. Die ist stimulierender als im Süden.«

Für Satterley ist klar, dass die SNP bei den Wahlen von der Schwäche sowohl der Labour Party als auch der Liberaldemokraten profitiert hat. »Aber ein Votum für den staatlichen Alleingang war das, glaube ich, noch nicht«, sagt er, der viel rumkommt in Schottland und sich bis heute wundert, wie viele Hochseefischer es hier gibt, »die nicht schwimmen können und auch nach langen Arbeitsjahren immer noch seekrank werden, wenn sie Montagfrüh wieder rausfahren«.

* Aus: Neues Deutschland, 17. August 2011


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