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Urteile im dunkeln

Großbritannien: Gesetz über Ausweitung geheimer Gerichtsverfahren beschlossen. Menschenrechtsorganisationen warnen vor Demokratieabbau

Von Christian Bunke, Manchester *

Es klingt wie aus einer Geschichte von Franz Kafka. Wanda Maddocks aus der Nähe von Stoke-on-Trent in Mittelengland wollte ihren Vater aus einem Pflegeheim herausholen. Er war dort ohne ihr Einverständnis im Auftrag der Stadtverwaltung hingebracht worden. Als sie die Einrichtung zusammen mit ihrem Vater verließ, wartete die Polizei auf Wanda Maddocks. Ihr wurde eröffnet, daß sie eine fünfmonatige Gefängnisstrafe abzusitzen habe, da sie gegen einen Gerichtsbeschluß gehandelt habe. Von diesem hörte sie auf dem Parkplatz des Pflegeheims zum ersten Mal. Sechs Wochen verbrachte sie im Gefängnis, bevor sie vorzeitig entlassen wurde.

Der Beschluß war vom sogenannten Court of Protection, einem dem britischen High Court untergeordnetes Gericht, gefällt worden. Der Court of Protection fällt unter anderem Entscheidungen über die Zurechnungsfähigkeit von Menschen und kann diese an Betreuer überweisen, die vom Gericht ausgesucht werden. Dieses entscheidet auch über die Verwaltung des Privateigentums betroffener Menschen. Der Clou an der Sache: Das Gericht tagt im geheimen. Weder Betroffene, deren Angehörige oder die breitere Öffentlichkeit werden über Verfahren informiert. Sie erfahren mitunter von einem Gerichtsbeschluß erst dann, wenn sie gegen diesen verstoßen – so wie es Wanda Maddocks passierte.

Die Geburtsstunde des Court of Protection war im Jahr 2005. Damals brachte die von Tony Blair geführte Regierung eine Reihe von Gesetzen auf den Weg, die eine massive Ausweitung geheimer Justiz in Großbritannien bedeutete. Begründet wurde dies mit den Anschlägen auf öffentliche Verkehrsmittel im Juli 2005 in London. Ein neuer Höhepunkt wurde im April dieses Jahres mit dem Beschluß des »Justice and Security Bill« im britischen Parlament erreicht. Dieses Gesetz sieht die Einführung geheimer Gerichtsverfahren im Zivilstrafrecht vor. Wenn das Gesetz in Kraft tritt, können Richter künftig beschließen, Prozesse im Geheimen zu führen.

»Geheim« bedeutet auch, daß Verteidiger oder Nebenkläger keine eigenen Anwälte mehr schicken dürfen. Statt dessen sollen sogenannte Special advocates eingesetzt werden. Diese sind allerdings keiner Prozeßpartei rechenschaftspflichtig. Sie dürfen auch keine Informationen über die Vorgänge im Gerichtsaal nach außen geben. Sie haben also eine Alibirolle, um eine nicht gegebene Rechtsstaatlichkeit vorzutäuschen.

Hinter den Kulissen haben sowohl Scotland Yard als auch die Geheimdienste MI5 und MI6 für das neue Gesetz gekämpft. Geheime Verfahren seien notwendig, um sicherheitsrelevante Geheimnisse des Vereinigten Königreichs zu schützen. Diese Argumentation weisen Anwälte, Amnesty International und die britische Menschenrechtsorganisation Liberty zurück. Bisher haben bereits 700 britische Anwälte einen Protestbrief gegen das geplante Gesetz unterschrieben. Die Direktor von Liberty, Shami Shakrabarti, äußerte die Befürchtung, daß Geheimgerichte staatlichen Verschleierungsaktionen Tür und Tor öffnen würden: »Die Vertuschung von heute ist der Skandal von Morgen«, so Shakrabarti. Ein solcher Skandal ist etwa die Hillsborough-Katastrophe von 1989. Damals starben 96 Menschen während eines Fußballspiels in überfüllten Sektoren des Stadions. Heute ist offiziell bekannt, daß die Polizei aktiv ihre Rolle bei der Tragödie vertuscht, Beweise gefälscht und die Schuld den Fußballfans aus Liverpool in die Schuhe geschoben hat. Britische Bürgerrechtler fürchten, daß geheime Gerichte in Zukunft dazu benutzt werden könnten, um die Aufdeckung solcher Skandale zu verhindern. Polizisten könnten künftig über ihre Rolle befragt werden, ohne daß die Öffentlichkeit davon etwas erfährt.

Der Justice and Security Bill hat bereits alle parlamentarischen Instanzen durchlaufen. Das ging nicht immer reibungslos, weil eine Reihe von Parlamentariern aller Parteien Bedenken hatten. Das Oberhaus stimmte sogar für drastische Einschränkungen des Gesetzes, die im Unterhaus mit den Stimmen der Führungsspitze der Labour-Frak­tion wieder rückgängig gemacht wurden. Tritt das Gesetz in Kraft, hat der Demokratieabbau in Großbritannien einen großen Schritt voran gemacht.

* Aus: junge Welt, Montag, 6. Mai 2013


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