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Demokratischer Herbst in Tunis

Ennahda wieder Favorit bei den Wahlen

Von Mirco Keilberth, Tunis *

Am kommenden Sonntag wählt Tunesien ein neues Parlament. 15 000 Kandidaten treten an. Als einzigem Land des »arabischen Frühlings« kommt Tunesien bei der Demokratie voran.

In schwarzer Farbe sind auf vielen Mauern Tunesiens gitterartige Rahmenmuster aufgemalt und mit Nummern versehen. Parteien, die sich zur Wahl stellen, können hier ihre Plakate aufhängen. Manche Poster wurden abgerissen, doch viele der Flächen sind ohnehin leer. Die Begeisterung für die Wahlen hält sich in Grenzen, auch wenn sich mit 5,3 Millionen Wahlberechtigten deutlich mehr als bei der ersten freien Wahl vor drei Jahren registrieren haben lassen. In den Augen vieler verläuft der Übergangsprozess zur Demokratie zu zäh, zu wenig hat sich seit der Jasmin-Revolution 2010/2011 geändert. Erfolgreicher als die demokratischen Parteien waren vor allem die Werber des Islamischen Staates, mehr als 4000 junge Tunesier kämpfen mittlerweile in Syrien, Irak oder Libyen, soviel wie aus keinem anderen Land.

»Dennoch ist Tunesien das einzige verbliebene Leuchtfeuer in dem Meer von Konflikten des arabischen Frühlings«, betont Habib Lajmi. Der junge Unternehmer aus der IT-Branche kandidiert für die islamische Ennahda Partei in Deutschland, denn auch die im Ausland lebenden Tunesier dürfen wählen und sind im Parlament mit 18 der 217 Sitze repräsentiert – einer davon entfällt auf die tunesische Exilgemeinde in Deutschland.

»Trotz aller Probleme haben wir Tunesier es zudem geschafft, uns im Januar auf eine Verfassung zu einigen, auf eine Grundlage des täglichen Lebens und der politischen Auseinandersetzung«, sagt Lajmi. Die den Muslimbrüdern nahestehende Ennahda wird von den religionskritischen Liberalen Tunesiens als Bündnispartner der extremistischen Gruppen im Land gesehen. Beobachter rechnen damit, dass sie wieder die stärkste Partei wird.

Stolz, dass die Arbeit der Verfassunggebenden Versammlung ANC trotz heftiger Auseinandersetzungen zu Ende gebracht wurde, ist bei allen politischen Parteien zu spüren. Zwar wurde die Frist von einem Jahr mehrmals verlängert, herausgekommen ist aber die wohl modernste Verfassung der arabischen Welt, in der Frauen- und Minderheitenrechte anerkannt und das islamische Recht Scharia unerwähnt bleibt.

Über den Zeitraum von drei Jahren übernahm die ANC auch klassische parlamentarische Aufgaben wie die Verabschiedung von Gesetzen und die Kontrolle der Regierung. Nach der Ermordung zweier prominenter Abgeordneter aus dem linken Parteienspektrum durch radikale Muslime einigten sich die Parteien schließlich auf eine Technokraten-Regierung zur Vorbereitung der Wahlen.

Trotz der politischen Erfolge sind die wirtschaftlichen Probleme drückend. Die Abnahme des Tourismus aus Europa und die gesunkene Investitionsbereitschaft europäischer Firmen haben die Jugendarbeitslosigkeit noch weiter steigen lassen.

Nicht nur Migranten aus Zentralafrika, auch immer mehr Tunesier versuchen über das Mittelmeer nach Sizilien zu gelangen und einen Job zu ergattern. »Die jungen Leute gingen vor vier Jahren für Reformen auf die Straße«, sind aber nicht genug am demokratischen Umbauprozess beteiligt«, sagt Hend Hassassi, eine Aktivistin aus Tunis.

Vor allem in den Bürgermeisterämtern, Universitäten und im Sicherheitsapparat sitzen oft noch Vertreter des alten Regimes, die vor allem die Ennahda mit Vertretern des politischen Islam ersetzen möchte. »Anders als in Libyen hat der Erhalt des alten Sicherheitsapparates Tunesien vor dem Chaos bewahrt. Nun muss die Zivilgesellschaft den lokalen Übergangsprozess transparent machen«, so Hassassi.

Überraschend hat Ennahda-Chef Rachid Ghannouchi vergangene Woche angekündigt, mit allen Parteien über eine Koalition sprechen zu wollen. Der »Nidaa Tounes«-Vorsitzende Béji Caïd Essebsi, der sich in der Nachfolge des Langzeit-Regenten Habib Bourguiba (1957-87) sieht, zeigte sich offen für das Angebot. Ablehnende Reaktionen kamen hingegen von kleinen liberalen Parteien, die Ennahda vorwerfen, mit Unterstützung Katars, der Türkei und den in Ägypten verbotenen Muslimbrüdern Tunesiens Institutionen durch den politischen Islam zu unterwandern.

Sollte die Ennahda diesmal wieder die Wahl gewinnen und die stärkste Fraktion im Abgeordnetenhaus stellen, wird die Suche nach einem Koalitionspartner schwierig und könnte erneut zum Stillstand führen. Und eine Reform des für seine Brutalität gefürchteten Geheimdienstes wird ohnehin noch auf sich warten müssen, zu groß ist die Gefahr durch terroristische Gruppen, rund 6000 Verdächtige warten in Gefängnissen auf ihren Prozess.

Formal soll mit der Präsidentenwahl am 23. November der demokratische Übergang nach dem Sturz des Langzeitherrschers Ben Ali (1987 bis 2011) vollendet werden.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 22. Oktober 2014


Wir stehen auf dem Boden der neuen Verfassung

Habib Lejmi, Kandidat der islamischen Ennahda, über den tunesischen Sonderweg und den Einfluss von Katar **


Herr Lejmi, sie sind als Jungunternehmer in der IT-Branche tätig, in Deutschland aufgewachsen und kandidieren für die islamische Ennahda Partei. Wie passt das zusammen?

Die Ennahda ist keine Partei der Islamisten, wie es viele tunesische Liberale uns häufig ankreiden. Wir sind eine reine tunesische wertekonservative Partei. Anders als die Muslimbrüder in Ägypten treten wir für einen Dialog mit den Vertretern der sogenannten Liberalen ein.

Béji Caïd Essebsi, der Vorsitzende der liberalen Nidaa Tounes Partei wirft Ennahda jedoch vor, den Terrorismus der militanten Gruppen zu unterstützen, die für mehrere politische Morde verantwortlich sind.

In Tunesien herrscht immer noch ein ideologischer Konflikt aus den 70er Jahren zwischen der Linken und den Konservativen, die ja unter Ben Ali verboten waren. Wir jungen Politiker sollten diese Phase überwinden und allen gesellschaftlichen Gruppen im Land klar machen, das wir alle auf dem Boden der im Januar beschlossenen Verfassung stehen. Nur dann können wir Lösungen für die wirtschaftlichen und sozialen Probleme finden, die Tunesiens Jasmin-Revolution bedrohen. Die Attentate geschahen zu einem Zeitpunkt, als die Ennahda die absolute Mehrheit im Parlament hatte. Es macht für mich eher Sinn, dass uns deswegen Verbindungen zu den Tätern aus dem extremistischen Milieu in die Schuhe geschoben werden sollen.

Sind sie mit dem Übergangsprozess bis jetzt zufrieden?

Vertreter des alten Regimes nutzen die anhaltende wirtschaftliche Krise, um dem Volk zu zeigen, dass die Revolution keine Verbesserung gebracht hat. Die Preise steigen tatsächlich, schon wegen der vielen libyschen Flüchtlinge im Land und leider steigt auch die Arbeitslosigkeit.

In vielen Institutionen geben immer noch viele Regimeanhänger den Ton an. Das finde ich auch gut, nur so kann sichergestellt werden, dass der Staat nicht scheitert. Wir haben uns in Tunesien für einen geregelten Übergang entschieden. Die Aufarbeitung der Diktatur hat übrigens noch gar nicht begonnen.

Nach den Konflikten der letzten Jahre scheint eine Kultur des Kompromisses wieder zu kehren, oder?

Nach dem Wahlsieg von Ennahda hatten sich einige Oppositionsparteien mit Regimeanhängern zusammengetan. Nach dem politischen Mord an Mohamed Brahim und dem Putsch in Ägypten im Juni 2013 wollten sie die Mehrheit von Ennahda infrage stellen. Unterstützt wurden sie von den Emiraten und Saudi Arabien, die sich klar gegen den Übergangsprozess positioniert haben. Dieses Projekt ist gescheitert. Seit der Übergangsregierung herrscht ein Klima des Kompromisses vor. Vielleicht liegt es daran, dass viele tunesische Politiker lange in Europa gelebt haben und die Demokratie als Basis der politischen Kultur akzeptieren.

Ennahda wird Nähe zu Katar nachgesagt. Katar investiert in Tunesien und gleichzeitig unterstützt es militante Islamisten in Syrien, wo auch viele Tunesier kämpfen.

Katar ist zwar keine Demokratie, will, aber wie die Türkei den Demokratisierungsprozess hier unterstützen. Saudi Arabien hingegen scheint an dem Scheitern unseres Experiments interessiert zu sein. Wir sind für die Investitionen dankbar, andere Länder ziehen sich ja leider zurück.

In welchem Verhältnis stehen die Muslimbrüder und Ennahda?

Ennahda ist eine reine tunesische Bewegung. Aber es gibt eine gewisse ideologische Nähe, wir stehen auf der konservativen Seite der Gesellschaft. Die Muslimbrüder in Ägypten haben es aber nicht geschafft, eine Form zu finden, andere an der Macht zu beteiligen und Ängste abzubauen. Das war ein kapitaler Fehler. Wir haben mit der Regierung der Nationalen Einheit auch andere an der Macht beteiligt. Schon vor 150 Jahren gab es die Reformbewegung der Asei Tuna Moschee, Islam und Moderne zusammenzuführen, das erklärt vielleicht den tunesischen Sonderweg.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 22. Oktober 2014


Tunesiens Arabischer Frühling

  • Dezember 2010 Der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi verbrennt sich selbst. Proteste in Bouazizis Heimatstadt und danach in vielen Landesteilen.
  • Januar 2011 Der tunesische Diktator Zine el-Abidine Ben Ali flüchtet nach Saudi-Arabien.
  • Januar 2011 Ben Alis Flucht motiviert ägyptische DemonstrantInnen zu Protesten gegen Präsident und Diktator Hosni Mubarak. In Tunesien wird eine Übergangsregierung unter Mohammed Ghannouchi gebildet.
  • Oktober 2011 Erste freien Wahlen in Tunesien.
  • November 2011 Die Verfassunggebende Versammlung Tunesiens tagt erstmals.
  • Dezember 2011 Moncef Marzouki wird zum Präsidenten gewählt.
  • Juni 2012 Der ehemalige Präsident Ben Ali wird in Abwesenheit als Verantwortlicher für die Ermordung von rund 200 Demonstranten während der Rebellion 2011 zu lebenslanger Haft verurteilt. Saudi Arabien verweigert die Auslieferung.
  • Februar 2013 Ministerpräsident Hamadi Jebali tritt zurück.
  • Oktober 2013 Die Ennahda willigt ein, die Macht einer parteiunabhängigen Übergangsregierung zu übergeben, die mit der Durchführung von Neuwahlen 2014 beauftragt wird.
  • Januar 2014 Das Parlament verabschiedet die erste Verfassung des Landes seit dem Sturz von Ben Ali was 2011. Übergangspremier Mehdi Jomaâ bildet Regierung aus Unabhängigen und Technokraten, um bis zu Neuwahlen zu regieren. nd



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