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Revolten der Würde

In Tunesien stand die Wiege des Arabischen Frühling. Befriedet ist das Land noch lange nicht

Von Martin Ling, Tunis *

Würde ist das zentrale Motto des Weltsozialforums in Tunis. Würde war ein zentrales Motiv im Arabischen Frühling 2011, der in Tunesien mit der Jasminrevolution seinen Ausgang nahm. Ein Leben in Würde, nicht gegängelt von staatlicher Gewalt und Willkür. Die Revolten vor zwei Jahren haben selbstherrliche Staatschefs wie Ben Ali in Tunesien und Hosni Mubarak in Ägypten aus dem Amt gejagt, die Verhältnisse auf den Kopf gestellt haben sie jedoch noch nicht. Immerhin: Die neuen Machthaber sind gewarnt.

Es ist ein Menetekel: An dem Tag, an dem die jüngste tunesische Regierungskrise durch die Berufung des neuen Ministerpräsidenten Ali Larayedh vorerst beigelegt wurde, erlag ein Straßenverkäufer seinen Brandverletzungen. Tags zuvor hatte sich Adel Khadri mitten in Tunis vor dem Theater auf der zentralen Avenue Habib Bourguiba angezündet, um gegen Polizeischikanen zu protestieren. »Dies ist die Jugend, dies ist die Arbeitslosigkeit«, soll er nach Augenzeugenberichten gerufen haben.

Die Verzweiflungstat des 27-Jährigen exakt zwei Wochen vor Beginn des Weltsozialforums erinnert gespenstisch an die Tat, die den Ausgangspunkt der Revolte in Tunesien und des ganzen Arabischen Frühlings markierte: Die Selbstverbrennung des Straßenhändlers Mohamed Bouazizi in der zentraltunesischen Stadt Sidi Bouzid im Dezember 2010. Die folgende Welle an Massenprotesten spülte Tunesiens Langzeitregenten Ben Ali schon Mitte Januar 2011 aus dem Amt - keine vier Wochen später.

Der säkulare tunesische Staatspräsident Moncef Marzouki muss als ausgehandelter Übergangskandidat den Unmut der Bevölkerung weniger fürchten als die tatsächlichen neuen Machthaber: die Führungsriege der islamistischen Ennahda-Partei, der Wahlsiegerin von 2011. Die Fäden zieht der 71-jährige Rached al-Ghannouchi. »Die Ennahda wurde gewählt, weil ihr ein guter Ruf vorausging: gottesfürchtig, nicht korrupt, nicht mit den alten Eliten des Systems verbunden«, erzählt Amel Cheikhrouhou. Die Stimmung habe sich jedoch längst gedreht. Die studierte Innendesignerin macht aus ihrem Ärger keinen Hehl. Die Ennahda - unter Ben Ali verboten - bediene sich derselben Klientelpolitik wie der gestürzte Präsident, nur dass nun andere davon profitieren. Der Großteil der Bevölkerung sehe sich derweil mit einem immer beschwerlicher werdenden Alltag konfrontiert. »Die wirtschaftliche Situation ist definitiv schlechter als vor zwei Jahren«, ist die Tunesierin sicher: »Die Preise steigen rasant, die Löhne stagnieren.« In der Hauptstadt Tunis sei die Verarmung nicht so sichtbar wie in den Provinzen, dort wachsen der Unmut und der Frust immer weiter.

Wie lange sich die Tunesier das noch bieten lassen, ist offen. Sicher ist, sagt Cheikhrouhou, dass durch die Arabellion vor zwei Jahren das Selbstvertrauen gewachsen ist, jeder traue sich, offen Kritik zu äußern, die Meinungsfreiheit wird nicht mehr unterdrückt, es wird ständig über die politischen Verhältnisse diskutiert, nennt Cheikhrouhou wichtige Errungenschaften des Arabischen Frühlings. Sie zu beschneiden, traue sich die Ennahda noch nicht.

Dafür ist die Koordinatorin der Rosa-Luxemburg-Stiftung beim Weltsozialforum selbst das beste Beispiel: »Auf die alte Mafia ist eine neue Mafia« gefolgt, fasst Cheikhrouhou die Lage an der Staatsspitze zusammen.

Worin sie sich nicht unterscheiden, ist neben der Vetternwirtschaft auch die wirtschaftspolitische Ausrichtung: Der neoliberale Kurs wird beibehalten und damit die hohe Abhängigkeit von ausländischen Krediten und Investitionen. Auch wenn sich die Gesamtwirtschaft nach dem Einbruch im Revolutionsjahr 2011 wieder erholt hat und der Internationale Währungsfonds für 2013 gar optimistisch mehr als drei Prozent Wachstum voraussagt, bleiben Inflation, Arbeitslosigkeit und eine schwachbrüstige Wirtschaft die Hauptsorgen der Bevölkerung. Zumal die IWF-Prognose von einer politischen Stabilisierung in Tunesien und einer stabilen konjunkturellen Entwicklung in Europa ausgeht. Das ist indessen so unsicher wie die Abhängigkeit Tunesiens von der europäischen Wirtschaft sicher ist: Rund drei Viertel der tunesischen Exporte gehen in die EU und etwa 90 Prozent der Einkommen aus dem Tourismus stammen aus der Europäischen Union. Hustet die EU, hat Tunesien Schnupfen, und dass die EU kränkelt, ist auch in Tunis kein Geheimnis.

Trübe Aussichten gibt es auch für das Weltsozialforum (WSF), das am Dienstagnachmittag mit der Auftaktdemonstration beginnt. Statt strahlender Frühlingssonne ist für die ganze Woche bewölkter Himmel mit gelegentlichen Regenschauern angesagt. Das WSF fällt in eine Phase, in der viele Tunesier einerseits ernüchtert ob der ausbleibenden Demokratiedividende sind, andererseits aber auch gewillt, weiter und konsequent danach zu verlangen. Die für April angekündigten Streiks in mehreren Branchen zeugen davon. Der für gestern angesagte dreitägige Streik des Bodenpersonals der tunesischen Flughäfen wurde allerdings im letzten Moment abgesagt, so dass die letzten Anreisenden zum Weltsozialforum keine Unannehmlichkeiten zu befürchten brauchen.

Offensichtlich ist, dass Tunesien noch kein neues, stabiles politisches System gefunden hat. Derzeit herrscht eine zerbrechliche Konstellation mit unklaren Kräfteverhältnissen. Das zeigt sich am Weltsozialforum selbst. Die einheimischen Organisatoren, die der gemäßigt-islamistischen Regierung sicher nicht nahestehen, haben sich mit dem gerade berufenen Kabinett um Premier Ali Larayedh, den einst gefürchteten Innenminister, auf ein Abkommen geeinigt: Das Militär sorgt für Sicherheit rund um den Campus der El-Manar-Universität, auf dem das Forum stattfindet. »Außerdem stellt die Regierung Shuttlebusse zur Verfügung und sponsort kulturelle Veranstaltungen«, schildert Amel Cheikhrouhou das Arrangement. Im Gegenzug soll die innenpolitische Lage als offizielles Thema ausgespart bleiben. Das Forum als Hort der Kritik an der Regierung ist damit schon passé, bevor das Treffen stattfindet.

Ein Treffen, über deren Inhalt noch nicht allzu viele Tunesier Bescheid wissen. »Meine Nachbarin studiert Jura an der El-Manar-Universität, sie weiß zwar, dass das Forum stattfindet, aber viel mehr nicht«, erzählt Cheikhrouhou. Ihre ägyptische Kollegin Mai Choukry pflichtet bei: »Die tunesische Bevölkerung ist über das Weltsozialforum noch nicht so recht im Bilde«, sagt Choukry, die schon seit ein paar Tagen im Land ist. »Alle wissen zwar, dass ein internationales Treffen stattfindet, aber nicht, was sich dahinter verbirgt.«

Die Ägypterin ist für die Rosa-Luxemburg-Stiftung als Projektkoordinatorin in Kairo tätig. Je näher das Forum rückt, desto häufiger werde das WSF aber auch Gegenstand in den Medien, Fernseh- und Radioberichte häuften sich. Ob das Weltsozialforum die Demokratiebewegung in Tunesien entscheidend stärken kann, darüber wagt Cheikhrouhou keine Prognose: »Es ist mein erstes Weltsozialforum. Ich bin gespannt, kann aber die Wirkung nicht einschätzen.« Wer im Kräftemessen zwischen Islamisten und den darunter erstarkenden Salafisten und weiter aufbegehrender Demokratiebewegung die besseren Aussichten hat, hält sie ebenso für offen. Tunesien habe zwar im arabischen Raum eine vergleichsweise breite demokratische Basis, doch bereits in den 1980er Jahren gab es Attacken radikaler Muslime auf unverschleierte Frauen. Weder könne man einen Gesellschaftswandel in Richtung einer restriktiven Auslegung des Islam ausschließen noch eine neue Welle von Revolten. Und ob die Polizei sich immer so zurückhalten würde wie bei den Demonstrationen am Frauentag, dem 8. März, oder bei der Beerdigung des Linkspolitikers Chokri Belaïd, der Anfang Februar in Tunis ermordet wurde, sei auch nicht ausgemacht.

»Es gibt jede Menge Waffen im Land«, weiß die Akademikerin. Das macht ihr Sorgen. Im Land will sie trotzdem bleiben, obwohl sie dank eines zweiten französischen Passes problemlos in die EU könnte, zum Beispiel nach Frankreich, wo sie studiert hat. »So verständlich es ist, wenn Tunesier mangels Perspektiven emigrieren, für das Land ist es schade. Ich will bleiben, solange es geht!«

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 26. März 2013


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