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"Ennahda" als Favorit

Unter dem Regime von Ben Ali verbotene Islamistenpartei will stärkste politische Kraft in Tunesien werden

Von Jane Lippicott, Tunis (IPS) *

Am 23. Oktober sind 7,5 Millionen wahlberechtigte Tunesier im In- und Ausland aufgerufen, die verfassungsgebende Versammlung ihres Landes zu wählen. Bisher deutet alles darauf hin, daß die unter dem geflohenen Expräsidenten Zine Abidine Ben Ali verbotene Islamistenpartei »Ennahda« (»Wiedererweckung«) zur stärksten politischen Kraft wird.

Hunderte Parteien und politische Gruppierungen bewerben sich auf 63 Listen und mit insgesamt 10937 Kandidatinnen und Kandidaten um die 217 Sitze des parlamentarischen Gremiums. Doch diese Vielfalt vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß sich die Wahl aller Voraussicht nach zwischen der von Rached Ghannouchi geführten Ennahda und der westlich geprägten Demokratischen Fortschrittspartei (PDP) unter Ahmed Nejib Chebbi entscheiden wird.

Die Anhänger der sogenannten politischen Islamisten loben die Partei wegen ihres honorigen Ansehens und ihrer Verbindungen zu karitativen Organisationen. Vor allem aber findet ihr hartnäckiger Widerstand gegen Ben Ali in der Arbeiterklasse und im armen, vernachlässigten tunesischen Westen großen Zuspruch. Offiziell gibt sich Ennahda politisch moderat. Ihre Mitglieder betonen, die Partei habe mehr gemein mit einer europäischen christdemokratischen Partei als mit Strömungen in anderen Ländern, die auf den Aufbau eines Gottesstaates zielen.

Ennahdas Popularität hat Tunesiens westlich orientierte Eliten überrascht und aufgeschreckt. Es waren vor allem etablierte, ausgemacht säkulare Bürgerliche der Küstenregion, die im Januar die Revolution unterstützten. Angesichts der Popularität von Ennahda und deren Versprechen, die regionale soziale und wirtschaftliche Ungleichheit im Land abzubauen, befürchten viele Tunesier den Verlust ihrer unter dem ehemaligen Regime erworbenen Privilegien.

Die PDP war unter dem alten Machthaber zwar nie verboten, doch ihre Mitglieder wurden angegriffen und drangsaliert. Jetzt muß sie sich gegen die Annahme wehren, sie trete als inoffizielle Nachfolgerin der vormaligen Regierungspartei RCD an. Man erwartet, daß sie vor allem in den Küstenstädten Erfolg haben wird, die von der früheren Regierung profitierten.

Die politische Konkurrenz wirft der PDP allzu große Nähe zu dem korrupten und elitären Regime Ben Alis vor. Dagegen unterstellen Gegner der Ennahda, ihr Auftreten sei nur eine Fassade, hinter der sie ihre wahren Absichten verberge, aus Tunesien einen Gottesstaat nach iranischem oder saudischem Vorbild zu machen.

»Ennahda ist keine direkte Bedrohung des demokratischen Übergangs in Tunesien«, erklärte die Jurastudentin Najma Kousri aus Tunis gegenüber IPS. »Allerdings könnte sie langfristig gefährlich werden«, meinte die 20jährige, die ihre Stimme einer kleinen Linkspartei geben will. »Wirklich gefährlich sind dagegen die Überreste der alten Diktatur«, betonte sie.

Feyjani Sayed, ein Mitglied des Politbüros von Ennahda, weist die gegen seine Partei erhobenen Vorwürfe als unfaire Unterstellungen zurück. »Ennahda verdankt ihren Erfolg ihrem maßvollen Auftreten. Tunesier mögen Religiosität, doch sie übertreiben sie nicht«, stellte der Politiker fest. Die wirtschaftliche Zielsetzung der Partei sei eine »soziale, freie Marktwirtschaft. Im vernachlässigten Westen Tunesiens wollen wir eine Infrastruktur aufbauen, damit dort Investoren angesiedelt und Arbeitsplätze geschaffen werden können.«

* Aus: junge Welt, 20. Oktober 2011


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