Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Lackmustest der Jasminrevolution

Tunesien nach den Wahlen

Von Matthieu Voss *

In Tunesien begann der arabische Frühling. Mit den ersten freien Wahlen nach 23 Jahren setzte dieses Land im Oktober 2011 weiterhin Maßstäbe für eine ernsthafte demokratische Entwicklung in der Region. In Tunis spürt man den Geist der neuen Freiheit. Aber was bedeutet der klare Sieg der islamistischen Ennahda-Partei für die Zukunft? Wird sich die in den Wahlen sichtbare Spaltung zwischen religiösen und laizistischen Kräften im Land fortsetzen?

Am 23.10.2011 fanden in Tunesien zum ersten Mal nach 23 Jahren freie Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung statt. Insgesamt haben sich über 100 Parteien zur Wahl gestellt. 1.517 Listen, darunter 654 unabhängige, konnten in 27 Wahlkreisen in Tunesien gewählt werden. Die Wahl wurde durch unabhängige Wahlbeobachter der EU begleitet. Diese kommen in ihrem vorläufigen Schlussgutachten zu dem Ergebnis, dass die Wahlen weitestgehend ohne Einschränkungen stattgefunden haben. Hierzu wurden 1.649 Wahlbüros beobachtet. Insgesamt sind nach Angaben der unabhängigen tunesischen Wahlkommission (ISIE) knapp 4,3 Millionen Tunesier zur Wahl gegangen. Dies entspricht einer Wahlbeteiligung von 52 Prozent. Ein Grund für die geringe Wahlbeteiligung war sicherlich das komplizierte Wählerlistenverfahren.

Gewinner, und dies mit Abstand, sind die gemäßigten Islamisten, die sich in der Partei Ennahda gruppieren. Auf sie entfielen 36,97 Prozent der Stimmen. Dies entspricht 89 der 217 Sitze. Zweitstärkste Kraft wurde die Mitte-links-Partei „Kongress für die Republik“, die 29 Sitze errang. Auf den dritten Platz gelangte überraschend mit 26 Sitzen die aus unabhängigen Kandidaten bestehende Initiative „Volkspetition für Freiheit, Gerechtigkeit und Entwicklung“ um den Geschäftsmann Mohammed Hashim Hamdi. Auf den vierten Platz kam die sozialdemokratische Partei Ettakatol mit 21 Sitzen. Auf den fünften Platz gelangte die „Demokratische Fortschrittspartei“ mit 16 Sitzen. Die verbleibenden 37 Sitze wurden auf weitere 22 Listen verteilt. Anders als im Jahr 1987 wurde das Wahlergebnis von der Übergangsregierung anerkannt.

Wahlergebnisse vom 23.10.2011

ParteiErgebnisSitze
Ennahda 36,97 % 89
Kongress für die Republik (CPR) 8,70 % 29
Volkspetition für Freiheit,
Gerechtigkeit und Entwicklung
6,92 % 26
Ettakatol (FDTL) 7,04 % 20
Demokratische Fortschritts-
partei (PDP)
3,94 % 16
Sonstige 36,43 % 37

Quelle: Unabhängige Wahlkommission (ISIE)

Gestärkte Islamisten

Das Erstarken der Islamisten ist in allen Ländern des „arabischen Frühlings“ zu beobachten, so auch in Tunesien, wo dies auf folgende Gründe zurückgeführt werden kann:
  1. Die islamistischen Parteien sind im Gegensatz zu ihren laizistischen „Gegenspielern“ nicht fragmentiert, da sie unter dem Regime Ben Alis verboten waren. Dies war einer der Gründe, warum viele Wähler sich für Ennahda entschieden, da hierdurch ein klarer Schnitt gegenüber dem ehemaligen Regime vollzogen werden konnte. Bei den laizistischen Parteien kann eine solch deutliche Trennung nicht nachvollzogen werden. Aufgrund der unter Ben Ali eingeführten Kooptionsstrategie konnten sich politische Parteien nur innerhalb der Vorgaben des Regimes entwickeln. Die meisten der „neuen“ Parteien sind aus alten Strukturen entstanden, was Wähler ihnen gegenüber misstrauisch machte.
  2. Die reichen und gebildeten Schichten haben in Tunesien „links“ gewählt, während die Armen „konservativ“ wählten. Die Zahl der Analphabeten unter den Wählern ist bei den Islamisten deutlich höher als bei den laizistischen Parteien. Da zu Zeiten Ben Alis sämtliche karikative Aufgaben durch den Staat erfüllt wurden, konnten die Islamisten nicht durch soziale Arbeit in ungebildete bzw. arme Bevölkerungsschichten vordringen. Nach der Revolution wurde das entstandene Vakuum sehr schnell durch islamische Organisationen gefüllt. Sämtliche Angebote – von der Essensversorgung bis zur Bereitstellung von Schulmaterialien – erfolgten nun durch islamische Vereinigungen. Damit banden die islamischen Parteien viele Wähler an sich.
  3. Die zunehmende Spaltung der Bevölkerung in pro- und antiwestliche Lager. Das Regime unter Ben Ali hat sich gegenüber Israel und den USA stets moderat verhalten und galt als prowestlich. Die Wirtschaftseliten halten nach wie vor an der Zusammenarbeit mit „dem Westen“ fest. Auf dem Land ist jedoch ein Erstarken konservativer Kräfte festzustellen, die eine stärkere Einbindung des Islam in das öffentliche Leben fordern.
Politische Entwicklung seit dem Umbruch

Seit dem Umbruch im Januar 2011 kam es zu einem starken Zuwachs an Parteien und Vereinigungen. Die Liberalisierung der Parteienlandschaft ist das sichtbarste Ergebnis der Revolution. Zugleich etablierte sich eine neue Diskussionskultur. Zu Zeiten des Regimes Ben Ali konnten Missstände nicht im öffentlichen Raum diskutiert werden, da ein dichtes Netz an Spitzeln über das ganze Land verteilt war und den öffentlichen Raum weitestgehend kontrollierte. Die neue Freiheit lässt sich in den zahlreichen Diskussionsveranstaltungen spüren. Dort werden ungehindert Missstände und Probleme angeprangert. Auch in einigen Ministerien vollzieht sich ein Wandel. So wurden im Ministerium für Kultur und den dazugehörigen Instituten sämtliche Führungskräfte ausgetauscht. Zudem wurde von der jungen Generation gefordert, ein Evaluationssystem einzuführen, um die Qualität der Arbeit zu erhöhen. Weite Teile der Verwaltung und Justiz sind jedoch von einem tiefgreifenden Wandel Wandel ausgenommen. In den meisten Ministerien und Ämtern mussten lediglich die Spitzenpositionen gehen. Der Rumpf ist bis auf wenige Ausnahmen geblieben. Somit profitiert die zweite Reihe der Spitzenbeamten, obwohl diese zum größten Teil im bisherigen Regime Karriere machten. Ähnliches gilt für den Justizsektor. Hier kam es immer wieder zu Protesten der Bevölkerung, die mehr Transparenz in Prozessen mit ehemaligen Regimegetreuen einforderte, da diese meist straffrei aus den Prozessen hinausgehen.

Wirtschaftswachstum setzt sich fort

Die wirtschaftlichen Probleme haben sich seit dem Machtwechsel verschärft. Die Arbeitslosenquote beträgt heute offiziell 15 Prozent, inoffiziell wird jedoch von 25 Prozent ausgegangen. Auf dem Land ist die Arbeitslosigkeit teilweise deutlich höher. Nach wie vor treten ca. 140.000 Studienabgänger jährlich in den Arbeitsmarkt ein. Es sind jedoch nur zwischen 60.000 und 65.000 Arbeitsplätze vorhanden. Die meisten dieser Arbeitsplätze befinden sich im Großraum Tunis. Dies ist das Ergebnis der jahrelangen Vernachlässigung des Hinterlandes. In den Jahren 1987 bis 2011 wurden zwar viele Infrastrukturprojekte wie die Elektrifizierung der Dörfer vorangetrieben. Eine Strukturpolitik, wie sie in der EU durch die Fonds für Regionale Entwicklung umgesetzt wird, gab es in Tunesien jedoch nicht. Das Wirtschaftswachstum hat sich seit Anfang 2011 nicht abgeschwächt, sondern erreichte im Jahr 2011 ca. 5,7 Prozent. Die Wachstumsraten in den verschiedenen Branchen fallen jedoch höchst unterschiedlich aus. So konnte das produzierende Gewerbe sich relativ konstant halten. Im Bereich des Tourismus, der vor der Revolution knapp 6,5 Prozent zum BIP beisteuerte, kam es jedoch zu Einbrüchen von bis zu 60 Prozent. Hierbei spielt auch das Fehlen zahlreicher libyscher und algerischer Gäste aufgrund der Entwicklungen in diesen Ländern eine Rolle. Allein die Einnahmen durch den Gesundheitstourismus aus Libyen betrugen vor 2011 circa zwei Milliarden tunesische Dinar.

Neue Freiheit ist zu spüren

Im Gegensatz zu Ägypten, wo das Militär nach der Revolution das Land mit harter Hand führt und Tausende Oppositionelle ohne Prozess gefangen hält, ist Tunesien nach anfänglicher Unsicherheit wieder zum „normalen Leben“ zurückgekehrt. Die Verwaltungsstrukturen funktionieren, sodass es nicht wie in Libyen zu einem Neuanfang kommt. Die neue Freiheit ist vor allem in den Cafés und im Bereich der Medien zu spüren. Es haben sich Tausende neue Vereinigungen gegründet. Die neue Freiheit äußert sich auch in der deutlichen Zunahme von Presse-erzeugnissen. Zahlreiche neue Zeitungen und Zeitschriften sind seit der Revolution erschienen.

Auch die Anzahl der politischen Blogs im Internet hat deutlich zugenommen. Zudem sind etliche neue Nichtregierungsorganisationen entstanden. Theater und Kultur blühen geradezu auf. Im alten Regime mussten Theaterstücke der Zensurbehörde zur Veröffentlichung vorgelegt werden. Dies ist nun nicht mehr der Fall. Jetzt hat man mit einem neuen Regulativ zu kämpfen: den Islamisten. Diese nutzen die neue Freiheit, um ihre Macht zu demonstrieren. Nach der Revolution wurden vermehrt Bevölkerungsgruppen, die in den Augen der Islamisten nicht islamisch genug leben, massiv bedrängt. In der Innenstadt von Tunis überfielen mit Holzbalken bewaffnete Islamisten ein Filmfestival, um gegen die, ihrer Meinung nach, zu liberalen Filme zu protestieren. Zudem kam es vereinzelt zu Übergriffen auf Universitäten, wie im Dezember 2011 in Manouba. Dort gelang es einer Gruppe von radikalen Islamisten, auf den Campus einzudringen. Im Laufe der zweitägigen Besetzung forderten sie eine Trennung von männlichen und weiblichen Studierenden.

Gegenwärtig wird in Tunesien die Macht zwischen den neuen und den alten Eliten neu verteilt. Ob die gemäßigten Islamisten die Aufgaben im wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Bereich bewältigen können, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Die innenpolitischen Probleme sind seit der Revolution deutlich gewachsen. Gefährlich sind die Tendenzen zur Spaltung innerhalb der Bevölkerung zwischen Religiösen und Laizisten. Es bleibt deshalb abzuwarten, ob die religiösen Kräfte mit den laizistischen Parteien jene nationale Einheit bilden, die gegenwärtig notwendig ist.

* Dipl.-Verw. Matthieu Voss, geb. 1980, Promotion an der Universität Potsdam. (matthieu.voss@uni-potsdam.de)


* Aus: WeltTrends. Zeitschrift für internationale Politik, Nr. 82 Januar/Februar 2012, S. 10-14
Die Zeitschrift "WeltTrends" erscheint zweimonatlich (sechs Mal im Jahr) mit einem Jahresumfang von ca. 840 Druckseiten.
Herausgeber: WeltTrends e.V. und Instytut Zachodni Poznañ
Einzelheft: 9,50 Euro; Jahresabonnement: 40 Euro, ermäßigt: 25 Euro.
Anschrift: Redaktion WeltTrends, c/o Universität Potsdam, August-Bebel-Str. 89, D-14482 Potsdam;
Tel.: 0331 977 45 40; e-mail: redaktion@welttrends.de
Internet: www.welttrends.de/




Zurück zur Tunesien-Seite

Zurück zur Homepage