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Unruhen in Tunesien

Ein Toter bei Zusammenstößen zwischen Polizeikräften und Salafisten

Von Karin Leukefeld *

Bei Zusammenstößen zwischen Polizeikräften und Anhängern der sunnitisch-islamistischen Bewegung Ansar Al-Scharia (Kämpfer für das Islamische Recht) am Sonntag ist in Tunesien ein Mensch getötet worden. Bis zu 20 weitere Personen wurden nach Angaben des Innenministeriums verletzt. Die Organisation predigt den dogmatischen Salafismus und kämpft – auch bewaffnet – für die Durchsetzung des islamischen Rechts.

Auslöser der Straßenkämpfe war das Verbot der Jahresversammlung der Bewegung in der historischen Stadt Kairouan, die die Islamisten in diesem Jahr zum dritten Mal durchführen wollten. Innenminister Lotfi Ben Jiddou begründete das Verbot mit der Gewalt, für die Ansar Al-Scharia offen eintritt. Bei der Jahresversammlung 2012 waren Tausende Anhänger erschienen, von denen einige militärische Tarnuniformen trugen, um auf ihre Kampferfahrung in Afghanistan hinzuweisen. Die Männer schwangen Schwerter und riefen Parolen wie »Wir sind alle Kinder von Osama (bin Laden)«.

Saifeddine Rais, Sprecher von Ansar Al-Scharia, hatte trotz Verbots zu einer Versammlung in Ettadhamen, im Westen der tunesischen Hauptstadt Tunis aufgerufen. Der Ortsteil gilt als Hochburg der Bewegung, die in Tunesien eigenen Angaben zufolge 40000 Anhänger haben soll. Man werde die Regierung nicht um Erlaubnis bitten, »um das Wort Gottes zu predigen«, erklärte Rais auf einer Pressekonferenz am Samstag. Ministerpräsident Ali Larayedh »wird sich vor Gott für seine Politik verantworten müssen«, sagte Rais und beschuldigte die Regierung, »die salafistische Bewegung systematisch zu diskriminieren«.

Agenturberichten zufolge hatten sich am Sonntag morgen Hunderte Salafisten in Ettadhamen versammelt. Polizeikräfte setzten Tränengas ein und feuerten Warnschüsse ab. Die Islamisten reagierten mit Steinen und Brandsätzen. Der Sprecher der Islamisten wurde wegen »Aufruf zum Aufruhr« festgenommen. Trotz Verbots hatten sich auch in Kairouan Anhänger der Bewegung versammelt, Polizeiangaben zufolge wurden dort 70 Personen festgenommen. Ministerpräsident Ali Larayedh nahm am Sonntag abend Stellung zu dem Verbot des Kongresses. »Ansar Al-Sharia ist eine illegale Organisation, die den Staat herausfordert und provoziert«, sagte er. Die Organisation sei in den »Terrorismus« verstrickt.

Seit dem Sturz des früheren tunesischen Präsidenten Zine El-Abidine Ben Ali im Januar 2011 ist Tunesien zu einer Drehscheibe für international operierende Gotteskrieger der Ansar Al-Scharia geworden. Sie kämpfen im Norden Malis und im tunesisch-algerischen Grenzgebiet. Im Internetportal Wikipedia sind Hinweise auf Gruppen gleichen Namens in Jemen, Libyen, Mali, Ägypten und Marokko zu finden. Die tunesische Justiz eröffnete Mitte März ein Untersuchungsverfahren gegen die Gruppe, die Hunderte Kämpfer für den Aufstand in Syrien rekrutiert haben soll. Finanziert wird die Anwerbung der Kämpfer Medienberichten zufolge von der Botschaft Katars in Tunis.

In Tunesien geht die Gruppe immer härter gegen Andersdenkende vor. Landesweit setzt sie »Tugendpatrouillen« ein, um Kleidung und Verhalten zu kontrollieren. Anfang Mai war ein Polizeibeamter in Tunis von Islamisten entführt, gefoltert und getötet worden. Der polizeilich gesuchte Prediger der Gruppe, Abu Iyadh, ein ehemaliger Al-Qaida-Kämpfer in Afghanistan, wird von der Regierung unter anderem für den Angriff auf die US-Botschaft in Tunis im September 2012 verantwortlich gemacht. Im Februar 2013 war der bekannte Oppositionelle Chokri Belaid vor seinem Haus in Tunis erschossen worden. Seine Familie machte die Ennahda-Partei politisch für den Mord verantwortlich.

Die in Tunesien regierende islamistische Ennahda-Partei hatte sich bisher nicht eindeutig von Ansar Al-Scharia abgegrenzt und deren eigenmächtiges Handeln gegen Andersdenkende geduldet. Das in den letzten Wochen härtere Vorgehen wird von den Salafisten nun als »anti-islamische Politik« kritisiert.

* junge Welt, Dienstag, 21. Mai 2013


Tunesische Zukunftssuche

Von Roland Etzel **

Tunesien war Auslöser des sogenannten Arabischen Frühlings, als Anfang 2011 Demonstranten, der Polizei trotzend, sich nicht von der Straße treiben ließen und so den Präsidenten in die Flucht schlugen. Verglichen mit den blutigen Machtkämpfen, die danach in anderen arabischen Staaten einsetzten und in Syrien ohne Aussicht auf ein baldiges Ende sind, war der Regimewechsel in Tunis ausgesprochen friedlich.

Ein evolutionärer Prozess von der straffen Diktatur Ben Alis, die innerhalb der muslimischen Welt als ungewöhnlich religionsfern bezeichnet werden muss, zur demokratischen (halb)-islamischen Republik ist das Ziel, aber ohne Vorbild in der Region. Dazu kommt, dass nur wenige der derzeit Regierenden über nennenswerte staatspolitische Erfahrung verfügen. Und schließlich ist da die ungelöste Machtfrage in einer Gesellschaft zwischen zwei Polen: hier die relativ gut ausgebildete, aber - daran gemessen - äußerst perspektivarme Jugend der Städte; dort die religiös geprägte Bevölkerungsmehrheit.

Beide Lager einte der Hass auf Ben Ali, der hilft heute zu keinem Konsens mehr. Denn die neuen Gesellschaftsmodelle der einen wie der anderen Seite sind nicht kompatibel. Es mag Personen in der Regierung geben, die da einen Kompromiss suchen. Aber nach einigen politischen Morden in jüngster Zeit herrscht Misstrauen. Da kann jede unsensible Staatsentscheidung - und eine solche war das alternativlose Verbot des Kongresses vom Sonntag - zum Ausbruch von Gewalt führen.

** neues deutschland, Dienstag, 21. Mai 2013 (Kommentar)


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