Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Machtwechsel in Tunis

Tunesiens Übergangspräsident verhandelt mit Parteien über Regierung der nationalen Einheit *

Nach dem Sturz des tunesischen Präsidenten Ben Ali haben die größten Parteien des Landes mit Verhandlungen über eine Regierung der nationalen Einheit begonnen. Der neue Übergangspräsident Mebazaa versprach im Vorfeld der Gespräche einen demokratischen Machtwechsel. Polizisten und Soldaten bestimmen weiterhin die Straßen der Hauptstadt Tunis, wo am Sonntag (16. Jan.) wieder vereinzelt Geschäfte öffneten.

Chaos und Gewalt in Tunesien: Nach der überstürzten Flucht von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali ins Exil mühen sich die neuen Machthaber und das Militär, die Lage unter Kontrolle zu bringen. Unruhen prägten die ersten Stunden nach dem Ende der Ära Ben Ali, der sich nach Protesten gegen sein Regime am Freitag nach Saudi-Arabien abgesetzt hatte. Auch am Sonntagnachmittag fielen noch Schüsse im Zentrum der Hauptstadt Tunis. Seit Beginn der Proteste starben weit mehr als 130 Menschen, darunter auch ein deutsch-französischer Fotograf. Binnen 24 Stunden hatte das Mittelmeerland drei Präsidenten.

In Tunis ging die Armee gegen Mitglieder der Leibgarde von Ben Ali vor. Nach unbestätigten Berichten wurde der Chef der Leibgarde festgenommen. Augenzeugen berichteten immer wieder von Plünderungen und verschärften Kontrollen des Militärs. Im Zentrum standen am Sonntag weiter Panzer auf den Straßen. Seit der Flucht von Ben Ali gilt in Tunesien der Ausnahmezustand. Auch der Luftraum war zwischenzeitlich gesperrt.

Die großen Reiseveranstalter holten am Wochenende deutsche Urlauber aus Tunesien nach Hause. Am Sonntagabend sollten rund 5000 deutsche Touristen wieder daheim sein. Bei ihrer Rückkehr berichteten viele von Schüssen und Gewalt auf den Straßen.

Übergangspräsident Foued Mebazaa soll nun schnell Wahlen vorbereiten. Der 77-Jährige war schon der zweite Übergangspräsident, der nach der Flucht von Ben Ali ernannt worden war. Nachdem sich der Langzeitpräsident ins Exil abgesetzt hatte, war zunächst Ministerpräsident Mohamed Ghannouchi mit den Amtsgeschäften betraut worden. Ghannouchi soll im Auftrag von Mebazaa nun in Gespräche mit der bisher kaum formierten Opposition treten.

Mehrere Kritiker des alten Regimes erklärten am Sonntag, sie seien mit den Beratungen über die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit nicht zufrieden. Einige von ihnen sagten in Interviews mit arabischen Fernsehsendern, Ghannouchi sei Teil des alten Systems von Ben Ali. Mit ihm sei ein Neuanfang deshalb nicht möglich. Andere erklärten, einige vormals illegale Oppositionsparteien, darunter die Kommunisten, seien zu den Gesprächen nicht eingeladen worden. Diese hätten aber auch ein Recht, mit am Tisch zu sitzen.

Die Aussicht auf baldige Wahlen ist für manche Tunesier allerdings auch Anlass zu Sorge. »Wenn jetzt schnell eine Wahl abgehalten wird, kann die Opposition sich nicht organisieren«, erklärte zum Beispiel der 25-jährige Elias Nefzaoui in Tunis.

Bei einem Gefängnisbrand im Küstenort Monastir starben nach Angaben von Ärzten bis zu 60 Menschen. Nach ersten Erkenntnissen wollten die Häftlinge fliehen und hatten ihre Matratzen in Brand gesteckt. Die Flammen hätten dann schnell auf das gesamte Gebäude übergegriffen. Auch in der Stadt Kasserine stand ein Gefängnis in Flammen.

Die Bundesregierung rief Tunesien auf, eine Demokratie aufzubauen. Bundeskanzlerin Angela Merkel bot dazu Deutschlands Hilfe an.

Libyens Staatschef Gaddafi kritisierte die Proteste im Nachbarland. Zu den neuen Machthabern, die Ben Ali nach 23 Jahren im Amt ablösten, sagte er: »Ich kenne diese neuen Leute nicht, aber wir alle kennen Ben Ali und die Veränderungen, die in Tunesien erzielt wurden. Warum zerstört ihr dies alles?« Tunesien habe sich jetzt »in ein Land verwandelt, das von Banden regiert wird«, so Gaddafi.

* Aus: Neues Deutschland, 17. Januar 2011


Unter Militärkontrolle

Tunesien: Alleinherrscher Zine El Abidine Ali verläßt mitsamt Familienclan fluchtartig das Land. Über seinen Nachfolger gibt es nur Spekulationen

Von Karin Leukefeld **


Das Blatt hat sich gewendet in Tunesien. Nach vier Wochen Massenprotesten gegen Jugendarbeitslosigkeit und steigende Lebenshaltungskosten hat der langjährige Alleinherrscher, Präsident Zine El Abidine Ben Ali, am Freitag das Land verlassen und setzte sich mit seiner Familie nach Saudi-Arabien ab.

In einem letzten Versuch, seine Macht zu retten, hatte Ben Ali noch am Tag vor seiner überstürzten Abreise den Demonstranten weitreichende Zusagen gemacht. Dem Militär hatte er befohlen, keine scharfe Munition mehr einzusetzen, die Gefangenen sollten freigelassen werden. Er kündigte an, sich 2014 aus der Politik zurückzuziehen und Parlamentswahlen in sechs Monaten in Aussicht gestellt. Medien, Gewerkschaften und Parteien sollten zukünftig frei arbeiten können. »Ich habe euch verstanden«, sagte Ben Ali in seiner letzten Fernsehansprache, Tunesien solle umfassend demokratisiert werden. Er senkte die Preise für Milch, Brot und Zucker und kündigte 300000 neue Arbeitsplätze an. Unternehmen, die zehn Prozent ihrer Arbeitsplätze an junge Leute geben würden, so Ben Ali, sollten steuerlich begünstigt werden.

Geheimdienstler

Während die oppositionellen Parteien und Menschenrechtsorganisationen zunächst positiv reagierten, ließen die Massen sich nicht mehr beruhigen. Tausende marschierten zum Innenministerium und forderten mit Sprechchören den sofortigen Rücktritt Ben Alis. »Ben Ali, vielen Dank, aber es reicht!« war eine der Parolen. Die aufmarschierten Polizisten und Soldaten reagierten sehr unterschiedlich. Während einige Tränengas in die Menge schossen, Leute verprügelten und festnahmen, waren auch Verbrüderungsszenen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften zu beobachten. Ben Ali, offenbar unsicher, ob Polizei und Militär noch hinter ihm stehen, entließ die gesamte Regierung, löste das Parlament auf und verhängte den Ausnahmezustand. Dann ließ er sich mit seinem Familienclan zum Flughafen bringen und verschwand. Das Militär übernahm die Kontrolle des Flughafens und sperrte den Luftraum.

Zine El Abidine Ben Ali wurden 1936 geboren, als Tunesien noch unter französischem Protektorat stand. Er wurde in Militärschulen in Frankreich und den USA ausgebildet und machte Karriere im militärischen Geheimdienst seiner Heimat. 1985 wurde er Minister für nationale Sicherheit, 1986 Innenminister und 1987 Ministerpräsident. Im gleichen Jahr putschte er Präsident Habib Bourguiba, der Tunesien 1956 in die Unabhängigkeit geführt hatte, aus dem Amt und wurde selber Präsident. Ben Ali versprach Demokratie und schrieb 1999 die ersten offenen Präsidentschaftswahlen aus, die er mit 99,44 Prozent für sich entschied. Statt Reformen wurden Meinungsfreiheit und freie politische Arbeit weiter eingeschränkt, die Gefängnisse füllten sich mit politischen Häftlingen. Europäern, besonders Deutschen, gilt das Land als eines der beliebtesten Ferienparadiese. 2001 vollzog Ben Ali einen Schulterschluß mit der Bush-Administration im »Kampf gegen den Terror« und ging blutig gegen die islamische Opposition vor.

Neuformierung

Wie es politisch in Tunesien weitergehen wird, ist derzeit völlig unklar. Ministerpräsident Mohammed Al-Ghannouchi übernahm noch am Freitag das Präsidentenamt übergangsweise und versprach, alle angekündigten Reformen umzusetzen. Am Samstag traf er sich mit Vertretern der Opposition, um eine provisorische Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Der bisherige Parlamentssprecher Fouad Mbazaa wurde zum Interimspräsidenten ernannt. Er soll nun für eine Reform des Wahlrechts und für Neuwahlen in sechs Monaten sorgen.

Die USA, Deutschland, Frankreich und die Europäische Union sicherten Tunesien Hilfe beim politischen Neuformierungsprozeß zu. Der dürfte nicht einfach sein, zumal Ben Ali mit »eiserner Faust« 23 Jahre lang die politische Opposition unterdrückte oder aus dem Land trieb. Viele junge Leute kennen nicht mehr die tunesischen Exilpolitiker, die jetzt ins Land zurückkehren und Mühe haben werden, sich Gehör zu verschaffen. Eine charismatische Figur der islamischen Opposition ist Rachid Al-Ghannouchi, der Führer der verbotenen islamischen Nahda, einer islamischen Erneuerungsbewegung. Ghannouchi, der seit 1993 in Londoner Exil lebt, gilt als scharfer Gegner der US-Politik in der arabisch-islamischen Welt und tritt ansonsten für einen reformierten Islam ein, der Demokratie und Menschenrechte achtet. Am Sonntag erklärte Al-Ghannouchi, nach Tunesien zurückzukehren und für Regierungsaufgaben zur Verfügung zu stehen.

Arabische Medien spekulieren, daß der Jurist Kamel Morjane oder Najib Chebbi, Gründer der Progressiven Demokratischen Partei, Nachfolger Ben Alis werden könnten. Morjane, der der Regierungspartei RCD angehört und unter Ben Ali Verteidigungs- und Außenminister war, hatte zuvor Tunesien bei den Vereinten Nationen in New York vertreten. Chebbi ist einer der wenigen Oppositionspolitiker, der Tunesien trotz massiven Drucks nicht verlassen hatte. Dem bisherigen Ministerpräsidenten und Ökonom Mohammed Al-Ghannouchi werden hingegen wenig politische Ambitionen nachgesagt. Medien berichteten schon im vergangenen Jahr, daß er in den Finanzsektor wechseln wolle.

** Aus: junge Welt, 17. Januar 2011


Abgang eines einstigen Hoffnungsträgers

Tunesiens Präsident Ben Ali beugt sich dem Druck der Straße und verlässt das Land / Der politischen Öffnung folgte eine Politik der harten Hand

Von Abida Semouri, Algier ***


Nur knapp vier Wochen Volksaufstand haben 23 Jahren Diktatur ein Ende gesetzt. Im kleinsten Land Nordafrikas ist es erstmals der Bevölkerung gelungen, einen arabischen Despoten zu verjagen.

Durch Tunis läuft ein Mann mit einem selbst geschriebenen Plakat: »Yes, we can!« Stundenlang geht der etwa 60-Jährige vorbei an Soldaten und Polizisten in Uniform und Zivil. Seelenruhig, wie es scheint, aber in seinem Inneren brodelt es. »Ich will es wissen. Ich will mich selbst davon überzeugen, dass es vorbei ist, dass wir hier endlich sagen können, was wir denken.« Niemand behelligt ihn. Er wird nicht verhaftet und kann es gar nicht richtig glauben.

Tunesiens Präsident Ben Ali ist weg, außer Landes. Dem Druck der Straße konnte er nicht standhalten. Dabei hatten die Tunesier anfangs große Hoffnungen in Zine El Abidine Ben Ali gesetzt. Im November 1987 hatte dieser nur fünf Wochen, nachdem er vom damaligen Staatschef Habib Bourguiba zum Regierungschef ernannt worden war, diesen durch einen kalten Putsch abgelöst. Die Menschen jubelten und sahen zunächst auch ihre Forderungen erfüllt. Der politischen Öffnung folgten wirtschaftliche Reformen, die das Land voranbrachten.

Als erste bekamen die Islamisten die harte Hand Ben Alis zu spüren. Er ging restriktiv gegen sie vor, verbot die Partei »En Nahdha« (Die Wiedergeburt), trieb deren Führer Rachid Ghanouchi ins englische Exil und warf Tausende seiner Anhänger ins Gefängnis. Die Mehrheit der Tunesier stand dabei hinter ihrem Präsidenten. Das änderte sich, als sich die Verfolgungen auf die demokratische Opposition, linke Gruppen und Gewerkschaften ausdehnten. Der ehemalige Geheimdienstchef und Innenminister machte unliebsame politische Gegner mundtot, sie und ihre Familien wurden mit »unappetitlichen« Mitteln eingeschüchtert und bedroht.

Wer dennoch Widerstand leistete und nicht ins Ausland flüchtete, kam ins Gefängnis – oft mit Hilfe konstruierter Anklagen wie angeblicher Devisen- oder Steuervergehen. Anwälte prangerten immer wieder Folter und auch Mord an politischen Gefangenen an. Mit einem allgegenwärtigen Spitzelsystem kam Ben Ali jedem, der auch nur die kleinste Kritik übte, auf die Spur. Irgendwann reichte das Misstrauen sogar bis in die Familien hinein.

Dabei bediente sich Ben Ali der bis ins kleinste Dorf reichenden Strukturen seiner Regierungspartei, der Demokratischen Konstitutionellen Sammlungsbewegung (RCD). Der gesamte Staats- und Verwaltungsapparat, Justiz und Medien standen unter seiner Kontrolle. So »gewann« er fünf Mal bei Präsidentschaftswahlen und sicherte sich die Mehrheit im Parlament. Den von ihm ausgesuchten legalen Oppositionsparteien gestand er 20 Prozent der Sitze zu.

Begleitet war diese autoritäre Politik von einem Personenkult nach Ceausescu-Art. Das Portrait des »wohlwollend dreinblickenden Landesvaters« musste nicht nur überlebensgroß an Häuserwänden prangen, sondern auch in jedem Büro, Geschäft und Kiosk hängen. Der allmorgendliche Blick in die gleichgeschalteten Zeitungen versprach stets mehrere Photos des Diktators – immer von oben auf seine Untertanen herabblickend. Diese verordnete Anhimmelung wurde auch gegenüber der First Lady erwartet. Laila Ben Ali schacherte ihrer Familie Posten und Privilegien zu. Aus dem unbedeutenden Clan Trabelsi wurde binnen weniger Jahre die reichste und meist gehasste Familie Tunesiens. Gemeinsam mit einer handvoll anderer Clans bemächtigten sie sich der Kontrolle über die Wirtschaft und teilten die Reichtümer des Landes unter sich auf. Durch »kalte« Enteignungen rissen sie sich florierende Unternehmen unter den Nagel oder schalteten Konkurrenten aus. Zahlreiche profitable Geschäfte des tunesischen Staates mit dem Ausland liefen über die Kanäle dieser Familien, die dafür entsprechende »Gewinne« einkassierten.

Obwohl diese Zustände ein offenes Geheimnis waren, konnte sich das Regime der Rückendeckung aus dem Ausland sicher sein. Ben Ali, der als Offizier seine Ausbildung in den USA und Frankreich absolviert hatte, machte sein Land zum »Musterschüler« der Region. Die Wirtschaft wurde auf die Interessen vor allem der europäischen Partner ausgerichtet. Als erstes Maghrebland unterzeichnete Tunis mit der Europäischen Union in den 90er Jahren ein Assoziierungsabkommen, das 2008 voll in Kraft getreten ist. Darin werden günstige Investitions-, Kapitaltransfer- und Zollbedingungen festgelegt. Die ebenfalls darin angesprochenen Menschenrechtsklauseln wurden von europäischer Seite nie ernsthaft eingeklagt. Stattdessen punktete Ben Ali damit, Tunesien um jeden Preis von Islamisten frei zu halten und massiv gegen »illegale« Migranten aus Afrika vorzugehen.

Tunesien war das erste Land der Region, in dem Auffanglager eingerichtet wurden. Die westlichen Regierungen unterstützten zur Verteidigung des Regimes dessen Argumentation, eine für arabische Länder beispielhafte Gesetzgebung zum Schutz der Frauenrechte zu garantieren und ein hoch entwickeltes Gesundheits- und Bildungssystem aufgebaut zu haben. Vor allem letzteres ist jedoch Ben Ali schließlich zum Verhängnis geworden. Er verweigerte seiner exzellent ausgebildeten Bevölkerung die grundlegendsten Bürgerrechte. Schließlich hat die hohe Arbeitslosigkeit unter Hochschulabsolventen das Fass zum Überlaufen gebracht. Wie groß die Frustration über die Verhältnisse auch in den anderen Teilen der Bevölkerung war, hat die rasche Solidarisierung etwa durch Anwälte, Ärzte, Lehrer und Gewerkschafter mit der spontanen Protestbewegung gezeigt, die schließlich den allmächtig scheinenden Diktator hinweggefegt hat.

Chronologie

  • 20. März 1956: Nach 75 Jahren unter französischer Kontrolle wird Tunesien unabhängig. Habib Bourguiba wird zum Ministerpräsidenten ernannt.
  • 25. Juli 1957: Tunesien wird Republik und Bourguiba zum Präsidenten gewählt.
  • 19. Juli 1961: Bourguiba verlangt, dass die französischen Truppen den Marinestützpunkt in Bizerte im Norden Tunesiens verlassen. Es brechen Kämpfe aus, bei denen 1000 Menschen getötet werden.
  • 7. November 1987: Ministerpräsident Zine el-Abidine Ben Ali setzt Bourguiba ab und ergreift die Macht.
  • 2. April 1989: Ben Ali gewinnt die Präsidentschaftswahl.
  • 20. März 1994: Wiederwahl Ben Alis.
  • 25. September 1999: Ben Ali sichert sich mit einem Wahlergebnis von 99,44 Prozent eine dritte Amtszeit.
  • 11. April 2002: Bei einer Bombenexplosion auf der Insel Djerba werden 21 Menschen getötet, darunter 14 deutsche Touristen.
  • 27. Mai 2002: Ben Ali gewinnt ein Referendum über eine Verfassungsänderung, die ihm erlaubt, erneut anzutreten.
  • 24. Oktober 2004: Ben Ali gewinnt mit 94,48 Prozent eine vierte Amtszeit.
  • Januar bis Juni 2008: In der Region Gafsa kommt es zu vereinzelten Demonstrationen. Bei Zusammenstößen mit der Polizei wird am 6. Juni ein Demonstrant erschossen.
  • Oktober 2009: Ben Ali sichert sich bei Wahlen eine fünfte Amtszeit.
  • 19. Dezember 2010: Wegen Arbeitslosigkeit und hoher Lebensmittelpreise kommt es im gesamten Land zu Unruhen und Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Im Januar gehen die Proteste weiter, mindestens 66 Menschen kommen ums Leben.
  • 14. Januar 2011: Ben Ali verlässt das Land. Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi übernimmt übergangsweise die Amtsgeschäfte.
  • 15. Januar 2011: Parlamentspräsident Foued Mebezza als wird vom Verfassungsrat als Übergangspräsident eingesetzt.
*** Aus: Neues Deutschland, 17. Januar 2011




Fanal Tunis

Von Roland Etzel ****

Das unerwartet schnelle Ende der scheinbar so fest gefügten Ben-Ali-Herrschaft hat bei Millionen Menschen im arabisch-afrikanischen Raum unbändige Freude und Stolz ausgelöst. Da ist Selbstbewusstsein neu erwacht, das allzu lange verschüttet schien. Dagegen dürfte Ben Alis Amtskollegen, Verbündeten und dem tunesischen Sonnenkönig sonstwie zugetanen (Geschäfts)-Partnern das Blut in den Adern gefroren sein. Dass eine zunächst kleine Protestbewegung eine solche Eigendynamik entwickelt und einen ganzen Machtapparat innerhalb von Stunden pulverisiert – das hatte keiner von ihnen auf der Rechnung. Nicht der französische Präsident, der noch Mitte der Woche Loyalitätsbekundungen nach Tunis übermitteln ließ; nicht die deutschen Reisekonzerne, die unbeeindruckt weiter Hunderte von Urlauber an Tunesiens Discounter-Strände gekarrt hatten – sie alle glaubten den Erklärungen Ben Alis, er behalte die Sache im Griff, nur allzu gern.

Das Wort »Revolution«, mit dem man in den westlichen Metropolren – ging es um Georgien oder die Ukraine – gern kokettierte, wird jetzt tunlichst vermieden. Sie haben diesmal wahrlich keine Aktie daran, fühlen sich folglich nicht als Sieger und benehmen sich auch sonst wie Betroffene.

Geblieben ist ihre Arroganz. Oder wie soll man es sonst werten, dass die Bundeskanzlerin zur Demokratie in Tunesien mahnt, was weder ihr noch ihren Vorgängern gegenüber Ben Ali jemals in den Sinn gekommen ist?

**** Aus: Neues Deutschland, 17. Januar 2011

Protestchronik: Auch bei Nachbarn gärt es *****

Die Tunesier protestierten schon früher wegen Hungers und Arbeitslosigkeit als Folgen von aufgezwungenen IWF-Maßnahmen. 1984 wurde ein Aufstand niedergeschlagen, 1988 flammten die »Couscous Proteste« wieder auf. Hunderte Menschen starben bei Gegenmaßnahmen von Sicherheitskräften, mehr als 1000 wurden festgenommen. Daß sie diesmal in kurzer Zeit so erfolgreich waren, kommentiert Marwan Bishara vom arabischen Nachrichtensender Al Dschasira mit Verweis auf den tunesischen Nationaldichter Abu Al-Qasem Al-Shabi. Von ihm stammen die Worte der tunesischen Nationalhymne: »Wenn die Menschen sich entscheiden zu leben, wird das Schicksal gehorchen und eines Tages (…) werden die Ketten der Sklaverei zerbrechen.« Die Tunesier entschieden sich für das Leben. Der tunesische Aufstand habe Erfolg gehabt, weil er in allen Teilen des Landes stattgefunden habe und weil er aus allen Bereichen der Gesellschaft unterstützt worden sei. Islamische und kommunistische Gruppen, Akademiker, Gewerkschafter, alle hätten sich angeschlossen.

In arabischen Nachbarländern gab es zunächst keine offiziellen Reaktionen auf den Sturz des tunesischen Präsidenten. Umso mehr begrüßte die Bevölkerung die Entwicklung in Tunesien. In Ägypten demonstrierten Aktivisten vor der tunesischen Botschaft in Kairo und riefen: »Ben Ali sag Mubarak, daß auch auf ihn ein Flugzeug wartet.« 65 Prozent der Leser der unabhängigen ägyptischen Tageszeitung Al Masri al Youm waren bei einer Umfrage der Meinung, daß die Proteste in Tunesien sich auch auf andere Länder in der arabischen Welt ausweiten werden. Auch in Jordanien, wo es in den letzten Tagen immer wieder zu Protesten gegen Preiserhöhungen gekommen war, wurde der erfolgreiche Aufstand in Tunesien begrüßt. Am Freitag (14. Jan.) zogen rund 10000 Menschen durch die Altstadt Ammans und forderten den Rücktritt der Regierung, für Sonntag ist ein Sitzstreik vor dem Parlament geplant. Eine Grußbotschaft an die Tunesier kam von Exilpalästinensern in den USA, in der es hieß: »Das mutige tunesische Volk hat uns den Weg gezeigt. Sie haben bewiesen, daß es selbst in den schwierigsten Umständen Hoffnung gibt.« (kl)

***** Aus: junge Welt, 17. Januar 2011




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