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Militär und Polizei besetzen Tunis

Unruhen in Tunesien fordern bis zu 70 Todesopfer. Scharfschützen im Einsatz

Von Karin Leukefeld *

Mit einem Aufmarsch von Soldaten und Sondereinsatzkommandos der Polizei hat die tunesische Regierung am Mittwoch auf Proteste in den Außenbezirken von Tunis reagiert. Augenzeugen berichteten von Panzerfahrzeugen und Militärs, die in den Straßen der Hauptstadt patrouillierten und an zentralen Kreuzungen, U-Bahnstationen, vor dem staatlichen Fernsehsender und vor der französischen Botschaft stationiert wurden. Schulen und Universitäten wurden geschlossen, um weitere Proteste zu verhindern. Auch die Zufahrt zum Vorort Cité Ettadhamoun, in dem es in der Nacht zu Mittwoch zu heftigen Protesten gekommen war, wurde abgeriegelt. Augenzeugen berichteten von ausgebrannten Fahrzeugen vor Regierungsbüros. Die Demonstranten, die sich selbst als »Verlorene der Dritten Welt« bezeichnen, seien mit dem Ruf »Wir haben keine Angst« durch die Straßen gezogen. Polizeikräfte hätten Tränengas und vermutlich auch scharfe Munition eingesetzt.

Präsident Zine El Abidine Ben Ali entließ am Mittwoch seinen Innenminister Rafik Belhaj Kacem. Zuvor hatte er in einer Fernsehansprache noch »Islamisten und Linksradikale« für die Gewalt verantwortlich gemacht. Außerdem versprach er, bis Ende 2012 mindestens 300000 neue Arbeitsplätze schaffen zu wollen.

Regierungsstellen korrigierten derweil ihre Angaben über Todesopfer von 14 auf 23, andere Quellen sprechen von bis zu 70 Toten. In Kasserine wurden nach Angaben von Einwohnern des Stadtviertels Hay Noun Unbeteiligte von Scharfschützen der Polizei ermordet. So sei ein 65jähriger Mann erschossen worden, der auf dem Weg zur Moschee war, berichtete der Fernsehsender Arte. Das örtliche Büro der regierungsnahen Gewerkschaft UGTT wurde von rund 60 Polizisten überfallen und ausgeplündert. Dabei habe die Polizei einem jungen Mann alle Zähne ausgeschlagen. 20 Personen, die in den Gewerkschaftsräumen Schutz gesucht hätten, seien verhaftet worden. Nach der Rede von Präsident Ben Ali seien Polizei und Militär abgezogen und hätten das Viertel Hay Noun Kriminellen und Plünderern überlassen.

Die Massenproteste gegen Preiserhöhungen, Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche und soziale Benachteiligung waren Mitte Dezember ausgebrochen. Auslöser war die Selbstverbrennung eines 26jährigen arbeitslosen Akademikers, dem die Polizei verboten hatte, für seinen Lebensunterhalt Obst und Gemüse an einem Straßenstand zu verkaufen. Anfang Januar starb er an seinen schweren Verletzungen.

Auch in Algerien kam es landesweit zu Demonstrationen gegen Preiserhöhungen und Arbeitslosigkeit. In Jordanien hat der dortige König Abdullah inzwischen Konsequenzen aus den Hungerrevolten in den beiden nordafrikanischen Ländern gezogen und Preissenkungen angeordnet. Durch Sonderzahlungen an staatliche Produktionsunternehmen sinken unter anderem die Preise für Zucker, Reis und Geflügel.

* Aus: junge Welt, 13. Januar 2011


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