Tunesien: "Es wird scharf geschossen"
Sozial motivierte Unruhen in dem nordafrikanischen Land weiten sich aus / Bis zu 70 Tote gemeldet *
Bei den sozial motivierten Unruhen in Tunesien sind offenbar deutlich mehr Menschen ums Leben
gekommen als von der Regierung angegeben.
Die Internationale Vereinigung der Menschenrechtsligen sprach am Dienstag
in Paris von mindestens 35 Toten seit dem Wochenende, tunesische Quellen von bis zu 70
Todesopfern. Die tunesische Regierung hatte am Wochenende zunächst von 14 Toten gesprochen.
Allein in Kasserine im Mittelwesten des Landes seien aber seither mehr als 50 Menschen getötet
worden, sagte der Gewerkschafter Sadok Mahmoudi unter Berufung auf Krankenhausmitarbeiter.
»In Kasserine herrscht Chaos.« Häuser und Geschäfte würden geplündert, die Polizei habe sich
zurückgezogen. Auf den Dächern lauerten Heckenschützen, so Mahmoudi vom
Gewerkschaftsdachverband UGTT.
Eine andere Quelle, die anonym bleiben wollte, sprach unter Berufung auf einen Arzt und drei
Krankenschwestern des Krankenhauses von Kasserine von 68 Toten. Die Opfer seien demnach von
Heckenschützen und Sicherheitskräften erschossen worden. Die Krankenhausbelegschaft habe für
eine Stunde die Arbeit niedergelegt, um gegen den Mangel an Blutkonserven zu protestieren und
auf die hohe Zahl der eingelieferten Verletzten aufmerksam zu machen.
UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon rief die Konfliktparteien zum Dialog auf. Ban sei »beunruhigt
über die gewaltsame Eskalation der Auseinandersetzungen« zwischen Polizei und Demonstranten,
sagte sein Sprecher am Montag. Zugleich betonte Ban die »Bedeutung einer allumfassenden
Achtung der Redefreiheit«. In Tunis löste die Polizei am Dienstag eine Demonstration von Künstlern
vor dem Stadttheater auf.
Die LINKE im Bundestag verwies darauf, dass Deutschland drittgrößter Handelspartner und neben
den USA bedeutendster Rüstungslieferant Tunesiens sei. »Seit Jahren werden in dem Land die
Menschenrechte mit Füßen getreten, Oppositionelle und Gewerkschaftler mundtot gemacht«,
erklärte das Mitglied im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Niema
Movassat, mit Blick auf Menschenrechtsverletzungen in dem Land.
Die Proteste gegen die hohe Arbeitslosigkeit in dem nordafrikanischen Land hatten begonnen,
nachdem sich ein junger arbeitsloser Akademiker vor Weihnachten selbst angezündet hatte.
Präsident Zine El Abidine Ben Ali stellte am Montagabend 300 000 neue Jobs in Aussicht. Schulen
und Universitäten wurden aus Sicherheitsgründen geschlossen. Am Montag tötete sich ein weiterer
arbeitsloser Akademiker in der Region Sidi Bouzid, wie ein Augenzeuge und ein Vertrauter der
Familie mitteilten. Der 23-Jährige sei auf einen Strommast geklettert und habe sich mit
Stromschlägen getötet.
Mokhtar Trifi, Präsident der Tunesischen Liga für Menschenrechte, sagte im Interview mit der
französischen Zeitung »l'Humanité«: »Trotz zahlreicher Toter werden die Demonstrationen in
Kasserine und Thala fortgesetzt. Es wird scharf geschossen. Die Anwälte, die an der Beisetzung der
Getöteten teilnehmen wollten, wurden von der Polizei verprügelt. In Tunis wurden Ansammlungen
von der Polizei auseinandergetrieben, vor dem Gericht gab es Rempeleien. Auch in Jendouba, Kef
und Regueb wird weiter demonstriert, in Sfax gibt es einen Generalstreik.« Es gehe derzeit vor allem
darum, »dass sich die Lage wieder beruhigt, dass die Repression beendet wird, und vor allem, dass
aufgehört wird, mit scharfer Munition auf die jugendlichen Demonstranten zu schießen.«
* Aus: Neues Deutschland, 12. Januar 2011
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