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"Soziale Frage bleibt Hauptursache der Revolte"

Der Generalstreik in Tunesien war eine Warnung an die traditionellen Führungseliten. Ein Gespräch mit Omeya Seddik *


Omeya Seddik ist Politologe und Vorsitzender der tunesichen Nicht-Regierungsorganisation Al-Muqaddima. In der Übergangsregierung unmittelbar nach der Revolution war er Staatssekretär für Immigration.

Wer ist Ihrer Ansicht nach für die Ermordung des Führers der Partei der Vereinigten Demokratischen Patrioten (PPDU), Chokri Belaïd, verantwortlich?

Es handelt sich um das Werk eines Kommandos, das aus Profis besteht und wahrscheinlich Teil eines organisierten Netzwerkes ist. Das sind Experten im Umgang mit Feuerwaffen. Sie verfolgen eine Strategie der Spannung, um das Land in den Bürgerkrieg zu führen. Im Augenblick geht man vielen Spuren nach, und ich kann keine davon ausschließen.

Denken Sie, daß der Mord von Polizisten verübt wurde?

Das ist eine ernstzunehmende Vermutung. Das tunesische Sicherheitssystem ist weit entwickelt und extrem komplex. Durch die Revolution von 2011 hat es eine radikale Umwälzung erfahren. Heute sind innerhalb dieses Systems selbständige Gruppen aktiv, die mit verschiedenen Protagonisten des politischen und sozialen Lebens verbunden sind.

Die Einschüchterung linker Bewegungen begann mit dem Angriff auf den PPDU-Parteitag im Gouvernement Kef am 2. Februar. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesem Ereignis und der Ermordung Chokri Belaïds?

Ich glaube nicht, daß direkte Verbindungen bestehen. Beide Ereignisse zeigen allerdings den hohen Grad an politischer Gewalt, der im Land herrscht.

Hat dieses Klima in erster Linie die islamische Partei Ennahda geschaffen, die als Siegerin aus den Wahlen hervorgegangen ist?

Paradoxerweise glauben die Islamisten, sie seien das wahre Ziel dieses Attentats gewesen. Die Ennahda-Politiker haben nach Jahrzehnten nun eine politische Mehrheit und versuchen zu regieren – da unterminieren solche Geschehnisse die Stabilität des Landes und der islamistischen Exekutive.

Wie wird die Regierung zusammengesetzt sein, die Ministerpräsident Dschebali bilden will?

Wenn es eine Regierung aus »parteilosen Experten« wird, ist sie schon ein Indiz dafür, daß ein Staatstreich im Gange ist. Die Opposition will bei der Regierungsbildung zumindest konsultiert werden, die Tunesier wollen eine Regierung der nationalen Einheit, an der die Volksfront beteiligt ist.

Gerät durch die Tötung Belaïds die Rekonstruktion der linken Bewegung in Gefahr?

Ohne Frage – sein Tod hat die tunesische Linke empfindlich getroffen, er war radikal und entschlossen. Die Ermordung eines ihrer zwei Sprecher vervielfacht aber die Kräfte der Volksfront und macht sie zu einer angesehenen Partei.

Könnte durch den Rücktritt der Oppositionsvertreter auch die Erarbeitung der neuen Verfassung scheitern?

Sie sind nicht zurückgetreten, sie haben ihre Teilnahme an der Verfassunggebenden Versammlung nur ausgesetzt. Dieses Gremium soll garantieren, daß kein politisches Vakuum entsteht und daß die wirtschaftliche und soziale Krise sich nicht so zuspitzt, daß sie den Bestand der Institutionen gefährdet.

Eine erste Reaktion der Opposition war der Generalstreik am Freitag, nur zwei Tage nach dem Anschlag. Wie beurteilen Sie diesen Schritt?

Es war eine Warnung an die tunesische Führungselite, damit sie begreift, daß der revolutionäre Prozeß nicht am Ende ist. Die soziale Frage bleibt die Hauptursache der Revolten.

Interview: Giuseppe Acconcia

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 13. Februar 2013


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