"Für eine friedvolle Entwicklung und den Fortschritt der tunesischen Gesellschaft"
Aus großer Sorge: Solidaritätserklärung mit Prof. Kazdaghli und den tunesischen Hochschullehrern
"Die Entwicklungen in Tunesien, ein Land mit dem ich seit meiner Studienzeit eng verbunden bin, erfüllen mich mit großer Sorge: Theaterleute und Journalisten werden auf offener Straße verprügelt, der Direktor einer Fernsehanstalt, die den Film "Persepolis" ausgestrahlt hat, wird verurteilt. Gewerkschafter werden attackiert und verhaftet.
Im Entwurf zur neuen Verfassung sollen die Frauen "die Ergänzung des Mannes" sein - in der alten Verfassung von 1956 waren sie voll gleichberechtigt. (...)
Ein Höhepunkt des Auseinandersetzungen ist sei November 2011 die Universität Tunis La Manouba. Dem Dekan der dortigen philologischen Fakultät Prof. Kazdaghli, der sich dem religiösen Fanatismus widersetzt, droht eine fünfjährige Haftstrafe.
In dieser Situation, in der elementare Freiheiten gefährdet sind, bitte ich Sie/Euch um Unterzeichnung des Appells zur Unterstützung von Habib Kazdaghli."
Diesen Appell von Werner Ruf wollen wir ausdrücklich bekräftigen und bitten um entsprechende Verbreitung der folgenden Solidaritätserklärung mit Prof. Kazdaghli.
(AG Friedensforschung)
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Solidaritätserklärung mit Prof. Kazdaghli und den tunesischen Hochschullehrern
Wir Hochschullehrer, Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstler, unterstützen hiermit die tunesischen Intellektuellen, die sich für die Verteidigung der garantierten Grundrechte auf Freiheit von Forschung und Lehre an den Hochschulen ihres Landes einsetzen.
Wir teilen ihre Sorge und sind beunruhigt über den Druck, die Provokationen und die Einschüchterungen, denen Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer bei ihrer Arbeit und Künstler bei der Ausstellung ihrer Werke ausgesetzt sind.
Wir waren bestürzt, als wir erfuhren, dass gegen Prof. Dr. Habib Kazdaghli, Dekan der philologischen Fakultät der Universität Manouba/Tunis, gerichtlich vorgegangen wird, und dass ihm eine hohe Gefängnisstrafe droht. Ihm wird vorgeworfen, eine Studentin angegriffen zu haben, obwohl er derjenige war, der das Opfer von Aggressionen war, die elementare Verhaltensregeln gegenüber einem Hochschullehrer und Dekan verletzen. Diese Fakten werden von vielen Zeugen bestätigt.
Wir drücken unsere uneingeschränkte Solidarität mit allen Hochschullehrern, Intellektuellen und Künstlern aus, die die Werte der Wissenschaften, des Humanismus und der Freiheit der Künste mit Nachdruck und Mut verteidigen. Die Freiheit der Lehre, der Forschung und des künstlerischen Schaffens ist eine unabdingbare Voraussetzung für ein von jeglichem politischen und ideologischen Druck befreites universitäres und künstlerisches Leben und stellt einen universell anerkannten Wert dar. Auf diese Freiheit gibt es keinen Verzicht, will man eine friedvolle Entwicklung und den Fortschritt der tunesischen Gesellschaft.
Erstunterzeichner/innen
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Dr. Gisela Baumgratz-Gangl, Prof. i. R. Fachhochschule Fulda
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Dr. Christine Brückner, Professorin für Erziehungswissenschaften i. R., FH München
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Dr. Ulrike Freitag, Professorin für Islamwissenschaft, Freie Universität Berlin
Direktorin des Zentrums Moderner Orient, Berlin
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Dr. Martina Haedrich, Professorin für Völkerrecht, Universität Jena
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Dr. Günter Meyer, Universität Mainz
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Dr. Rachid, Ouaissa, Professor für Politikwissenschaft, Centrum Nah- und Mittelost-Studien, Universität Marburg
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Dr. Werner Ruf, Professor für Politikwissenschaft i. R., Universität Kassel
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Dr. Oliver Schlumberger, Professor für Politikwissenschaft, Universität Tübingen
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Dr. Udo Steinbach, Professor für Islamwissenschaft, Berlin/Universität Viadrina, Frankfurt/Oder
Ich unterzeichne die Solidaritätserklärung mit Prof. Kazdaghli und den tunesischen Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern
Name / Vorname / Titel/Funktion
ANHANG:
Kurze Chronologie der Ereignisse in der Philologischen Fakultät der Universität Manouba/Tunis
6. – 7. Oktober 2011: Die Verwaltung der Philologischen Fakultät von Sousse (Zentraltunesien) lehnte es ab, eine Studentin mit Niqab (d. h. totalverschleiert) einzuschreiben. Am darauf folgenden Tag (7. Okt.) kam ihr eine Schar von Salafisten zu Hilfe, die mit der Fakultät nichts zu tun hatten, und griffen Hochschullehrer, Verwaltungspersonal, Studentinnen und Studenten an.
Mitte Oktober 2011: In der Philologischen Fakultät der Universität von Manouba/Tunis tauchten die ersten beiden Studentinnen mit Niqab auf.
Nach den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung für das postrevolutionäre Tunesien am 23. Oktober 2011 und dem guten Abschneiden der islamistisch orientierten Ennahda-Partei (42%) versammelte sich eine Gruppe von salafistischen Studenten vor dem Büro des Dekans und verlangte, dass ihre ‚Schwestern‘ mit Niqab am Unterricht teilnehmen durften.
2. November 2011: Der Wissenschaftliche Rat der Fakultät beschloss, dass alle Studentinnen mit unbedecktem Gesicht zum Unterricht, zu Prüfungen und zu den Betreuungssitzungen zu erscheinen haben.
Die Verhandlungen zwischen den Salafisten und dem Wissenschaftlichen Rat, an dessen Spitze der Dekan steht, dauerten den ganzen Monat November an, ohne dass eine Lösung gefunden wurde. Die Salafisten bestanden weiterhin auf ihre folgenden vier Forderungen: das Recht, dem Unterricht im Niqab beizuwohnen; die Bereitstellung eines Gebetsraumes in der Fakultät; Trennung der Studierenden nach ihrem Geschlecht; Studentinnen sollen von Frauen und Studenten von Männern unterrichtet werden.
28. November 2011: Gegen 8 Uhr morgens wurde die Philologische Fakultät von Manouba von Dutzenden von Salafisten besetzt, die nicht zur Fakultät gehören. Sie hinderten die Studierenden daran, ihre Seminare zu besuchen, indem sie die Eingangstüren der verschiedenen Abteilungen schlossen, und begannen ein Sit-in in dem Hauptverwaltungsgebäude, wo sich das Büro des Dekans befindet. Am selben Tag versuchten sie auch, den Dekan, Prof. Dr. Habib Kazdaghli gefangen zu setzen, scheiterten jedoch an der massiven Solidarität der demokratischen Parteien und Organisationen der Zivilgesellschaft, die über das Radio von den Geschehnissen erfuhren und dem Dekan zu Hilfe eilten.
6. Dezember 2011: Trotz der schwierigen Bedingungen, denen er ausgesetzt war, ging der Dekan seinen täglichen Aufgaben nach. So lagen vor seinem Büro Schuhe, Mikrophone, Lautsprecher, Essen, Gebetsteppiche und Matratzen, denn die Sit-inner übernachteten dort. Am 6. Dezember hinderten die Salafisten den Dekan daran, das Hauptverwaltungsgebäude zu betreten und folglich zu seinem Büro zu gelangen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Fakultät zu schließen und die Polizei um Hilfe zu ersuchen. Die Polizei kam aber erst am 5. Januar 2012, also einen Monat später, um dem Sit-in ein Ende zu setzen. Eine Handvoll Salafisten, unterstützt durch das Wohlwollen der islamistisch geprägten Regierung, verhinderte einen Monat lang den Lehrbetrieb für die rd. 8000 Studentinnen und Studenten. Trotz der Präsenz der Polizei blieb die Situation angespannt. Sie spitzte sich am 6. und 7. März weiter zu.
6. März 2012: Zwei Studentinnen mit Niqab betraten ohne Voranmeldung das Büro des Dekans und verwüsteten es, als Reaktion auf die Entscheidung des Disziplinarausschuss vom 2. März, sie – und einen weiteren Studenten – von der Uni zu verweisen. Eine der Studentinnen inszenierte dann einen Ohnmachtsanfall und behauptete später, der Dekan habe sie geschlagen, wobei viele Zeugen bestätigten, dass der Dekan bereits die Fakultät verlassen hatte, als der angebliche Ohnmachtsanfall stattfand: Er wollte bei der Polizei Anzeige gegen die Studentinnen erstatten.
7. März 2012: Etwa 100 Salafisten aus den umliegenden Vierteln versammelten sich vor der Fakultät, terrorisierten die Studierenden, holten die tunesische Nationalfahne ein und ersetzten diese durch die schwarze Fahne von El Kaïda.
9. Juni 2012: Der Dekan bekam für den 5. Juli eine Vorladung vor Gericht. Der Hauptanklagepunkt lautet: Er habe gegen eine Studentin mit Niqab leichte Gewalt ausgeübt. Die Studentinnen, die das Büro verwüstet hatten, bleiben unbehelligt.
5. Juli 2012: Am Prozesstag wurde der Hauptanklagepunkt von der Staatsanwaltschaft geändert und verschärft, sodass dem Dekan eine Haftstrafe von fünf Jahren droht. Ihm wird nun vorgeworfen, bei der Ausübung seiner Funktion als Beamter ohne legitimen Anlass Gewalt gegen Personen begangen zu haben (Art. 101 des tunesischen Strafgesetzbuches). Auf Antrag seiner Rechtsanwälte wurde der Prozess auf den 25. Oktober 2012 vertagt.
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