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Unruhen in Tunesien

Führende Ennahda-Partei löst Probleme der Bevölkerung nicht. Präsident warnt vor Dschihadisten

Von Karin Leukefeld *

Nach wochenlangen, teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, hat die tunesische Regierung Mohamed Najib Mansouri, den Gouverneur der Stadt Sidi Bouzid, entlassen. Als Nachfolger wurde Amara Tlijani bestimmt, der zuvor Gouverneur der südlichen Region Kebili war.

Die Aktivisten begrüßten die Entlassung Mansouris, kritisierten aber gleichzeitig den Nachfolger. Die Regierung in Tunis habe »jemanden als Gouverneur eingesetzt, der fünf Jahre lang nicht in der Lage war, die Entwicklung von Sidi Bouzid voranzubringen«, kritisierte eine Protestgruppe. Der Ökonom Tlijani war unter dem früheren Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali im Entwicklungssektor tätig, unter anderem auch in der zentraltunesischen Stadt Sidi Bouzid. Ministerpräsident Hamadi Jabali wies die Anschuldigungen zurück und sagte, man habe versucht, »eine Person zu finden, die kompetent, effizient und ehrlich« sei.

Die Proteste in Sidi Bouzid waren am vergangenen Wochenende eskaliert, als die Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen gegen rund 1000 Demonstranten vorging. In den Nachbarstädten Thala und Meknassy folgte die Bevölkerung am Montag dem Aufruf der größten tunesischen Gewerkschaft (UGTT) zu einem Generalstreik. In Kebili blockierten Demonstranten eine Straße.

Sidi Bouzid gilt als »Wiege der tunesischen Revolution«. Die Selbsttötung eines jungen Straßenverkäufers im Dezember 2010 führte zum Sturz von Präsident Ben Ali. Die anhaltenden sozialen Unruhen in Tunesien zeigen, daß die islamische Regierung unter Führung der Ennahda-Partei (Muslimbruderschaft) die Probleme der Bevölkerung nicht löst. Arbeitsplätze, soziale Versorgung und angemessener, bezahlbarer Wohnraum gehören – wie auch zu Zeiten von Präsident Ben Ali – zu den dringendsten Forderungen. Rund 12000 junge Hochschulabsolventen finden in Sidi Bouzid keine angemessene Arbeit. Lehrer legten die Arbeit nieder, Abgeordnete protestierten mit einem Hungerstreik.

Auch die Hauptstadt Tunis kommt nicht zur Ruhe, wo Salafisten ihre rückwärts gewandten Lebensvorstellungen durchsetzen wollen. Die Fakultät für Gesellschaftswissenschaften an der Universität Tunis wurde am 4. Oktober aus Sicherheitsgründen für drei Tage geschlossen, nachdem Mitglieder der Allgemeinen Tunesischen Studentenunion mit Anhängern der Studierendengruppe Nahdawi in einen gewaltsamen Streit über das Tragen des Ganzkörperschleiers (Niqab) geraten waren. Nahdawi steht der regierenden Ennahda-Partei nahe. Man habe die Fakultät geschlossen, nachdem etwa 30 mit Messern und Keulen bewaffnete Männer vor dem Universitätsgelände aufgetaucht seien, sagte der Direktor der Fakultät, Noureddine Kridiss der tunesischen Tageszeitung La Presse. Die Bewaffneten seien »gekommen, um die zweite Gruppe der Studierenden zu unterstützen«. Die Anhänger von Nahdawi beschuldigten in einer Erklärung die andere Seite, die Gewalt ausgelöst zu haben. »Sie wurden begleitet von einer Gruppe, die (…) Messer und Tränengasbehälter trug«.

Die ultradogmatischen Salafisten drängen die islamistische Ennahda-Regierung, gegen die säkular orientierte tunesische Gesellschaft religiös motivierte Restriktionen einzuleiten. Bei Protesten gegen einen den Islam verhöhnenden Film aus den USA, waren sie Mitte September gegen die US-Botschaft gestürmt, es gab vier Tote und viele Verletzte. In einem Interview mit der arabischen Tageszeitung Al-Hayat warnte der tunesische Präsident Moncef Marzouki Anfang Oktober davor, daß der gesamte Maghreb (Nordafrika) zu einer »Drehscheibe für Dschihadisten« (Gotteskrieger) werden könnte. Diese Kämpfer kämen derzeit »aus Afghanistan und Pakistan in den arabischen Maghreb«, es lauere eine »große Gefahr vor unserer Haustür«. Allein in Tunesien schätzt Marzouki die Zahl der militanten Islamisten auf 3000. Das seien diejenigen, die den Behörden bekannt seien.

Um die angespannte Lage besser kontrollieren zu können, hat die tunesische Regierung den seit dem Sturz von Ben Ali im Januar 2011 geltenden Ausnahmezustand bis Ende Oktober verlängert.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 10. Oktober 2012


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