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Islamisten geben sich gemäßigt

Erster Parteikongress der regierenden tunesischen Ennahda seit 1988

Von Reiner Wandler, Madrid *

Die islamistische Regierungspartei Tunesiens hat erstmals seit zweieinhalb Jahrzehnten einen Parteitag veranstaltet. Radikale Islamisten kritisierten die Koalition mit kleineren Mitte-Links-Parteien, doch die Führung setzt auf Konsens.

Es war ein historisches Wochenende für das neue Tunesien. Eineinhalb Jahre nach dem Sturz des Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali am 14. Januar 2011 rief die Partei Ennahda am Wochenende zum viertägigen 9. Parteikongress. Die Islamisten sind die größte politische Formation des Landes und haben in der Regierung die Mehrheit. Erstmals seit 1988 konnten sie ihren Parteitag wieder in Tunesien abhalten. Viele derer, die dem Kongress vorsaßen, waren wie Regierungschef Hamadi Jebali jahrelang in Haft oder wie Parteichef Rachid Ghannouchi im Exil.

Auf dem Parteitag, der zehntausende Anhänger in einem Kongresszentrum in Tunis versammelte, gab sich die Ennahda betont gemäßigt. »Das Land braucht Konsens und Einheit«, erklärte Ghannouchi. Er verteidigte die Koalition mit zwei kleineren, säkularen Parteien aus dem Mitte-Links-Spektrum, der Ettakatol, deren Chef Mustapha Ben Jafaar der Verfassunggebenden Versammlung vorsteht, und dem Kongress für die Republik (CPR), dessen Vorsitzender Moncef Marzouki Staatspräsident ist. Immer wieder war von einer »Zentrumsfront« die Rede, die Tunesien aus der Krise führen müsse.

Allerdings hörten das nicht alle in der Partei gerne. Der radikale Flügel hatte sich vom Wahlsieg eine schnelle Islamisierung der Gesellschaft versprochen. Doch Ennahda verzichtete unter dem Druck der anderen Kräfte darauf, das islamische Recht in der Präambel der künftigen Verfassung als Systemgrundlage zu verankern.

Ennahda wandert auf einem Grat zwischen der eigenen Basis und den Wählern, die längst nicht alle Islamisten sind. In den vergangenen Monaten wurde immer wieder Kritik an der Regierung Jebali laut. So legte das Komitee für die Reform der Medien die Arbeit nieder, nachdem der Regierungschef eigenmächtig Auswechslungen in den Chefetagen von Funk und Fernsehen vorgenommen hatte. Viele werfen Ennahda außerdem vor, zu zögerlich gegen radikale Salafisten vorzugehen, die immer wieder für gewalttätige Übergriffe auf fortschrittliche Politiker, Kulturveranstaltungen und Universitäten verantwortlich sind.

Die eigentliche Prüfung steht der Partei im nächsten März bevor. Dann soll die Verfassung entworfen sein, und ein neues Parlament wird gewählt. Waren die säkularen Parteien beim ersten Urnengang nach Ben Alis Flucht noch zersplittert, dürfte es Ennahda nun mit zwei starken Mitbewerbern zu tun bekommen. Maya Jribi, die einstige Vorsitzende der sozialdemokratischen Demokratische Fortschrittspartei (PDP), und deren historischer Führer Nejib Chebbi haben im April mehr als ein Dutzend kleinerer Gruppen und unabhängiger Listen zur Republikanischen Partei (PR) vereint. Und der Premier der Übergangsregierung vor den Wahlen vom Oktober, Béji Caïd Essebsi, will mit seiner im Juni gegründeten Nida Tounes (Appell Tunesien) einen liberalen Block bilden. Der 85-Jährige Essebsi wird vermutlich viele derer an sich binden, die nach wie vor an die modernistischen Ideen des ersten Präsidenten Habib Bourguiba glauben. Außerdem dürfte Essebsi auch bei denen Erfolg haben, die nach dem Sturz Ben Alis und dessen Partei RCD heimatlos geworden sind.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 17. Juli 2012


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