Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Eine Partei zuviel

Tunesien: Demonstranten und Oppositionspolitiker fordern umgehende Auflösung von Ben Alis RCD

Von Karin Leukefeld *

Die Proteste gegen die Partei des gestürzten tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali hielten auch am Mittwoch an. Unter Führung des Gewerkschaftsverbandes UGTT forderten die Demonstranten die Auflösung der Demokratischen Sammlung (RCD) Ben Alis, die 23 Jahre allein regiert hatte. Niemand, der dieser Partei angehöre, dürfe ein Amt in der Übergangsregierung bekleiden, hieß es bei den Protesten in den Straßen von Tunis. Sonst bleibe die neue Regierung »Augenwischerei« und »eine Beleidigung für die Revolution«, die so viele Opfer gefordert habe.

Vertreter des oppositionellen Demokratischen Forums für Arbeit und Freiheit (FDTL) erklärten, erst dann im Kabinett der »nationalen Einheit« mitarbeiten zu wollen, wenn die RCD sich aufgelöst habe. Der Parteivorsitzende Mustapha Ben Jaafar war nur einen Tag nach seiner Ernennung zum Gesundheitsminister am Dienstag mit drei weiteren Ministern zurückgetreten, um gegen die große Präsenz von RCD-Mitgliedern im Kabinett zu protestieren. Slim Amamou, ein Blogger, der unmittelbar nach der Flucht von Ben Ali aus dem Gefängnis freikam, behielt hingegen seinen Posten als Minister für Jugend und Sport. Die Regierung sei ohnehin nur befristet und habe die Aufgabe, Wahlen zu organisieren. Ihm sei klar, daß er nicht gewählt worden sei, doch wolle er im Kabinett bleiben, um mitzubekommen, wie so eine Regierung funktioniere, sagte Amamou der britischen BBC.

Am Dienstag (18. Jan.) war der prominente Exilpolitiker Moncef Marzouki aus dem französischen Exil nach Tunesien zurückgekehrt. Der Arzt war langjähriger Vorsitzender der tunesischen Menschenrechtsliga und gründete 2001 im Exil die Partei »Kongreß für die Republik“ (CPR), für die er bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren will. Die RCD-Partei sei ein »Parasit« und müsse verschwinden, sagte er nach seiner Ankunft. Saudi-Arabien forderte er auf, den geflüchteten Präsidenten Ben Ali an Tunesien auszuliefern, damit er für seine »Verbrechen am tunesischen Volk« vor Gericht gestellt werden könne. Nach dessen Flucht am vergangenen Freitag hatte Saudi-Arabien Ben Ali und seiner Familie die Einreise erlaubt.

Als Reaktion auf die Proteste gegen die RCD sind Ministerpräsident Mohammed Al-Ghannouchi und Übergangspräsident Fouad Mebazaa mittlerweile aus der Partei ausgetreten. Ghannouchi beharrte dennoch weiterhin auf der Mitarbeit der alten Minister, da sie »mit ihrer Erfahrung in der schwierigen Übergangsphase« gebraucht würden. Der Opposition versprach er »weitreichende Reformen«. Ein für Mittwoch geplantes erstes Treffen der Übergangsregierung wurde derweil verschoben.

Ausgeschlossen von der »demokratischen Öffnung« à la Ghannouchi bleiben weiterhin die Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens (PCOT) und die islamische Partei Al-Nahda. PCOT-Sprecher Hamma Hammami, der erst nach dem Sturz Ben Alis aus dem Gefängnis entlassen worden war, warf der Übergangsregierung vor, »das alte Regime konservieren« zu wollen, alle autoritären Strukturen seien »immer noch da«. Hammami distanzierte sich gleichzeitig von islamischen Parteien, die den »säkularen« Aufstand »theologisch zu instrumentalisieren« versuchten. Das Volk müsse vereint bleiben in seinen Hoffnungen, niemand dürfe es spalten.

Unterdessen reiste der tunesische Außenminister Kamal Merjan überraschend aus dem ägyptischen Scharm Al-Scheich ab. Nach Auskunft der Flughafenbehörden verließ er den Ort am Mittwoch noch vor der Eröffnung des Treffens der Arabischen Liga. Deren Generalsekretär bezeichnete wenig später in seiner Rede ebendort den Aufstand in Tunesien als Warnung für andere Länder in der arabischen Welt, daß die Empörung der Menschen einen neuen Höhepunkt erreicht habe. Amr Mussa stellte einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung in Tunesien und der sich allgemein verschlechternden wirtschaftlichen Lage in der arabischen Welt her. »Die arabische Seele ist gebrochen durch Armut, Arbeitslosigkeit und die allgemeine Rezession«, erklärte Mussa.

Die Unruhen in Tunesien hatten auch in anderen arabischen Ländern den Ruf nach politischen Veränderungen laut werden lassen. »Die tunesische Revolution ist nicht weit von uns entfernt«, warnte Mussa. Die Wut und die Frustration der Menschen in der arabischen Welt habe ein neues Niveau erreicht. Er forderte eine arabische Renaissance, um den Menschen wieder Hoffnung zu geben.

* Aus: junge Welt, 20. Januar 2011


Seit' an Seit' mit Ben Ali

Von Roland Etzel **

Die Sozialistische Internationale (SI) hat seit Dienstag (18. Jan.) ein Mitglied weniger. Ihr Vizepräsident Martin Schulz (SPD) teilte mit, dass Tunesiens bisherige Regierungspartei, die Konstitutionelle Demokratische Sammlung (RCD), angesichts der »außergewöhnlichen Umstände in Einklang mit den Werten und Prinzipien unserer Bewegung« ausgeschlossen worden sei. Die Frage, die sicher nicht allein dem Durchschnitts-SPD-Mitglied durch den Kopf schießt – »Warum waren die überhaupt drin?« –, hat Schulz vorausgesehen. Man müsse doch mit denen reden, um, so darf man weiterdenken, Seit' an Seit' mit Ben Ali ihn über seine Partei eventuell beeinflussen zu können. Und – haben sie?

Wie und mit welchem Ergebnis die SPD, die französische PS und andere führende SI-Parteien dies in den vergangenen Jahren taten – die Antwort blieb Schulz leider schuldig. Und ebenso, warum gerade gestern der Stab über die RCD gebrochen wurde. Welcher Art sind also die »Werte und Prinzipien« der SI, dass sie von Ben Alis Staatspartei erst seit dieser Woche nachhaltig verletzt werden konnten?

Vielleicht könnte der Europa-Parlamentarier und SI-Vize Schulz auch erklären, warum die miese Menschenrechtslage in Tunesien in »seinem« Straßburger Parlament durch seine Fraktion seit Jahren wortreich zur Sprache gebracht wird, nicht aber auf den Tagungen der SI, wo man mit leibhaftigen RCD-Granden Fraktur hätte reden können. Sei's drum. Man sollte Schulz eine zweite Chance geben. Auch der anscheinend SI-kompatibel ausstaffierte Wahlverein von Ägyptens Präsident Mubarak ist Mitglied. Jetzt wäre die Chance ... Aber dann wäre die SI wohl nicht die SI.

** Aus: Neues Deutschland, 20. Januar 2011 (Kommentar)


Zurück zur Tunesien-Seite

Zurück zur Homepage