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Tunesien: "heimtückische Diktatur und schrecklicher Polizeistaat"

Repression und Menschenrechtsverletzungen in einem Touristenland - ein Bericht

Unter dem Titel "Repression im Touristenland" veröffentlichte die Frankfurter Rundschau am 8. Mai 2001 einen Bericht von Claudia Sautter, in dem das Touristenparadies Tunesien für die deutschen Leser/innen in einem ungewohnten Licht erscheint. Die wenigsten wissen nämlich hier zu Lande, wie es um die Demokratie und die Menschenrechte, wie es um Presse- und Meinungsfreiheit in Tunesien bestellt ist. Nur wenige Organisationen wie amnesty international prangern die ihnen bekannt gewordenen Menschenrechtsverletzungen in ihren Berichten an. Wir dokumentieren den FR-Artikel in Auszügen.

Repression im Touristenland

Wie das tunesische Regime seine Kritiker mundtot macht

Von Claudia Sautter (Sousse)


... In Sichtweite seines kleinen Hauses in der Straße der Adler spielen wohlhabende Urlauber Golf. Sie wissen nicht, dass Moneef Marzouki in fast vollständiger Isolation leben muss. Seine Frau und die beiden Kinder sind vor den täglichen Schikanen der Polizei nach Frankreich geflüchtet. Im Sommer hat ihm die Medizinische Fakultät der Universität Sousse auf Anweisung "von oben" gekündigt. Moneef Marzouki darf Tunesien nicht verlassen. Er hätte am 1. April eine Stelle an der Universität Bobigny in Paris antreten können. Aber die tunesische Regierung lässt ihn nicht ausreisen. ...

Moneef Marzouki hat den Fehler begangen, anlässlich des 50. Jahrestages der Erklärung der Menschenrechte den "Nationalrat für Freiheit in Tunesien" zu gründen. Ende vergangenen Jahres verurteilte ihn ein Gericht zu einer einjährigen Gefängnisstrafe. Aber die wird nicht exekutiert. Marzouki lebt täglich mit der Angst, abgeführt zu werden. ... Verwandte und Freunde stecken ihm Geld zu, sonst müsste Marzouki betteln gehen. Er ist am Ende einer Karriere, die hoffnungsvoll an der Universität in Straßburg begann. Aber das ist lange her. ...

Moneef Marzouki ist einer von 93 Unterzeichnern eines Manifestes gegen die Repression in Tunesien. Es trägt den Titel "Tunesien 2004". In diesem Jahr wird nämlich im kleinsten Maghrebland ein neuer Präsident gewählt, und die Unterzeichner fürchten, dass der neue der alte sein wird: Zine el-Abidine Ben Ali. Er ist in seiner dritten Amtszeit, und wenn es nach den 93 Intellektuellen geht, dann soll es seine letzte sein. Aber das ist nicht sicher. Angeblich hatte Ben Ali vor, ein Referendum über eine Verfassungsänderung zu verkünden, die ihm eine vierte, ja womöglich lebenslange Amtszeit erlaubt. ...

Auch Mohammed Charfi hat das Manifest unterzeichnet, zusammen mit Universitätsprofessoren, Anwälten, Ärzten, Journalisten und einem ehemaligen Abgeordneten. Es wären weit mehr als 93 geworden, viele wollten ihrem Missbehagen an der "absoluten Macht" des Präsidenten öffentlich Ausdruck verleihen. Aber die Initiatoren wollten jene nicht in Gefahr bringen, die im öffentlichen Dienst arbeiten und jederzeit hätten gekündigt werden können. ...

Der ehemalige Erziehungsminister Mohammed Charfi wohnt in einer kleinen, mit kostbaren Antiquitäten eingerichteten Villa in Tunis. Neben dem geduckten Flachdachbau ragen Sozialwohnungssilos in den Himmel. Das Haus passt nicht hierher, und Mohammed Charfi erst recht nicht. Sein eleganter Habitus, seine ausgesuchte Höflichkeit verraten den Bourgeois, ein Mann, der anders als sein Mitunterzeichner Moneef Marzouki nicht am Rand der Gesellschaft steht. Die beiden Kritiker des Präsidenten trennen Welten. Sie drücken sich auch verschieden aus. Marzouki wählt kompromisslose und ungeschminkte Worte. "Tunesien ist eine heimtückische Diktatur, ein schrecklicher Polizeistaat." Charfi würde das nie so sagen, jedenfalls nicht öffentlich. Sein Mittel ist die Ironie, die den verächtlichen Gestus seiner Analyse mildert. "Wahrscheinlich gibt es nur noch in Nordkorea eine derart lächerliche Presse wie bei uns." In hauchdünnen Tässchen reicht sein jüngerer Bruder türkischen Kaffee. Der ehemalige Bildungsminister Charfi ist für das Regime des Präsidenten weit gefährlicher als der arbeitslose Arzt - schon ihre Lebensumstände verraten es. Einen Mann wie Mohammed Charfi kann das Regime nicht einfach so kaltstellen wie Moneef Marzouki. Immerhin diente er Präsident Ben Ali von 1989 bis 1994 als Erziehungsminister, und er gehört zu der äußerst seltenen Spezies von Amtsträgern im Maghreb, die aus Protest gegen die offizielle Linie zurücktraten. Das hat Charfi viel Respekt eingetragen, der jetzt doppelt wiegt. Und doch haben die beiden einiges gemeinsam. Sie werden überwacht, jeder ausländische Besucher wird registriert. Beide können ihre Berufe derzeit nicht ausüben. Aber Charfi darf wenigstens ins Ausland reisen ... Der Herrscher von Tunesien scheint nervös zu werden. Das sieht man auch am Straßenbild von Tunis: An jeder Kreuzung, an jedem Rondell stehen Polizisten mit schweren, schnellen Motorrädern. Uniformierte bewachen selbst die Zufahrt zum neu erbauten Supermarkt "Carrefour". Auch an den Kassen steht schwarz gekleidetes Wachpersonal mit Schlagstöcken. Als sie kürzlich jugendliche Diebe festnahmen, kam es zu Straßenschlachten-ähnlichen Szenen vor dem Einkaufstempel. Ausländische Beobachter haben dies als sozialen Protest gegen die geistige Leere in Tunesien gewertet. Diese Leere offenbart sich beim Blick in Kulturprogramme, in die Zeitungen, in die Buchhandlungen. Ausländische Zeitungen werden nicht ausgeliefert, wenn dem Zensor Artikel über Tunesien missfallen.

Das Pressegesetz ist derart strikt, dass Journalisten täglich mit einem Bein im Gefängnis stehen. Der Präsident hat sie zwar kürzlich aufgefordert, endlich die Schere im Kopf zur Seite zu legen. Aber wehe, es wagt einer. So wurden selbst die beiden Zeitungen beschlagnahmt, die Auszüge aus einem Interview des Innen- und Kommunikationsministers druckten, das dieser der französischen Tageszeitung Le Monde gewährt hatte. Darin versprach der Minister mehr Freiheit für sein Volk.

Die rund eine Million deutschen Urlauber nehmen die Repression nicht wahr. ...

Aus: Frankfurter Rundschau, 8. Mai 2001

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