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Erschossene Revolution

Tunesiens Regierungskoalition aus Islamisten und Sozialdemokraten gerät nach Attentat auf Linkspolitiker unter Druck

Von Christian Selz *

Den Zeitpunkt ihres Mordanschlags hatten die Täter höchstwahrscheinlich bewußt gewählt. Am 25. Juli, dem 56. Jahrestag der Republikgründung in Tunesien 1957 lauerten die zwei Männer dem linken Oppositionsführer Mohammed Brahmi vor seinem Haus auf. Der Gründer und Chef der relativ kleinen Oppositionspartei Volksbewegung war nach einem Anruf vor sein Haus in einem Vorort der Hauptstadt Tunis gegangen, als die Unbekannten das Feuer eröffneten. 14 Kugeln trafen den 58jährigen nach Angaben der Staatsanwaltschaft in Oberkörper und Beine. Seine Frau mußte die Bluttat ohnmächtig mit­ansehen. Brahmi ist bereits der zweite führende Politiker der linken, nichtreligiösen Opposition, der in diesem Jahr erschossen wurde. Seine Familie beschuldigt die seit dem Sturz des langjährigen Diktators Zine el Abidine Ben Ali regierenden Islamisten, hinter dem Attentat zu stehen.

»Die waren es, die ihn umgebracht haben«, sagte Brahmis Schwester Chhiba der Nachrichtenagentur AFP. »Unsere Familie hatte eine Vorahnung, daß Mohammed das gleiche Schicksal ereilen würde wie Chokri Belaid.« In der Tat sind die Parallelen deutlich. Auch der Jurist Belaid war ein regierungskritischer und charismatischer Anführer einer linken, sekulären Oppositionspartei, der Bewegung Demokratischer Patrioten. Wie Brahmis People’s Movement war auch seine Partei Teil der Populären Front, dem wichtigsten Zusammenschluß linker Parteien gegen die Regierungsallianz aus Islamisten und neoliberalen Sozialdemokraten. Im Februar war Belaid vor seinem Haus niedergeschossen worden, der Täter und die Drahtzieher sind bis heute nicht ermittelt. Auch darin begründet sich die Wut der Tunesier, die jetzt auf die Straße gehen und gegen die Regierung protestieren. Tausende versammelten sich noch am Donnerstag in Tunis und weiteren Städten des Landes. In Brahmis Heimatort Sidi Bouzid, 260 Kilometer südlich der Hauptstadt, steckten sie die Parteizentrale der regierenden Islamistenpartei Ennahda an. Vor dem Innenministerium in Tunis setzte die Polizei Tränengas gegen die Protestierenden ein. Die Populäre Front forderte ihre Anhänger »bis zum Fall der Regierungskoalition« zu »zivilem Ungehorsam an jedem Ort des Landes« auf. Der einflußreiche Gewerkschaftsbund UGTT rief für den gestrigen Freitag zum Generalstreik auf, sämtliche Flüge von und nach Tunis wurden gestrichen.

Staatspräsident Moncef Marzouki versuchte jedoch, den Protestplänen am Freitag mit einem Aufruf zu einer eintägigen Staatstrauer den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der Vorsitzende des sozialliberalen Kongreß für die Republik, einer der insgesamt drei Regierungsparteien, wählt damit einen beschwichtigenden Kurs. »Die Verantwortlichen dieses Dramas wollen zeigen, daß Tunesien kein Ort des Friedens ist, sondern auch kippen kann. Sie wollen beweisen, daß der Arabische Frühling überall gescheitert ist«, argumentierte Marzouki am Donnerstag abend in einer Rede an das Volk. Die Ängste der tunesischen Regierung, deren islamischer Flügel der Muslimbruderschaft des gestürzten ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi nahestand, sind greifbar. Wie in Ägypten wird ihr vorgeworfen, das Land zu islamisieren, wie in Ägypten hat sich die soziale Situation seit der Revolution 2011 kaum verbessert. Auch die Ennahda versucht daher, die Situation zu beruhigen, spricht nach dem Mord an Brahmi von einem »feigen und verächtlichen Verbrechen« und fordert die Regierung – der sie selbst angehört – auf, die Täter zu verhaften. Die Hintermänner der Attentäter hätten es auf die Stabilität des Landes abgesehen und müßten ermittelt werden.

Wirklich überzeugen können die Krokodilstränen der Regierenden die Opposition allerdings nicht. Daran änderte auch der schnelle Ablenkungsversuch von Innenministeriumssprecher Mohammed Ali Laroui wenig, der noch am Donnerstag abend herausgefunden haben wollte, daß die Mordwaffen aus Libyen ins Land gelangt seien. Viele Linke in Tunesien glauben nach wie vor, daß die Regierung hinter dem noch immer unaufgeklärten Attentat auf Belaid steckt und islamistische Extremisten entweder aktiv gegen die Opposition einsetzt oder sie zumindest gewähren läßt. Der Mord an Brahmi wird ihre Überzeugungen weiter untermauern. Der Druck auf die Regierungskoalition, die zudem wegen der Wirtschaftskrise im Land, unerfüllten Sozialversprechen und ihrem offensichtlichen Versagen, entschieden gegen Extremisten vorzugehen, in der Kritik steht, dürfte in den kommenden Tagen daher merklich steigen.

* Aus: junge Welt, Samstag, 27. Juli 2013


Angriff auf den Demokratisierungsprozess

Mord an Mohamed Brahmi bringt Tausende Tunesier auf die Straße

Von Astrid Schäfers **


Bei der jüngsten Ermordung eines Oppositionspolitikers in Tunesien ist die selbe Waffen verwendet worden wie beim Mordanschlag im Februar. Das gab Innenminister Lotfi Ben Jeddou am Freitag in Tunis bekannt.

In Tunesien sorgt der Mord an dem tunesischen Oppositionspolitiker Mohamed Brahmi für Wut und Entrüstung. Tausende Tunesier gingen am Freitag auf die Straße, um gegen Gewalt und die Regierung der Ennahdapartei zu demonstrieren, deren Vorsitzenden, Rachid Ghannouchi, einige Oppositionelle für den Mord verantwortlich machen. Sie forderten den Rücktritt der Regierung. Der Gewerkschaftsverband UGTT organisierte einen Generalstreik. Außerdem fanden Demonstrationen in Bizerte, Le Kef, Mahdia, Sfax, Kasserine und Gafsa statt. Viele geben den Salafisten die Schuld an dem Mord. In einem Punkt sind sich die Oppositionellen einig: Den Tätern gehe es darum, den demokratischen Transitionsprozess in Tunesien ins Wanken zu bringen.

Am Donnerstagmorgen war Brahmi, der Gründer der Partei »Courant Populaire« (Volksbewegung), in der Nähe seines Hauses im Tuniser Bezirk Ariana auf offener Straße erschossen worden. »Mein Vater hat vor Schmerzen geschrien, nachdem er von drei Kugeln getroffen worden war. Er befand sich noch in seinem Auto«, erklärte die Tochter des 58-Jährigen Politikers und Mitgliedes der Verfassungsgebenden Versammlung gegenüber Radio Sabra FM. Brahmi war ein scharfer Kritiker der islamistischen Regierungspartei Ennahda gewesen. Nach Angaben mehrerer tunesischer Zeitungen war Brahmi kurz davor gewesen, die verfassungsgebende Versammlung zu verlassen, da die Regierung keine vorgezogenen Wahlen veranlasst hatte. »Mein Vater ist ein sauberer Mensch im Gegensatz zu Ghannouchi oder Laârayedh, wir lehnen das Beileid der Partei Ennahda, der Regierung und des Präsidenten ab. Ich möchte Sie hier in meinem Viertel nicht sehen«, rief die Tochter außer sich. In Reaktion auf den Mord hatten sich bereits am Donnerstag Tausende Menschen auf der Avenue Bourguiba in Tunis zu Protesten versammelt. Die Sicherheitskräfte gingen mit Tränengas gegen sie vor. »Das ist die Schuld von Ghannouchi« riefen viele. In Sidi Bouzid zündeten Demonstranten den Sitz der Bezirksregierung an. »Ganz Tunesien ist auf der Straße«, schrieb die Internetplattform Webdo.

Am Freitag versammelten sich erneut Tausende vor dem Gebäude der UGTT, die mit der Rechtsanwaltsvereinigung und der Menschenrechtsliga zum Generalstreik aufgerufen hatte. »Die Morde werden nicht aufhören, wenn diese Partei an der Macht bleibt«, erklärte der 25-jährige Ali Bouraoui gegenüber der französischen Zeitung »Le Monde«.

Da der Mord am Jahrestag der Republikgründung 1957 verübt wurde, gehen viele davon aus, dass die Salafisten hinter der Tat stecken. »Die Nachricht ist klar. Die Täter sind gegen den Staat und die Werte der Republik«, sagte Chérif Khyari von der Parteienkoalition Front Populaire gegenüber der Nachrichtenagentur dpa.

Der Chef der islamistischen Regierung, Ali Larayedh, bezeichnete den Mord als »grausame Tat, die gegen Tunesien und seine Sicherheit« gerichtet sei. Präsident Moncef Marzouki erklärte gegenüber »Le Monde«, die Polizei habe festgestellt, dass die Täter offenbar dieselben seien, die im Februar Oppositionsführer Chokri Belaid umgebracht hätten, da dieselbe Waffe verwendet worden sei. Einen Tag, bevor er erschossen worden war, hatte Belaid im Fernsehsender Neesma TV die Regierung Larayedhs für die Einschränkung der Presse- und Informationsfreiheit, die Reglementierung der Justiz und die Verfolgung von Rechtsanwälten auf Schärfste kritisiert.

** Aus: neues deutschland, Samstag, 27. Juli 2013


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