Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Islamisten suchen ihr Heil im Dialog

Trotz Verhandlungsmanövern wächst der Druck auf Tunesiens Regierung / Neue Massenproteste

Von Astrid Schäfers, Tunis *

Angesicht anhaltender Massenproteste hat die geschwächte tunesische Regierungskoalition unter Führung der islamistischen Partei Ennahda das Angebot des Gewerkschaftsverbandes UGTT zu einem Dialog akzeptiert.

Der Vorsitzende von Ennahda, Rachid Ghannouchi, traf sich am Freitag erstmals mit dem Generalsekretär der UGTT, Houcine Abassi. Die Initiative der UGTT hat das Ziel, den Rücktritt der derzeitigen Regierung unter Ali Larayedh zugunsten einer Technokratenregierung vorzubereiten. Auch Bundesaußenminister Guido Westerwelle nahm mit einer fünfköpfigen Verhandlungskoalition an den Gesprächen teil.

»Ghannouchi hat vor allem darauf bestanden, die Verfassunggebende Versammlung (ANC) nicht aufzulösen und die Verhandlungen mit der Regierung fortzuführen«, erklärte Bouali Mbarki, stellvertretender Vorsitzender der UGTT am Wochenende gegenüber »nd«. »Die entscheidende Frage ist nun, wann und wie die Regierung zurücktreten wird. Organisiert man zuerst das Treffen von Vertretern aller Parteien, damit diese eine neue Regierung bestimmen oder tritt die Regierung zuerst zurück und dann wird die Arbeit der ANC fortgeführt?«, erläuterte der Gewerkschaftler die entscheidenden Fragen für die Verhandlungen aus Sicht seiner Organisation. Obwohl Ghannouchi vor der tunesischen Presse weitgehend bestritt, dem Rücktritt seiner eigenen Regierung zugestimmt zu haben, versicherte Mbarki, der Parteichef hätte der Bildung eines Technokratenkabinetts zugestimmt. Er habe große Angst, dass es Ennahda ähnlich wie den Muslimbrüdern in Ägypten ergehen könne. »Sie wollen jetzt Garantien von uns, dass wir sie nach ihrem Rücktritt nicht strafrechtlich verfolgen«, so der stellvertretende Vorsitzende der UGTT. Der Gewerkschaftsverband habe dies zugesichert. Abassi will mit Ghannouchi jetzt die Grundlagen für die Verhandlungen der Regierung mit der Opposition erarbeiten.

Die UGTT ist nun zum Vermittler zwischen einem Teil der Opposition geworden, der bisher sowohl den sofortigen Rücktritt der Regierung als auch die Auflösung der Verfassunggebenden Versammlung gefordert hat. Für einen Teil des Oppositionsbündnisses Front du Salut National (Nationale Heilsfront) – die Parteien Al Joumhouri (Die Republik), Front Populaire (Volksfront) und Al Massar (Der Weg) – ist der Rücktritt von Regierungschef Larayedh Voraussetzung für Verhandlungen mit Ennahda. Der zurückgetretene Abgeordnete Noomen Fehri bezeichnete dies als »rote Linie«. Der Regierungschef müsse unabhängig und unparteilich sein. Fathi Ayadi, der Vorsitzende des Hohen Rates (Choura) von Ennahda, verteidigt hingegen weiter eine politische Regierung, wie er auf seiner Facebook-Seite bekundete, im Gegensatz zu der Koalitionspartei Ettakol, die der Technokratenregierung bereits zugestimmt hat. Fehri kritisierte zudem die Besetzung von Schlüsselposten in der Verwaltung mit Mitgliedern von Ennahda. Der Dialog von Ghannouchi mit den Salafisten 2012, als er diesen Posten in der Verwaltung zusicherte, ist der Opposition noch im Gedächtnis geblieben.

Am Donnerstagabend hatten sich Oppositionelle vor dem Sitz des Ortsverbandes der UGTT des Tuniser Arbeiterviertels Ariana versammelt. Die rund 200 Gewerkschaftsanhänger demonstrierten die Hauptstraße von Ariana entlang bis zum Sitz der Bezirksregierung. »Weg mit der ANC! Hau ab, Regierung! Ghannouchi ist ein Krimineller!«, skandierten sie. Unterwegs stießen sie auf Ennahda-Anhänger, die sie ausbuhten. Einer schwenkte eine Al-Quaida-Fahne. Der ehemalige Abgeordnete der Verfassunggebenden Versammlung Fadel Houssad von der Partei Al Massar erklärte: »Ich bin aus der ANC zurückgetreten, weil man der Arbeit der Troikaregierung nicht mehr vertrauen kann. Gemeinsam verfügen die drei Parteien in der ANC über 60 Prozent, ihre Mehrheitsentscheidungen sind für uns nicht annehmbar. Es muss eine Verfassung des Konsenses geben.« Was die Regierung betreffe, so sei diese bereits für zwei politische Morde verantwortlich. An der wirtschaftlichen und sozialen Krise sehe man zudem, dass sie unfähig sei, das Land zu regieren.

Ennahda hat den Zeitpunkt für die Aufnahme des Dialogs mit der UGTT geschickt gewählt. Nachdem die Proteste am Bardo nach den Massendemonstrationen vom 6. und 13. August etwas abgeklungen sind, hat die Nationale Heilsfront für kommende Woche unter dem Motto »Wut der Woche« zu Protesten aufgerufen. Sie will die Regierung in die Knie zwingen.

Mit der Aufnahme des Dialogs will die Ennahda-geführte Regierung die Aufmerksamkeit auf die Verhandlungen lenken und so erst einmal Zeit gewinnen. Ob sie tatsächlich bereit ist zurückzutreten, steht längst noch nicht fest.

* Aus: neues deutschland, Montag, 26. August 2013


Zurück zur Tunesien-Seite

Zurück zur Homepage