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Tunesien: Staatspräsident Ben Alit vor einer vierten Amtszeit?

Doch zuvor muss per Referendum die Verfassung geändert werden - Vermutlich kein Problem

Im folgenden dokumentieren wir einen Artikel aus einer Serie, die in lockerer Folge Länderporträts veröffentlicht. Diesmal geht es um Tunesien, das viele Deutsche immer noch für ein wunderschönes Urlaubsland halten, das in Wirklichkeit aber eins der repressivsten Regime des Maghreb darstellt. Der Artikel erschien im Neuen Deutschland am 25. Mai 2002 unter dem Titel "Tunesien zwischen Al Qaida und Intifada". Der Autor ist Anton Holberg.


In einer Zeit, da das Attentat auf die Synagoge von Djerba das vom Regime gepflegte Bild eines stabilen Tunesiens ankratzte, will sich Staatspräsident Zine el-Abidine Ben Ali zum vierten Mal in dieses Amt »wählen« lassen.

Dazu jedoch ist die Revision des Verfassungsartikels notwendig, der in Tunesien bislang einem Regime der absoluten persönlichen Macht noch entgegenstand. Am 26. Mai nun ist die Bevölkerung aufgerufen, den Artikel, der die Amtszeit des Staatspräsidenten bislang auf drei Perioden beschränkte, aufzuheben und es ihm so zu ermöglichen, im Jahre 2004 zum vierten Mal anzutreten. Ben Ali hatte 1987 die sinkende Popularität des »Vaters der Nation«, Habib Bourguibas, genutzt, um sich in einem kalten Staatsstreich selbst an die Macht zu hieven. Die Verfassungsänderung, deren Annahme durch die Bevölkerung unter tunesischen Bedingen nur noch ein formaler Akt ist, und die Präsidentschaftswahl in zwei Jahren werden es ihm erlauben, bis 2014 im Amt zu bleiben – wenn sich nicht inzwischen Grundlegendes in Tunesien ändert. Seinen Machtantritt hatte Ben Ali mit dem Versprechen einer demokratischen Öffnung begleitet. Als es nach dem Zusammenbruch des Ostblocks in Mode kam, dass die westlichen Verbündeten solcher Länder wie Tunesien von ihren Klienten mehr Demokratie forderten, wurden Anfang der 90er Jahre in der Tat einige Schritte in diese Richtung unternommen. Doch die begleitenden Kontrollmaßnahmen zielten auf die Aufrechterhaltung des alten Regimes und damit die Sicherheit westlicher Investitionen. An erster Stelle stand die verschärfte Repression gegen die islamistische Opposition, die in der An-Nahda-Partei in Tunesien einen vergleichsweise gemäßigten Ausdruck fand. Unter der Oberfläche der formalen Demokratisierung wurden alle Aspekte des tunesischen Polizeistaates aufrechterhalten und in letzter Zeit sogar verschärft.

Das gilt für den Einsatz gegen Demonstrationen, für Folter und Mord in den Gefängnissen, für Dauerüberwachung und Belästigung von Menschenrechtsvereinigungen und für Einschränkungen der Pressefreiheit. Die Versuche, etwa die Presse stärker als zuvor zu knebeln, mussten nur insofern kurzfristig aufgeweicht werden, als sich in London der TV-Sender »Al Mustakillah« etabliert hat, der kritische Berichte nach Tunesien ausstrahlte – worauf auch die Staatsmedien unter Zugzwang gesetzt wurden.


Fläche: 163610 Quadratkilometer
Bevölkerung: 9,6 Millionen
Hauptstadt: Tunis
Staatsform: Präsidialrepublik
Staatsoberhaupt: Zine el-Abidine Ben Ali
Religion: Muslime 99,4 %, etwa 2000 Juden
Mittlere Lebenserwartung: 70 Jahre
Bruttosozialprodukt pro Kopf: 2100 Dollar


Das Referendum findet aber auch in einer Zeit wachsender Opposition ab. Hintergrund ist neben dem Mangel an Demokratie die negative Bestätigung der Parole Ben Alis, dass die Freiheit des Volkes mit seinem Wohlstand beginne. So wies Nejib Chabbi, Führer der legalen Oppositionspartei Parti Democrate Progressiste (PDP) jüngst darauf hin, dass die Arbeitslosigkeit entgegen den offiziellen 16 Prozent de facto 30 Prozent betrage. Auf Grund des Assoziierungsabkommens mit der EU seien weitere 120000 Arbeitsplätze gefährdet. Ein weiterer Faktor, der in Richtung auf eine Destabilisierung der Herrschaft Ben Alis wirkt, ist die Intifada der Palästinenser und deren Repression durch die Besatzungsmacht Israel.

Das Attentat von Djerba war offenbar das Werk einer kleinen, mit dem Al-Qaida-Netzwerk verbundenen Untergrundzelle und als solches politisch nicht besonders bedeutsam. Wichtiger allerdings ist die Tatsache, dass auch in Tunesien, einem der letzten arabischen Länder mit einer größeren jüdischen Gemeinde, im Zusammenhang mit den Ereignissen in Palästina sowohl die Opposition gegen die Israel-Politik des Regimes aber auch eine anti-jüdische Stimmung zunimmt.

Zwar haben die tunesische Linke und ihr zugehörige Menschenrechtsgruppen den islamistischen Anschlag auf die Al-Ghriba-Synagoge unmissverständlich verurteilt. Auch die Losungen der von der Polizei mit großer Brutalität aufgelöste 1. Mai-Demonstration in Tunis, die die Solidarität mit Palästina und die Verurteilung der proamerikanischen Politik vieler arabischer Länder – einschließlich Tunesien – in den Mittelpunkt stellten, unterschied deutlich zwischen den Juden und dem Staat Israel. Gleichzeitig häufen sich Berichte über Belästigungen von Juden. Anfang Mai fand auf Djerba die jährliche Pilgerfahrt zur Al-Ghriba Synagoge statt. Während im Jahr 2000 noch 8000 jüdische Pilger gekommen waren, waren es im Mai 2001 – nach Beginn der Intifada – nur noch 1300 und dieses Jahr um 1000. Die überwiegend tunesischen Teilnehmer an der von einem gewaltigen Polizeiaufgebot geschützten Prozession dankten Ben Ali für den Schutz und ließen ihn hochleben. Die muslimischen Zuschauer jedoch, seit jeher Nachbarn und Kunden in jüdischen Geschäften in Djerba, beobachteten den Zug mit beredtem Schweigen.

Für das Referendum haben mehrere Oppositionsparteien, die zu diesem Zwecke am 12. Mai einen Kongress durchführten, zum Boykott aufgerufen. Doch das wird am Resultat nichts ändern.

Aus: Neues Deutschland, 25. Mai 2002


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