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"Der Diktator ist gestürzt – die Diktatur aber noch nicht"

Gespräch mit Hamma Hammami. Über die Revolte in Tunesien, die Rolle internationaler Konzerne, die historische Verantwortung europäischer Regierungen – und wie es weitergehen könnte *


Hamma Hammami ist Vorsitzender der Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens (Parti Communiste Des Ouv­riers Tunisiens, PCOT). Er wurde während der 23jährigen Amtszeit des tunesischen Präsidenten Zine Al Abidine Ben Ali und dessen Partei RCD (Konstitutionelle Demokratische Versammlung) insgesamt zehn Jahre als politischer Gefangener inhaftiert. Weitere zehn Jahre mußte er im Untergrund verbringen.

Am 17. Dezember 2010 hat sich der 26 Jahre alte Universitätsabsolvent Mohamed Bouazizi in Sidi Bouzid selbst verbrannt, nachdem die Polizei seinen Obst- und Gemüsekarren konfisziert hatte, mit dem er seinen Lebensunterhalt verdiente. Nach seinem Tod explodierte die Lage – die Menschen gingen auf die Straße und forderten Arbeitsplätze, bessere Lebensbedingungen und ein Ende der Korruption. Wie ist die Situation im Moment? Gibt es noch Straßenkämpfe – geht die Revolte weiter?

Zur Zeit findet eine machtvolle und populäre Revolution in Tunesien statt. Das tunesische Volk hat den Diktator Ben Ali verjagt – und ist nun dabei, sich energisch Gehör zu verschaffen, damit es künftig eine demokratische Regierung geben wird.

Aber es gibt auch Rückschlage: Die Machthaber des alten Systems und die Anhänger Ben Alis versuchen jetzt mit aller Gewalt, die Macht wiederzuerlangen und das alte System wieder zu stabilisieren. Mit diesem Ziel haben sie eine Übergangsregierung eingerichtet, die die alten Kräfte berücksichtigt. Die Oppositionsparteien und die fortschrittlichen Kräfte in der Bevölkerung will man erneut ignorieren und zur Seite schieben. Aber die tunesischen Bürger haben wiederum deutlich gemacht, daß sie das nicht akzeptieren. Sie haben nicht nachgelassen und erneut mit Kundgebungen und Demonstrationen in vielen Städten Tunesiens manifestiert, daß sie keine Wiederherstellung der Diktatur und keinen Polizeistaat – mit welchen Mitteln auch immer! – dulden werden. Sie fordern erneut eine Regierung mit glaubwürdigen Persönlichkeiten aus der Mitte der Bevölkerung, die das Land in eine Demokratie führen soll. Es muß eine neue demokratische Verfassung und eine neue Republik geben, das ist die Forderung der Bevölkerung.

Es hat nach offiziellen Zahlen bisher bereits 78 Tote gegeben – oder waren es mehr?

Das wissen wir auch nicht genau. Wir sehen jedoch, daß das Regime diesen Aufstand jetzt immer noch mit brutalen Polizeieinsätzen niederzuschlagen versucht. Die Polizei hat Demonstranten getötet, die für die Menschenrechte eingestanden sind, sie versucht, diese Revolution zu verhindern. Noch ist gar nichts entschieden – alles ist offen. Jetzt ist der Diktator weg – die Diktatur aber ist noch nicht gestürzt.

Am 17. Dezember hat die Revolte begonnen. Was motiviert die Leute, seit mehr als vier Wochen immer wieder auf die Straße zu gehen?

Das dringlichste Anliegen ist, sicherzustellen, daß diese von alten Kräften durchsetzte Übergangsregierung nicht zustandekommt. Es scheint auch, daß das gelingen könnte. Zur Zeit haben bereits zwei Oppositionsparteien ihre Minister wieder zurückgezogen und somit die Zusammenarbeit mit dem alten Unterdrückungsregime verweigert.

Hat die PCOT sich an dieser Übergangsregierung nicht beteiligen wollen? Oder durfte sie nicht?

Wir als kommunistische Arbeiterpartei haben es von Anfang an abgelehnt, uns überhaupt an einer Übergangsregierung zu beteiligen, in der Vertreter des alten diktatorischen Regimes sitzen – zudem auch noch in Schlüsselpositionen.

Was sind die Hintergründe für diesen Massenaufstand – was hat die Tunesier nach der 23jährigen Herrschaft des Diktators derart erbittert?

Unter den Bedingungen der Weltwirtschaftskrise ist der Zerfall des Landes durch die Diktatur immer offensichtlicher geworden. Die Macht wurde immer repressiver ausgeübt. Der brutale Charakter der staatlichen Polizei trat zunehmend deutlicher zutage. Viele Betriebe mußten schließen, die Arbeitslosigkeit stieg an. Die Preise schossen rasant in die Höhe. Die öffentlichen Dienstleistungen verschlechtern sich immer mehr. Für normal Arbeitende und selbst die kleinen Beamten und Kleinbauern ist es immer schwieriger geworden, ein halbwegs normales Leben zu führen. Immer häufiger sind sie gezwungen, sich einen zweiten Job zu suchen. Armut und Verelendung sind immer unübersehbarer geworden. Zugleich mußte die tunesische Bevölkerung mit anschauen, wie der Clan Ben Alis und seine Gefolgschaft im Luxus schwelgten und immer reicher wurden. Jetzt richten sich die Proteste vor allem gegen den mächtigen Parteiapparat.

Was sind die dringlichsten Forderungen der PCOT, um einen Demokratisierungsprozeß einzuleiten?

Wir brauchen eine Übergangsregierung, die willens und in der Lage ist, demokratische Wahlen einzuleiten und eine neue Verfassung zu erarbeiten. Daran müssen alle maßgeblichen gesellschaftlichen Gruppierungen der tunesischen Bevölkerung beteiligt werden: Die Arbeiter, die Jugendlichen, die Frauen – Repräsentanten aller unterschiedlichen Bevölkerungsschichten sollten beteiligt sein, vor allem auch die Mittelschicht. Die Bevölkerung muß sich organisieren und den Kampf gegen die noch nicht beseitigte Diktatur bis zum Schluß tragen.

Es wird in vielen Medien immer wieder betont, daß das Militär eine andere Position einnimmt als die Polizei, die diese Diktatur weiterhin stützt. Wie ist das zu verstehen? Gibt es, nachdem durch den Sturz des Diktators Ben Ali ein Machtvakuum entstanden ist, nicht auch die Gefahr einer Militärdiktatur?

In Tunesien hatte sich jahrzehntelang eine Polizeidiktatur etabliert – die Armee war nicht sehr stark involviert und hat insofern tatsächlich eine andere Funktion. Selbstverständlich fürchten die Tunesier nichts mehr als eine Militärdiktatur – die will niemand. Das Militär ist nur so lange quasi als Schutzmacht vonnöten, wie die Unruhen andauern und Ben Alis Milizen mit ihren gewalttätigen Aktionen gegen die Bevölkerung vorgehen.

Es ist im Interesse der noch immer agierenden Unterstützer und Sicherheitskräfte Ben Alis, das Land in Chaos und Unruhe zu stürzen. Die Kräfte des alten Regimes wollen, daß das Land Sicherheitsprobleme bekommt und kriminelle Banden sich ausbreiten können – genau das muß verhindert werden. Aber danach muß die Armee in die Kasernen zurückkehren. Der Demokratisierungsprozeß muß von der Zivilgesellschaft eingeleitet werden.

Was ist von den Komitees der Bürger auf den Straßen zu halten, die sich jetzt gegründet haben, um für Sicherheit zu sorgen? Es gibt Berichte über Straßensperren aus Betonklötzen, Plastikstühlen, Holzmöbeln, Blumentöpfen und Abfalleimern – von Anwohnern errichtet.

Das sind Demokraten, die einen Rückfall in die Diktatur verhindern wollen. Sie agieren in verschiedenen Regionen teils spontan, teils organisiert – weil sie sich von Ben Alis Milizen bedroht sehen. Die Gewerkschaft hat jedenfalls dazu aufgerufen, sich kollektiv gegen mutwillige Zerstörungen und Plünderungen zu schützen.

Wird es nicht schwierig, wenn jetzt bald eine Regierungsbildung ansteht? Hatten Oppositionsparteien überhaupt eine Chance, unter den Verhältnissen der Diktatur in der Bevölkerung an Popularität zu gewinnen?

Es gab ständig Repressionen, wie sie auch wir Kommunisten zu spüren bekamen. Natürlich bilden sich jetzt Oppositionsparteien heraus. Es gibt Gewerkschafter, Islamisten, aber auch unabhängige Leute, die trotzdem immer wieder versucht haben, politischen Einfluß zu nehmen. Aber wem es tatsächlich gelungen sein sollte, sich unter diesen Verhältnissen bei der Bevölkerung bekannt zu machen, kann man nicht wirklich sagen. In Funk und Fernsehen kamen sie nicht zu Wort.

Wie ist es der Kommunistischen Partei gelungen, sich unter den diktatorischen Verhältnissen zu behaupten – wie viele Mitglieder gibt es eigentlich?

Wir können nicht sagen, wie viele Mitglieder wir exakt haben, weil wir sie aus Sicherheitsgründen nicht registriert haben. Denn unsere PCOT war ja eine verbotene Partei. Aber sie ist in der Öffentlichkeit sehr bekannt, weil wir immer gegen diese Diktatur Stellung genommen haben. Wir sind sehr bekannt in der Gewerkschaftsbewegung, in der Jugend- und der Frauenbewegung sowie bei den Intellektuellen.

Sie wurden am 12. Januar in Ihrer Wohnung von mehreren Beamten des Sicherheitsdienstes des tunesischen Präsidenten Ben Ali festgenommen. Gab es Repressionen?

Ja, es war eine sehr gewalttätige Aktion, sie haben unsere Tür eingetreten. Andere Leute, die bei mir zu Besuch waren, wurden terrorisiert – sogar meine halbwüchsige Tochter. Mit mir zusammen wurde eine Genossin festgenommen. Sie haben mich mit Handschellen abgeführt und so im Gefängnis festgehalten. Der Grund war wohl, daß unsere Partei kurz zuvor als einzige sehr deutlich den Rücktritt des Diktators gefordert hat. Am 14. Januar wurde ich freigelassen, nachdem Präsident Ben Ali sich in sein Flugzeug gesetzt hatte und nach Saudi-Arabien geflohen war. Vermutlich habe ich das aber auch dem Druck der öffentlichen Proteste zu verdanken.

Zuvor mußten Sie schon lange Zeit im Untergrund leben, sie haben auch lange im Gefängnis gesessen, nachdem man Ihnen am 2. Februar 2002 den Prozeß gemacht hatte.

Insgesamt habe ich mehr als zehn Jahre als politischer Gefangener in Haft verbracht. Und mindestens weitere zehn Jahre mußte ich untertauchen. Die Justiz hat sich den Machthabern unterworfen und wurde ständig benutzt, um politische Gegner, Gewerkschafter, Aktive und Menschenrechtler auszuschalten.

Das letzte Mal, Ende Februar 1998, war ich zugleich mit zwei anderen Genossen in den Untergrund gegangen. In Abwesenheit wurden wir in einem Verfahren, das sich trotz der Anwesenheit zahlreicher Beobachter nicht einmal den Anschein eines fairen Prozesses gab, zu jeweils neun Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Nach vier Jahren im Untergrund, in denen wir unsere Parteiarbeit und unsere Versammlungen immer nur versteckt organisieren konnten, haben wir uns am 2. Februar 2002 einer Neuverhandlung gestellt. Innerhalb weniger Minuten wurden die Urteile von mehr als neun Jahren gegen uns bestätigt, ohne daß wir oder unsere Anwälte zu Wort gekommen wären. Die Polizei hatte den Gerichtssaal gestürmt. Kameraleuten wurde mit Gewalt ihr Filmmaterial weggenommen. Einer meiner Genossen erhielt noch zwei weitere Jahre wegen »Amtsbeleidigung«, weil er bei der gewaltsamen Räumung des Saals darauf hingewiesen hatte, daß er mißhandelt worden war.

Diese Justizfarce fand vor zahlreichen Zeugen statt: Familienangehörige, Genossen, Sympathisanten, Prozeßbeobachter von tunesischen und internationalen Menschenrechtsorganisationen und Journalisten.

Mit wem könnten Sie sich vorstellen, politische Bündnisse einzugehen?

Mit allen Demokraten und unabhängigen Kräften.

Wie sieht es denn mit der politischen Haltung der tunesischen Bevölkerung aus? Ist zu erwarten, daß sie möglicherweise auch für eine islamische Regierung votieren könnte, oder ist sie eher offen für die linken Parteien?

Diese Revolution hat meiner Auffassung nach einen demokratischen Charakter und überhaupt keine religiösen Tendenzen.

Halten Sie jetzt, nach Ihrer Freilassung aus der Haft, Reden bei Kundgebungen?

Ja, wir nehmen auf der Straße bei Demonstrationen den Kontakt zur Bevölkerung auf, aber auch über das Radio und das Fernsehen – all das ist jetzt plötzlich wieder möglich. In den Zeiten der Diktatur gab es keine Pressefreiheit, und keine Oppositionspartei wurde im Fernsehen geduldet. Man kann sagen: Die Meinungsfreiheit wurde systematisch mißachtet. Die Massenmedien wurden stark kontrolliert, Journalisten durch Androhung von Berufsverboten zum Schweigen gebracht. Oder sie wurden eingeschüchtert und verfolgt.

Gibt es in Tunesien keinen Antikommunismus?

Doch, es gibt schon Antikommunismus in Tunesien – aber nicht in dem grotesken Ausmaß wie bei Ihnen in Deutschland. Unsere Partei, die Kommunistische Arbeiterpartei Tunesiens, kommt zudem bei der Bevölkerung gut an, weil bekannt ist, daß wir viel für die Befreiung von der Diktatur und für die Demokratie getan haben.

Wie haben sich eigentlich die Regierungen der anderen Länder in der Vergangenheit gegenüber der tunesischen Diktatur verhalten? In Presseberichten wird immer wieder moniert, daß sie beide Augen zugedrückt haben ...

Ben Ali hatte während der ganzen Zeit seiner Herrschaft die Unterstützung der USA und Europas – vor allem aber Italiens und Frankreichs. Wir haben nicht vergessen, daß Ben Ali und seine Bande in all den Jahren seiner Regierungszeit den Schutz und die Unterstützung westlicher Regierungen genießen konnte. In Tunesien beteiligen sich mehrere tausend ausländische Firmen an der Ausplünderung der Reichtümer des Landes und der Ausbeutung der Arbeiter.

Diese ausländischen Unternehmen haben tunesischen Arbeitskräften die Wahrnehmung aller Grundrechte versagt. Sie verlangten ein diktatorisches Regime, damit sie aufgrund dieser Ordnung die völlige Ausbeutung der tunesischen Arbeitskräfte aufrechterhalten konnten. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy hat all dies mit Ben Ali gemeinsam als »Demokratie« gefeiert.

Man könnte das so zusammenfassen: Die westlichen Regierung haben es begrüßt, daß eine diktatorische Macht in Tunesien ihre Interessen im Land und in der Region bedient. Berlusconi hat Ben Ali als seinen Freund willkommen geheißen. Frankreichs Außenministerin Michèle Alliot-Marie hatte noch vor wenigen Tagen Ben Ali ihre Unterstützung angeboten. Sie wollte französische Spezialeinheiten schicken, um »diese Art von Sicherheitslage zu regeln«. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits Dutzende Todesopfer unter den Demonstranten.

Und Deutschland?

... hat sich nicht groß unterschieden davon, aber auch nicht besonders negativ hervorgetan.

Gab es internationale Solidarität?

Vor allem in den anderen arabischen Ländern – Algerien, Marokko, Ägypten, Palästina – haben uns die kommunistischen Kräfte geholfen. Wir hören jetzt, daß dort die Regierungen sehr aufmerksam auf Tunesien schauen. Sie fürchten nichts mehr, als daß ihre Bevölkerungen sich genauso verhalten könnten wie das tunesische Volk. Wenn wir mit unserer Revolution Erfolg haben, wird das mit Sicherheit auf andere Staaten Einfluß haben, die diktatorisch geführt sind.

Interview: Gitta Düperthal

* Aus: junge Welt, 22. Januar 2011


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