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Gremium für "Wahrheit und Würde" in Tunesien

Drei Jahre nach dem Sturz Ben Alis sollen Verbrechen seiner Herrschaftsperiode aufgearbeitet werden

Von Astrid Schäfers, Tunis *

In dieser Woche jährte sich zum dritten Mal der Tag der Selbstverbrennung Mohammed Bouazizis, der zum Fanal für den Umsturz in Tunesien wurde. Jetzt hat das Land eine Wahrheitskommission.

Mit der einstimmigen Verabschiedung des Gesetzes für eine »Übergangsjustiz« in der verfassunggebenden Versammlung kann die Aufarbeitung der Diktatur in Tunesien beginnen. Die Übergangsjustiz soll Verbrechen ahnden, die während der Amtszeiten des im Jahr 2011 gestürzten Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali und seines Vorgängers Habib Bourguiba begangen wurden. Dafür soll eine »Wahrheitskommission« geschaffen werden, die massive Menschenrechtsverstöße der Behörden, wie Folter, Vergewaltigung, Mord, Korruption und Veruntreuung, untersucht.

»Die Verabschiedung dieses Gesetzes ist ein historischer Erfolg. Wir haben lange darauf gewartet, dass darüber in der Nationalen Verfassunggebenden Versammlung (ANC) abgestimmt wird«, kommentierte Mohamed Kamel Gharbi, Koordinator des tunesischen Netzwerks für Übergangsjustiz, die Abstimmung. Wichtig sei, dass die Zivilgesellschaft weiterhin Druck ausübe, damit das Gesetz auch angewendet wird. Vor allem müssten Zivilgerichte geschaffen werden.

Bereits im April 2012 hatten Präsident Moncef Marzouki, Premierminister Hamadi Jebali, der Präsident der ANC, Mustafa Ben Jaâfar, sowie hochrangige Vertreter der Vereinten Nationen, des Zentrums für Übergangsjustiz und Vertreter der Zivilgesellschaft zwei Kommissionen eingesetzt. »Eine Untersuchungskommission und eine technische Kommission wurden gegründet. Erstere ging Menschenrechtsverletzungen nach, die vom Regime während der Revolution 2011 begangen wurden. Angehörige von Menschen, die während der Revolution ermordet oder misshandelt wurden, erhoben Anklage, aber leider sind diese Fälle vor Militärgerichten verhandelt worden«, berichtet Netzwerk-Koordinator Gharbi. Die Mitglieder beider Kommissionen wurden vom Ministerium für Menschenrechte und Übergangsjustiz und Vertretern von Vereinen der Zivilgesellschaft bestimmt. Dem tunesischen Netzwerk für Übergangsjustiz gehören 36 Vereine an, darunter das Zentrum Kwakibi für einen demokratischen Übergang, das Demokratische Labor, das tunesische Zentrum für Menschenrechte und Übergangsjustiz und der Verein der alten Mitglieder der UGTT, des Gewerkschaftsverbandes.

»Die Opfer wurden angehört, ebenso wie die Vertreter von Vereinen und Mitarbeiter von Behörden. Anhand der einzelnen Fälle haben wir Empfehlungen ausgearbeitet, auf deren Basis wir den Gesetzentwurf für die Übergangsjustiz erarbeitet haben«, sagt Gharbi. Zwischen Januar und Juli wurde der Gesetzentwurf in Kommissionen der Verfassunggebenden Versammlung beraten. Danach blieb er liegen. »Im Zuge der politischen Morde an Chokri Belaid und Mohamed Brahmi lehnte der Präsident der ANC, Ben Jaâfar, es ab, über das Gesetz dort abstimmen zu lassen«, berichtet der Menschenrechtsaktivist.

Der gewaltsame Tod der oppositionellen Politiker hatte landesweit Demonstrationen von Anhängern und Gegnern der islamistischen Regierung ausgelöst. Zwar wurde die Tat radikalen Salafisten zur Last gelegt, die Opposition machte jedoch auch die regierende Ennahda-Partei von Ministerpräsident Ali Larayedh dafür verantwortlich. Bis September verließen 74 Mitglieder die 217 Mitglieder zählende ANC. Seither war sie beschlussunfähig.

Der von der UGTT angeregte nationale Dialog zwischen Ennahda, dem Arbeitgeberverband UTICA, der Menschrechtsliga LDTH und der Anwaltskammer war monatelang nur schleppend vorangegangen. Schließlich einigte sich das »Quartett« im November auf einen Fahrplan, der neben der Bildung eines Übergangskabinetts von unabhängigen Technokraten die Fertigstellung der Verfassung innerhalb eines Monats, die Reform des Wahlrechts und die Organisation von Neuwahlen vorsieht. Die Mammutaufgabe, Tunesien aus der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Krise zu führen, kommt nun auf den am Sonnabend nominierten Premierminister Mehdi Jomâa zu.

Innerhalb von drei Wochen soll der bisherige Industrieminister ein aus Experten bestehendes Kabinett bilden. Neuwahlen sind für Anfang nächsten Jahres geplant.

Erst nachdem Oppositionsparteien, darunter die stärkste politische Kraft, die Partei Nidaa Tounes, die linke Volksfront und die sozialdemokratisch orientierte Partei Al Joumhouri die Gespräche verlassen hatten, konnten sich die übrigen Parteien auf Jomâa einigen. Zuvor hatte ein Kandidat des Oppositionsbündnisses Front Populaire, der ehemalige Sozialminister Mohamed Ennaceur, nach einem Veto von Ennahda auf das Amt des Premierministers verzichtet.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 18. Dezember 2013


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