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Die Kraft für Stabilität

Tunesiens Gewerkschaften haben nicht nur im Umsturz eine entscheidende Rolle

Von Claudia Altmann *

Nach dem Sturz des tunesischen Diktators Ben Ali und seiner Regierungspartei RCD befindet sich das nordafrikanische Land in einem Prozess grundlegender Veränderungen. Die Forderungen der Demonstranten waren von vornherein gleichermaßen politischer und sozialer Natur. Dabei geht es nicht nur um die Schaffung von Arbeitsplätzen vor allem für Akademiker, sondern auch um die Verbesserung der Bedingungen für die Arbeiter und Angestellten.

Die Ungeduld der Bevölkerung ist groß, es vergeht kein Tag ohne Arbeitskämpfe und Proteste. Eine entscheidende Rolle bei dem Mitte Dezember ausgebrochenen Volksaufstand hat von Anfang an die starke Generalunion der Tunesischen Arbeiter (UGTT) gespielt. Sie vereint mehr als eine halbe Million Angestellte vor allem im öffentlichen Dienst und ist landesweit bis in den letzten Winkel präsent. Das Ohr an der Masse haben ihre Funktionäre schnell das Ausmaß und die Wucht der Erhebung erkannt und sich an deren Spitze gestellt. Ihnen ist es in erster Linie zu verdanken, dass aus den spontanen Aktionen verzweifelter Jugendlicher ein wahrer Volksaufstand wurde.

Nach den politischen können die Syndikalisten auch bereits erste soziale Erfolge verbuchen. So sah sich Anfang Februar die transnationale Firma Coca Cola gezwungen, den Forderungen streikender Mitarbeiter nachzukommen. In den zehn Abfüllbetrieben wurden 1000 bis dahin über Vermittlungsagenturen in Teilzeit und ohne Sozialversicherung oder das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung Beschäftigte als Festangestellte mit unbefristeten Verträgen übernommen. Weitere 1000 Arbeiter erhielten Arbeitsverträge, die nach vier Jahren im Unternehmen ebenfalls in unbefristete umgewandelt werden. Tunesien ist damit im Konzern Vorreiter, wird doch die von Coca Cola weltweit angewandte Praktik seit Langem kritisiert. »Die Verhandlungen waren sehr schwer, da sich die Direktion anfangs gesträubt und mit Schließung von Betrieben gedroht hat«, sagt Hocine Krimi von der zur UGTT gehörenden Generalföderation für Nahrungsmittel und Tourismus (FGAT). »Durch unsere anhaltende Mobilisierung der Beschäftigten jedoch konnten wir deren Forderungen und auch deren Beitritt zur Gewerkschaft nicht nur in den Abfüllwerken, sondern auch in allen dem Unternehmen angegliederten Bereichen wie Bars und Restaurants durchsetzen.« Bis Ende März sollen alle Beschäftigten zu denselben Bedingungen übernommen werden, kündigt Krimi an. Von diesen Erfolgen ermutigt, will die UGTT auch in anderen Sektoren, so in der Textilindustrie, ihre Position stärken und Lohnerhöhungen und sichere Arbeitsbedingungen durchsetzen.

Legitimität ...

Für den Gewerkschaftsverband ist dies jetzt besonders wichtig, da es um die Legitimität in den Augen der Bevölkerung geht. Unter dem autoritären Regime Ben Alis hatte sich ein Teil der Spitze in gefährliche Nähe des Diktators begeben. Daher wurden während der Unruhen auch Rufe nach einem radikalen Wechsel innerhalb der Gewerkschaft laut. Der Klärungsprozess ist derzeit noch in vollem Gange. Für die Führungsriege spricht, dass sie trotz allem stets den wichtigsten Prinzipien als Interessenvertreter der Arbeiter treu geblieben ist. Linke Gewerkschafter und Globalisierungskritiker hatten schon immer einen festen Platz in der Union. So gab es auch keine Berührungsängste mit Oppositionellen und Menschenrechtlern, die auf UGTT-Kongressen oftmals das einzige Podium für öffentliche Auftritte fanden.

... und Geschichte

Unvergessen ist die Haltung der Gewerkschafter bei den sozialen Unruhen in den Phosphatminen von Gafsa in Zentraltunesien vor zwei Jahren. Damals war die Bevölkerung der Region auf die Barrikaden gegangen, weil RCD-Funktionäre Arbeitsplätze unter ihren Verwandten und Bekannten aus anderen Gegenden aufgeteilt hatten und die Hinterbliebenen von Opfern von Minenunglücken keinerlei Unterstützung vom Staat erhielten. Auch hier standen die Syndikalisten an die Spitze des Aufstandes, der von der Polizei blutig niedergeschlagen wurde. Mehrere Gewerkschafter wurden danach ins Gefängnis geworfen.

Bei der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit hat der Verband keine Zeit zu verlieren, ist er doch neben der Armee die entscheidende politische Kraft, die Stabilität in Tunesien garantieren kann. Seit ihrer Gründung 1946 hat die UGTT immer an vorderster Front gestanden und zu den Hauptakteuren im Kampf um die Unabhängigkeit gehört. Sie hatte nicht nur entscheidenden Anteil bei der Erarbeitung der ersten Verfassung 1956, sondern stellte auch mehrere Mitglieder in der ersten Regierung Tunesiens. Bis heute führt bei politischen Entscheidungen kein Weg an ihr vorbei. Nahezu alle Parteien und Akteure suchen das Gespräch und die Unterstützung des Massenverbandes.

Auch bei der jetzigen Debatte um das künftige politische System sind die Erwartungen der Bevölkerung an die Generalunion hoch. Immer lauter werden jene Stimmen, die das bisherige präsidiale System durch ein parlamentarisches ersetzen wollen. Nach Ansicht des Historikers und Politikwissenschaftlers Ali Majdjoubi kommt der UGTT erneut eine historische Rolle zu. »Sie allein kann als Speerspitze einer breiten Volksfront fungieren, um den Hoffnungen der breiten Massen Rechnung zu tragen und bei den künftigen Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung glaubwürdige Kandidaten zu stellen.«

* Aus: Neues Deutschland, 11. März 2011


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