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Warten in der Wüste

Im tunesischen Flüchtlingslager Shousha leben Menschen aus 27 Nationen. Viele davon sind wegen des Bürgerkrieges in Libyen geflüchtet und nun auf der Suche nach Perspektiven

Von Wolf-Dieter Vogel *

Rund 3000 Menschen leben im Flüchtlingslager Shousha nahe der libyschen Grenze, Flüchtlinge aus 27 Nationen. Die meisten waren nach Libyen geflüchtet, weil in ihren afrikanischen Heimatländern Bürgerkriege tobten oder sie politisch verfolgt wurden. Eine Rückkehr in die ursprüngliche Heimat ist sowenig eine Option wie eine Rückkehr nach Libyen – es bleibt der Traum von Europa.

Es war ihm gut gegangen. Er hatte Arbeit, eine Wohnung und genug Geld. Doch dann kam der Krieg, und Abraham Isloma musste flüchten. Wieder flüchten. Aus dem libyschen Bürgerkrieg floh der Nigerianer vor den Truppen des Machthabers Muammar al-Gaddafi. Und vor den Rebellen, die in jedem Dunkelhäutigen einen Söldner des Diktators sahen. So kam er in diese Zeltstadt in der tunesischen Halbwüste. Wie es nun weitergehen soll? »Warten, nichts als warten. Wir dürfen nicht einmal das Lager verlassen.« Zustimmend nicken die anderen Männer, die sich mit ihm an diesem Morgen unter einem der wenigen Bäume niedergelassen haben, die in der vom Regen vergessenen Gegend noch wachsen.

Schon sehr früh drückt die Hitze im Flüchtlingslager Shousha nahe der libyschen Grenze. Dennoch spielen einige Jüngere Volleyball, andere gehen zwischen den Zelten spazieren und diskutieren. Frauen waschen die wenigen Hemden, Röcke oder Tücher, die ihnen auf der Flucht geblieben sind. Rund 3000 Menschen leben hier, Flüchtlinge aus 27 Nationen. Die meisten stammen aus südlich der Sahara gelegenen Staaten, aus Côte d'Ivoire, Sudan, Somalia oder Eritrea. Sie waren nach Libyen geflüchtet, weil in ihrer Heimat Bürgerkriege tobten oder sie politisch verfolgt wurden. Dorthin können sie nicht zurück.

»Wenn sie dich ins Gefängnis stecken, kommst du nicht mehr lebendig heraus«, erklärt Abraham Isloma. Der 35-Jährige bekam Probleme mit der nigerianischen Regierung, weil er sich gewehrt hatte. Gegen die internationalen Konzerne, die im Nigerdelta Erdöl fördern und den Boden verschmutzen. Und gegen die Regierung. Deshalb hat er Nigeria verlassen und ging mit seiner Frau ins benachbarte Niger. Zehn Jahre schlug er sich dort als Gelegenheitsarbeiter durch. 2009 machten sich die beiden dann auf den Weg nach Libyen. Doch in der Sahara starb seine Frau. »Sie war im sechsten Monat schwanger.« Seine Stimme wird leiser, er möchte nicht darüber sprechen.

Abstellgleis Flüchtlingslager

Eric Benin ist zu den Männern gekommen, die sich im Schatten des Baumes am Eingang des Lagers die Zeit vertreiben. Auf seinem Handy hat der Ghanaer aufgezeichnet, was hier alle bewegt: gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingen, tunesischen Bürgern aus der nahe gelegenen Kleinstadt Ben Guerdane und Soldaten. »Wir sind von den Tunesiern angegriffen worden.« Isloma wird lauter. Mit Eisenstangen seien die Männer auf sie losgegangen. »Wir sollen abhauen, zurück nach Libyen, haben sie gerufen«, wirft Benin ein. Dann zeigt der 31-Jährige auf ein mit Stacheldraht geschütztes Gelände, auf dem Soldaten stationiert sind: »Auch die Armee hat uns nicht geschützt.« Viele Tote habe es gegeben, fast das ganze Lager sei von den Tunesiern verwüstet worden.

Ahmed Mnaffakh schüttelt den Kopf. Der Gewerkschafter will diese Darstellungen nicht bestätigen. Es seien die Flüchtlinge selbst gewesen, die das Camp zerstört hätten, meint Mnaffakh, der für den Gewerkschaftsdachverband UGTT in der Region tätig ist. Er sitzt in einem Café vor dem Gebäude seiner Organisation und erinnert an den Aufstand gegen den ehemaligen Präsidenten Ben Ali. Deshalb sei man aufgeschlossen gewesen gegenüber den Flüchtlingen. »Wir haben die Menschen aus Libyen mit offenen Armen empfangen«, betont er und schildert, wie er von Haus zu Haus gezogen sei, um Lebensmittel, Medikamente und Kleidung für die Hilfesuchenden zu sammeln. Das UNHCR fasste nach den Ereignissen zusammen: Die Gewalt begann, nachdem mehrere Eritreer Papiere bekommen hatten, mit denen sie möglicherweise in den USA oder Europa Asyl erhalten. Daraufhin zündeten andere Camp-Bewohner deren Zelte an, vier Männer starben in den Flammen. Mehrere hundert Flüchtlinge zogen vor das UNHCR-Büro, das am Rande des Lagers liegt. »Ban-Ki-Moon, rette uns«, forderten sie und blockierten die Straße zur libyschen Grenze. Das provozierte die Einwohner von Ben Guerdane. Das Militär griff ein, mindestens zwei weitere Menschen starben.

Das Problem ist, dass die Leute in Shousha hoffnungslos festhängen«, meint Mnaffakh. Als der Krieg begonnen habe, seien Zigtausende gekommen. Die meisten waren jedoch nur ein paar Tage in der Region untergebracht. Sie hielten sich als Arbeitsmigranten in Libyen auf und konnten einfach heimkehren. Nach Mali, Marokko und weitere meist afrikanische Staaten. Dass es für Leute wie Isloma keine Perspektive gibt, beunruhigt ihn. »Wenn die nicht wegkommen, wird das wieder eskalieren«, befürchtet er. »Wir waren bereit zu helfen, aber wir sind nicht darauf eingestellt, dass die Flüchtlinge langfristig hier bleiben.« Dann verweist er auf die schwierige Lage, in der sich sein Land nach der Revolution befindet: auf die 700 000 Arbeitslosen, die Krise des Tourismus.

Für seine Landsleute in Ben Guerdane hat der Gewerkschafter Verständnis. Dass die Flüchtlinge die Grenze blockiert hätten, sei für sie eine existenzielle Bedrohung gewesen und habe Ängste geschürt. Das legt auch ein Blick auf die 25 Kilometer von Shousha entfernte 40 000-Einwohner-Stadt nahe. Auf der Ausfallstraße zum Grenzort Rass Ajdir versperren Paletten mit Keramiktöpfen, Toilettenschüsseln oder Getränkedosen den Weg, überladene Pickups bringen Kartons mit DVD-Playern oder Fernsehern. Günstiges Benzin, abgefüllt in kleinen Kanistern, gibt es an jeder Ecke. Fast jeder lebt vom Schmuggel. Und der Krieg? Kein Problem, meint ein junger Händler, »die Geschäfte laufen trotzdem gut«. Alternativen hat er ohnehin nicht: Für den landwirtschaftlichen Anbau ist es zu trocken, touristische Attraktionen kann der heruntergekommene Ort nicht bieten.

Was aber soll Abraham Isloma hier tun? Der Nigerianer fühlt sich wie auf einem Abstellgleis. Wie lange noch muss er die Nächte unter dieser blauen Plane verbringen, auf dieser Matratze im Wüstensand, in dem sich auch Skorpione und Schlangen tummeln? Nachdem seine Frau gestorben war, hat er seinen Weg nach Libyen fortgesetzt. Er gelangte damals ohne Probleme ins Land. Und so begann für den Nigerianer eine bessere Zeit. Er fand Arbeit als Schlosser.

Der riskante Weg nach Europa

Dann kam im Februar der Krieg, die Angriffe auf Menschen aus subsaharischen Gebieten nahmen zu, Isloma flüchtete Richtung Tunesien. »Auf der Fahrt haben mir Soldaten alles geraubt: meine Papiere, meine Kleidung.« Nur sein Hut, seine Jeans und das Hemd sind ihm geblieben. »Lange halte ich das nicht mehr aus. Lieber sterbe ich in Libyen, als hier zu verenden.« Seit den blutigen Auseinandersetzungen im Camp reift in ihm ein neuer Gedanke: Vielleicht sollte er doch zurück in das Nachbarland, um von dort aus mit einem Boot auf die italienische Insel Lampedusa zu reisen. Und dann weiter nach England, denn dort lebt seine Schwester – die einzige Angehörige, zu der er noch Kontakt hat.

Isloma bleibt nur diese riskante Reise. Legale Wege gibt es nicht. Seit Monaten fordert das UNO-Flüchtlingswerk UNHCR, dass die EU Menschen wie ihn aufnehmen soll. Dafür macht sich auch die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström stark: Die Flüchtlinge sollen in einem europäischen Land angesiedelt werden. Doch die Regierungen der EU-Staaten reagieren ablehnend. Von schärferen Kontrollen ist die Rede, die Grenzschutzagentur FRONTEX soll noch weiter ausgebaut werden. Mehr Patrouillenboote also. Das hat bislang vor allem dazu geführt, dass die Fahrt immer gefährlicher wurde. Allein in diesem Jahr sind schon mindestens 1500 Menschen bei dem Versuch gestorben, übers Mittelmeer in die EU einzureisen.

Das gibt auch Isloma zu denken. »Viele sind losgegangen, und manche sind wieder hier gelandet, nachdem die Schiffe gekentert waren.« Andere nicht. »Aber ich liebe das Leben«, sagt er. »Wenn du es verlierst, ist es für immer weg.« Bislang ist der Nigerianer noch in Shousha. Und wartet.

* Aus: Neues Deutschland, 29. August 2011


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