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Tunesiens Bootsflüchtlinge

Nächster Stopp: Europa

Von Alfred Hackensberger, Sfax *

Das tunesische Regime ist gestürzt. Und trotzdem flüchten Tausende von TunesierInnen mit dem Boot Richtung Italien. Weshalb? Auf der Suche nach Antworten in der Küstenstadt Sfax.

Von der Hauptstrasse in Habib, einem Vorort von Sfax, führt der Weg irgendwann rechts auf eine holprige Piste, entlang einem Abwasserkanal über Müllreste, Metallteile und Plastiktüten, die der Wind vor sich hertreibt, bis zum Bahndamm einer stillgelegten Bahnlinie. Vorne am Wasser ragt eine Müllhalde in die Höhe.

Nisar bekommt grosse Augen voller Hoffnung, wenn er mit dem Finger dorthin zeigt. Als würde das Glück dort drüben im Sand vergraben liegen. «Hier verstecken sie sich nachts im Schilf, bevor sie an Bord gehen», sagt der 23-Jährige. Er trägt einen Trainingsanzug des englischen Fussballklubs Chelsea. «Manchmal müssen sie zum Boot schwimmen. Dann wird vorher kräftig Alkohol getrunken, um das eiskalte Wasser nicht zu spüren», sagt er lachend. Wenig später startet das Motorboot dann jeweils Richtung Italien. Ob es dort ankommt, hängt vom Wetter und dem Geschick des Steuermanns ab.

Im Süden kostets mehr

Bisher hat Nisar nur andere für die Fahrt vermittelt. Nun will er endlich selber gehen, sobald das Wetter stimmt, und das könnte schon sehr bald sein. «Vielleicht schon heute Nacht», meint er hoffnungsvoll. «In Tunesien hält mich nichts zurück. Es gibt keine Arbeit, keine Zukunft. Daran ändert auch die neue Regierung nichts.» Nisar ist ausgebildeter Mechaniker. Doch er habe in den letzten vier Jahren keine feste Arbeit gefunden.

Die 1000 Dinar, umgerechnet 670 Franken, die Nisar für die Überfahrt bezahlen müsste, hat er nicht. Der Chelsea-Fan will als «Joker» auf ein Boot kommen. Als kostenloser Passagier. Dafür muss er drei, vier Passagiere anheuern. Und das hat er nun gemacht. Doch den Versprechungen der Organisatoren traut er nicht. «Einige sind Kriminelle, die im Gefängnis sassen, andere Fischer, die ihre Chance wittern und selbst ernannte Businessleute.» Notfalls werde er sein Recht auf einen Platz mit dem Messer erkämpfen, sagt der 23-Jährige.

Sfax liegt gut 330 Kilometer südlich von Tunis, und ist mit 340.000 EinwohnerInnen die zweitgrösste Stadt des Landes. Täglich kommen hier neue Menschen an, die auswandern wollen. Überall am Strand streifen Gestalten umher, die nach Kontakten suchen. Der Tarif von 1000 Dinar ist günstig. Weiter unten im Süden, bei Gabes und Sarsis, kostet ein Platz fast das Doppelte.

Von dort fuhren die meisten der rund 6000 TunesierInnen los, die letzte Woche auf den lampedusischen Inseln vor Sizilien landeten. Eine Massenankunft, die den italienischen Hilfsorganisationen ein logistisches Chaos bescherte. Aber es ist nicht nur der niedrige Tarif, der die Fluchtwilligen nach Sfax bringt: Die tunesische Küstenwache hat ihre Patrouillen in den letzten Tagen drastisch verstärkt.

Letzte Woche hatten die Behörden die Dinge einfach laufen lassen. «Die Polizei und das Militär waren quasi nicht existent», erzählt Essedine Saidi, der sich einige Tage in Sarsis aufgehalten hatte, um den Cousin seiner Frau von der Überfahrt abzuhalten. «Die Polizei sass in der Wache und hat zugesehen, wie die jungen Leute mit einem Boot nach dem anderen in See stachen. Wie an einem Busbahnhof. Nächster Halt Italien!» Saidi, Vater von zwei Kindern, versuchte einige der jungen Männer von der gefährlichen Reise, 120 Kilometer quer übers Mittelmeer, abzubringen. «Sie haben Träume im Kopf. Glauben, bald mit einem neuen Auto und viel Geld aus Europa zurückzukehren.»

Saidi fand den Cousin seiner Frau nur noch tot. Der Verwandte war einer der fünf Passagiere, die bei einer Kollision mit einem Schiff der Küstenwache ums Leben kamen.

«Die gleichen Diebe wie vorher»

Im Café Cactus, in Habib, stellt Nisar seine fünf Freunde vor. Aufgeregt sitzen sie an einem runden Tisch. Sie haben alle ihr Ticket nach Italien bereits gebucht. Revolution hin oder her. Walid verdient mit seiner Arbeit bei einer Erdölfirma monatlich umgerechnet 450 Franken. «Wir haben kein Vertrauen in die neue Regierung. Das sind die gleichen Diebe wie vorher.»

Die neue Generalamnestie für die politischen Häftlinge in seinem Land interessiert Walid ebenso wenig wie der Zustand des ehemaligen Diktators Zine al-Abidine Ben Ali, der in einem Krankenhaus in Saudi-Arabien im Koma liegen soll. Für Walid bedeutet die neu gewonnene Freiheit nur eines: endlich nach Europa auswandern. Unter Ben Ali war das fast unmöglich. Die Küsten wurden streng bewacht, Auswanderungsversuche mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft.

«Wir wissen, dass Europa kein Paradies ist», platzt Haytam heraus. «Aber wir müssen unsere Chance nutzen.» Der 25-jährige Universitätsabsolvent ist seit drei Jahren ohne Arbeit. Erst vergangene Woche habe er sich bei der Polizei beworben; nur mit einem saftigen Schmiergeld hätte er jedoch eine Chance gehabt. Beim Stichwort «Polizei» berichtet Mohammed erzürnt, dass Beamte ihn am Donnerstag auf der Strasse geschlagen hätten, weil er seinen Personalausweis zu Hause vergessen hatte.

Wenn es genügend Arbeit, höhere Löhne, keine Korruption und keine Polizeiübergriffe mehr gäbe, dann würden sie wahrscheinlich in ihrer Heimat bleiben. Aber daran will keiner glauben. «Bis dahin wird es länger als eine Ewigkeit dauern», sagt der 26-jährige Mohammed spöttisch.

Als die sechs jungen Leute aufbrechen, ist die Stimmung euphorisch.

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 24. Februar 2011


Frontex: Der Sturz der südlichen Grenzwächter

Von Kaspar Surber **

Ende letzter Woche, nach der Ankunft von 6000 tunesischen Flüchtlingen auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa, gab die in Warschau ansässige EU-Grenzschutzagentur Frontex bekannt, dass die Operation «Hermes» starte. Der mythische Name ist nur Glitzer – Frontex hat vielmehr Modellcharakter für die Konfliktbewältigung der Zukunft: Sie ist eine von Dutzenden Agenturen der EU, die «neue Aufgaben technischer und/oder wissenschaftlicher Art» bewältigen sollen. Frontex wurde 2005 gegründet, die ihr zugeschriebene Bedeutung zeigt sich im Anstieg des Budgets: von 6,2 Millionen Euro auf aktuell 88 Millionen.

Die Logik des Schengenraums ist der Abbau der Binnengrenzen für den Personenverkehr unter gleichzeitiger Abschottung der Aussengrenze. Die Aufgabe von Frontex – kurz für «frontières extérieures» – ist der Schutz ebendieser Aussengrenze: Die Agentur erstellt Risikoanalysen und betreibt technologische Grenzschutzforschung. Sie unterstützt die Mitgliedsstaaten bei Einreisekontrollen sowie bei Ausschaffungsaktionen. Frontex ist eine Vernetzungsmaschine: Die nationalen Grenzwachen erproben in gemeinsamen Operationen sogenannte «best practices», Einsatzstandards. Ein Mitglied wie zum Beispiel Spanien sucht über Frontex um Unterstützung nach, die anderen können, müssen aber nicht helfen. Die technischen Mittel aller Grenzwachen werden von Frontex in einem Register zusammengeführt: Schiffe, Flugzeuge, Helikopter, Thermo- und Infrarotkameras, CO2- und Herzschlag-Detektoren.

Das vordringlichste Ziel ist, die Migration über das Mittelmeer zu stoppen. Die grössten Operationen an den Schengen-Aussengrenzen heissen «Hera» (vor den Kanarischen Inseln), «Nautilus» (zwischen Libyen und Tunesien) und «Poseidon» (östliches Mittelmeer). Aufschlussreich für den Ablauf ist «Hera»: Schickte Frontex in einer ersten Phase Expertenteams auf die Kanaren, die die MigrantInnen nach den Fluchtrouten befragten, entsandten die vereinigten Grenzwachen später Patrouillenboote, die 2008 auf See oder vor den Küsten Afrikas rund 6000 Menschen zurückdrängten.

Dass auf dem Meer die Macht und das Recht ineinanderfallen und also keine Asylverfahren mehr garantiert werden, dass die Flüchtlinge in Länder zurückgeschafft werden, die sich nicht an die Menschenrechte halten, und also das «Non-Refoulment-Prinzip» ausgehebelt wird – das ist die dringende Kritik von Menschenrechtsgruppen an Frontex.

Auf der Flucht über das Meer nach Südeuropa haben nach dem Blog «Fortress Europe» des jungen italienischen Journalisten Gabriele Del Grande seit 1988 an die 15.000 Menschen ihr Leben verloren. 2008 waren es 1502.

Seit November letzten Jahres hilft Frontex auch, die griechisch-türkische Grenze abzudichten. Zum ersten Mal kamen dabei gemischte «Soforteinsatzteams» der Mitgliedsländer, sogenannte «Rabits», zum Einsatz. Ihr Kennzeichen: eine blaue Armbinde. Die Operation zeigt, dass sich Frontex in Richtung einer europäischen Grenzwache entwickelt. Ein neuer Vorschlag der EU-Kommission sieht für die Agentur denn auch mehr Personal, eigenes Material und Informationssysteme vor – sowie mehr Selbstständigkeit. Starke Unterstützung für diese Entwicklung gibt es aus der Sicherheitsindustrie: Überwachung und Kontrolle von Grenzen machen ständig technische Innovationen möglich, von der Biometrie bis zur Überwachung aus dem All.

Dass auch die Schweiz bei Frontex mitmacht, hat das Parlament 2008 entschieden:

Das Grenzwachtkorps beteiligte sich bisher an Frontex-Operationen zur Fussball-EM und gegen die Immigration per Bahn aus Osteuropa. Das Bundesamt für Migration nahm zudem Ausschaffungsflüge in Anspruch. Der Frontex-Pool beim Grenzwachtkorps umfasst dreissig MitarbeiterInnen, die sowohl in «ordentliche» als auch in «Rabit-Einsätze» entsandt werden können. Für «Hermes» stehen, falls sie abgerufen werden, drei Experten bereit: zwei für die Dokumentenprüfung, einer für die Luftüberwachung. Wie auf den Kanaren will Frontex auf Lampedusa vorerst nur in der «zweiten Linie» wirken.

In einem Café in Sfax an der tunesischen Küste sagen Jugendliche: «Wir müssen unsere Chance nutzen.» Die neugewonnene Freiheit bringt ihnen die Möglichkeit abzuhauen. Statt kolonialistische Ratschläge zu erteilen, wonach der junge Araber jetzt doch bitte sein Land neu aufbauen soll, sollte man in Europa besser zur Kenntnis nehmen: Die wichtigsten Frontex-Mitarbeiter der letzten Jahre waren Zine al-Abidine Ben Ali, Hosni Mubarak und speziell Muammar al-Gaddafi. Sie haben die Grenzen im «Vorfeld» kontrolliert. «Mehr Gas, mehr Benzin – und weniger illegale Einwanderung», so fasste Premier Silvio Berlusconi einen «Freundschaftsvertrag» über fünf Milliarden Dollar zusammen, den Italien 2008 mit Libyen schloss. Auch die EU bemühte sich um einen Rahmenvertrag mit dem Diktator, trotz Grausamkeiten wie der Aussetzung von Flüchtlingen in der Wüste. Dass die Gaddafis mit einer «Flüchtlingswelle» drohten, falls die EU die Aufständischen in Libyen unterstütze, verärgerte am Montag die AussenministerInnen. Der Vertreter Deutschlands sprach unverhohlen von einer «Erpressung». Der maltesische Aussenminister meinte: «Es ist mehr als eine Drohung, es ist eine Realität.»

«Brot und Würde», so lautet einer der Slogans der arabischen Revolte, die auch von der Rohstoffspekulation nach der Finanzkrise und in der Folge steigenden Lebensmittelpreisen befeuert wurde. Die Grenzziehung durch Frontex macht erst recht deutlich: Es handelt sich nicht nur um einen demokratischen Aufbruch, sondern um einen Verteilkampf zwischen Nord und Süd, zwischen drinnen und draussen.

** Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 24. Februar 2011


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