Tunesier wollen keine Kompromisse
Proteste gegen den Verbleib von Ministern des alten Regimes in der neuen Regierung *
Die neue Führung in Tunesien hat angekündigt, die Verantwortlichen für den Tod Dutzender Demonstranten zur Verantwortung zu ziehen. Doch die Proteste im Land gehen weiter.
Der erste offizielle Arbeitstag der tunesischen Regierung begann mit einem Eklat. Aus Protest gegen den Verbleib alter Kräfte an der Macht kündigten vier designierte Minister am Dienstag n.) in letzter Minute ihren Rückzug an. Auf den Straßen gab es erneut Kundgebungen für einen grundlegenden Neuanfang. Auch die Ankündigung, die Verantwortlichen für den Tod von insgesamt 78 Oppositionsanhängern vor Gericht zu bringen, konnte die Demonstranten nicht beruhigen. Die Polizei setzte Tränengas ein. Zu den Toten gehört auch der deutsch-französische Fotograf Lucas Mebrouk Dolega, der nun doch seinen Verletzungen erlag.
Der Oppositionspolitiker Moncef Marzouki (65) kehrte am Dienstag aus dem französischen Exil nach Tunesien zurück und kündigte als erster seine Präsidentschaftskandidatur an. Er forderte einen Prozess gegen den früheren Machthaber Ben Ali und dessen Auslieferung durch Saudi-Arabien. Dorthin war der 74-Jährige nach seinem Sturz geflohen. Marzouki leitet die Partei Republikanischer Kongress (CPR). Die Bewegung setzt sich für einen demokratischen Staat ein und war unter Ben Ali verboten. Sie ist bislang nicht an der Übergangsregierung beteiligt.
Zu den Verweigerern in der designierten Regierungsmannschaft von Premierminister Mohammed Ghannouchi gehören drei Mitglieder der Gewerkschaft UGTT sowie Mustapha Ben Jaafar von der FDTL-Partei. An der neuen Übergangsregierung sind zwar erstmals seit der Unabhängigkeit 1956 Oppositionelle beteiligt. Die Schlüsselressorts besetzen aber weiter Gefolgsleute des am Freitag aus dem Land geflohenen Ex-Präsidenten Ben Ali und seiner RCD-Partei. Letztere wurde mittlerweile von der Sozialistischen Internationalen ausgeschlossen.
In der Nacht zu Dienstag (18. Jan.) hatte sich die Sicherheitslage im Land entspannt. Es gab keine Berichte über neue Plünderungen. Die Wut der Demonstranten richtete sich vor allem gegen Premierminister Ghannouchi und andere Repräsentanten der alten Macht. Ghannouchi verteidigte den Verbleib mehrerer Minister aus der Zeit Ben Alis im Übergangskabinett. »Sie haben saubere Hände«, sagte er dem französischen Sender Europe 1. »Sie haben ihre Posten behalten, weil wir sie jetzt brauchen.«
In Frankreich gab ein Regierungsmitglied erstmals zu, den Zorn der Bevölkerung in Tunesien unterschätzt zu haben. Die einstige Kolonialmacht Frankreich habe »wie viele andere« den Grad der Verzweiflung in der Bevölkerung gegen einen Polizeistaat wie den von Ben Ali nicht erfasst, sagte Verteidigungsminister Alain Juppé dem TV-Sender RTL.
In anderen arabischen Ländern wie Ägypten reißt die Serie von Selbstverbrennungen nicht ab. Vor dem ägyptischen Parlament übergoss sich am Dienstag erneut ein Mann mit Benzin und zündete sich an. Auch in Algerien und Mauretanien hatte es in den vergangenen Tagen ähnliche Vorfälle gegeben. Offensichtlich nahmen sich diese Menschen den arbeitslosen Tunesier zum Vorbild, der sich im vergangenen Dezember selbst verbrannt hatte. Sein Selbstmord hatte die Proteste gegen Preissteigerungen und Arbeitslosigkeit in Tunesien eskalieren lassen, was letztlich zum Sturz von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali führte.
Der Bundesnachrichtendienst sieht angesichts der Unruhen in Tunesien ähnliches Konfliktpotenzial auch in anderen arabischen Ländern. Allerdings wollte er keine Staaten ausdrücklich nennen.
* Aus: Neues Deutschland, 19. Januar 2011
Kein Neuanfang mit alter Garde
Wendezeit in Tunesien – Aufbruchstimmung trotz noch nicht entschiedener Machtfrage / Ben Alis Einfluss wird weiter gefürchtet
Von Claudia Altmann, Tunis **
Tunesiens Übergangsregierung hat einen schweren Stand. Die Oppositionsparteien fordern den Rückzug der Kabinettsmitglieder der Partei des gestürzten Präsidenten Ben Alis. Auf den Straßen bleibt die Lage gespannt.
Statt des gewohnten Jasmindufts hängen Tränengasschwaden über dem Tuniser Prachtboulevard Habib Bourguiba. Hektisch fordern mit MPis und Schlagstöcken bewaffnete Polizisten in Uniform und Zivil die Passanten unweit des Eingangs zur Medina, der Altstadt, zum Weitergehen auf. Dennoch bleiben die Leute in kleinen Gruppen stehen und diskutieren. In unmittelbarer Nähe steht ein Panzer der tunesischen Armee. Die Besatzung hält sich auffallend zurück und beobachtet ruhig das Geschehen. Plötzlich dringen aus einer Nebenstraße Sprechchöre eines Demonstrationszuges. Die Menschen fordern das Ende der bisher allein regierenden Ben-Ali-Partei RCD. Die dumpfen Detonationen von Tränengasgranaten hallen erneut durch die Straßen. Aus der riesigen Rauchwolke dringen Schreie und Rufe. Die Demonstranten werden vom Boulevard weg in die dahinter liegenden Viertel gedrängt. Eine Frau taucht taumelnd und weinend aus der Wolke auf und wird von einem älteren Mann gestützt. Sie hat von der Polizei Schläge auf den Kopf erlitten. »Das ist das Werk des Innenministers«, sagt ein junger Mann und wischt sich mit einem Tuch die tränenden Augen. »Es sind immer noch dieselben Leute. Davon haben wir genug.«
Die Situation beruhigt sich wieder, bis sich nur wenige Minuten später dasselbe Szenario abspielt. So geht es stundenlang bis zum Nachmittag. Es ist die Zusammensetzung der Übergangsregierung des auch nach dem Sturz Ben Alis in seinem Amt gebliebenen Premierministers Mohamed Ghannouchi, die die Volkswut weiter am Kochen hält. Die Demonstranten werden von der Nachricht ermutigt, dass sich inzwischen einige Minister und Staatssekretäre aus dem Kabinett aus Protest gegen den Verbleib alter RCD-Kader zurückgezogen haben. Von ihnen bleibt lediglich Mohamed Chebbi zu der Stunde noch auf seinem Posten. Vor dem Sitz seiner Demokratischen Progressiven Partei kommt es prompt zu Tumulten und erneutem Tränengaseinsatz.
Auch vor der nur wenige Minuten entfernt liegenden Zentrale des Tunesischen Gewerkschaftsverbandes UGTT versammeln sich die Anhänger, hier allerdings zu einer Sympathiekundgebung: Drei ihrer Vertreter haben die ihnen zugeordneten Posten in Ministerien ebenfalls verlassen. »Diese Regierung ist nicht hinnehmbar. Wir sind für das Volk da und nicht für diese alte Garde«, sagt ein Gewerkschafter und erntet viel Beifall.
Zeitgleich fordert die Führung des mächtigen Verbandes bei einer Pressekonferenz dazu auf, für die Übergangszeit den Artikel 57 der Verfassung anzuwenden, der vom »endgültigen Abtreten des Staatspräsidenten« ausgeht. Seit der überstürzten Flucht des Diktators ist offiziell die Rede von Artikel 56, in dem von »vorläufig« die Rede ist. Die Befürchtung, dass Ben Ali seine Rückkehr vorbereitet, greift immer mehr um sich.
Auch das brutale Vorgehen der Polizei ist für die Menschen ein Indiz dafür, dass die Hürde hin zu Meinungsfreiheit und Demokratie noch nicht genommen ist. Zudem hat ein Telefongespräch zwischen Ghannouchi und Ben Ali vom vergangenen Sonntag den Verdacht geschürt, der verjagt geglaubte Despot habe seine Hände nach wie vor im Spiel. »Er und seine Clique haben unser Land ausgeplündert. Vor allem der Clan seiner Frau, die Trabelsis, haben Unsummen beiseite gebracht«, sagt ein Demonstrant. »Und hier, guckt euch das an. Hier ist seit der Franzosenzeit nichts mehr an den Häusern gemacht worden. Sie reden von der Jasmin-Revolution. Das gefällt mir nicht. Es ist die Revolution der Jungen. Die Jungen sind für unsere Freiheit gestorben. Wofür? Mit dieser alten Garde wird sich jedenfalls nichts ändern.«
** Aus: Neues Deutschland, 19. Januar 2011
Tunesien: Fanal für arabische Nachbarn
140 Millionen leben unterhalb der Armutsgrenze
Von Karin Leukefeld ***
Das Fanal des jungen Tunesiers Mohammad Bouazizi, der mit seiner Selbstverbrennung Mitte Dezember Massenproteste gegen Armut und Ungerechtigkeit auslöste, macht Schule in der arabischen Region.
In Algerien, Ägypten und Mauretanien zündeten sich in den letzten Tagen sechs Männer an, um gegen wirtschaftliche Not und schlechte Lebensbedingungen zu protestieren. Berichten zufolge haben alle schwerverletzt überlebt, doch die Botschaft ist eindeutig. Arbeitslosigkeit, Preiserhöhungen, Wohnraumnot, Selbstbedienungsmentalität der Regierenden und Bevormundung gehören in fast allen arabischen Staaten zum Alltag. Die Herrschenden, häufig Familienclans, haben sich die nationalen Reichtümer angeeignet, Vetternwirtschaft und Korruption sind allgegenwärtig.
Sudans Oppositionsführer Hassan al-Turabi warnte davor, dass auch in seinem Land ein Aufstand möglich sei, weil die Bevölkerung ihre wirtschaftlichen Probleme kaum noch ertragen könne und zudem große Unsicherheit herrsche über eine mögliche Abspaltung des Südens. Auf einer Pressekonferenz am Sonntag gratulierte Turabi dem tunesischen Volk zum Sturz Ben Alis und riet er Sudans Präsident Omar al-Baschir, auf das Volk zu hören und die Macht mit anderen Parteien zu teilen. Wenige Stunden später wurden Turabi und Dutzende seiner Parteikollegen verhaftet.
In Jordanien kam es in den letzten Tagen zu Protesten und Sitzstreiks gegen Arbeitslosigkeit und Preiserhöhungen, dabei wurde der Rücktritt der Regierung gefordert. Elf Parlamentsabgeordnete unterstützten mit einer Petition die Proteste. König Abdullah hatte bereits vor einer Woche angeordnet, die hohen Steuern für Treibstoff und Grundnahrungsmittel zu senken.
Hohe Steuern belasten auch die Libanesen. Einige hundert Personen demonstrierten Anfang der Woche ihre Solidarität mit den Tunesiern und forderten im eigenen Land bessere Lebensbedingungen. Sogar im Sultanat Oman protestierten etwa 2000 Menschen am Regierungssitz und forderten höhere Löhne und niedrigere Preise für Nahrungsmittel. Und in der libyschen Hafenstadt Darnah wurde protestiert, weil die Regierung versprochene Wohnungen nicht fertigstellt.
Einige Regierungen reagierten rasch. Kuwaits Emir, Scheich Sabah al-Ahmad al-Sabah, ordnete eine Sonderzahlung für alle Bürger in Höhe von 3600 US-Dollar (2703 Euro) an, für Bezieher von Lebensmittelkarten gibt es bis Ende März Grundnahrungsmittel gratis. Der saudische König Abdullah versprach zusätzliche Programme zur Förderung von Einkommen und bat um Geduld. In Syrien wurden die Subventionen für Heizöl verdoppelt.
Die Armut ihrer Völker ist den arabischen Herrschern seit langem bekannt. Zum Gipfeltreffen der Arabischen Liga 2009 in Kuwait hatte das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) einen Bericht vorgelegt, aus dem hervorgeht, dass trotz Wirtschaftswachstums in den meisten Staaten die Lebensverhältnisse für die Mehrheit seit 20 Jahren stagnieren. 50 Prozent der Arbeitslosen sind Jugendliche, 140 Millionen Menschen in der arabischen Welt leben unterhalb der Armutsgrenze.
*** Aus: Neues Deutschland, 19. Januar 2011
Zurück zur Tunesien-Seite
Zur Nahost-Seite
Zurück zur Homepage