Wir richten den Blick auch nach Afrika
Tunesiens Außenminister Rafik Abdessalem im nd-Gespräch: EU-Außenpolitik war ein großer Fehler *
Rafik Abdessalem ist seit dem 26. Dezember Außenminister Tunesiens. Der Sozialwissenschaftler hat im Fach Politikwissenschaft promoviert und gilt als einer der führenden Intellektuellen seines Landes. Bis zum Sturz von Präsident Ben Ali lebte er im britischen Exil. Während eines Besuches von Rafik Abdessalem in Libyen sprach mit ihm in Tripolis für das "neue deutschland" (nd) Martin Lejeune.
nd: Herr Minister, dies ist Ihre erste Woche im Amt. Weshalb führt Sie Ihre erste Dienstreise nach Libyen?
Abdessalem: Wir Tunesier sind Libyen historisch eng verbunden und haben das Land seit Beginn des Bürgerkrieges humanitär unterstützt. So haben etwa eine Million Flüchtlinge Zuflucht in libyschen Flüchtlingslagern in Tunesien, aber auch in Privathäusern gefunden. Außerdem arbeiten viele Tunesier im Gastgewerbe und in der Hotellerie Libyens, so auch in diesem Hotel, in dem wir gerade sitzen und sprechen. Tunesien und Libyen haben viele gemeinsame Interessen. Libyen ist Tunesiens größter Handelspartner, auch die Sicherung der gemeinsamen Landgrenze ist ein wichtiger Punkt in unserer Zusammenarbeit.
Welche Schwerpunkte wollen Sie während Ihrer Regierungszeit in der Außenpolitik setzen?
Wir wollen mit der EU eine neue Partnerschaft eingehen, und zwar eine auf Augenhöhe. Wir wissen, dass unsere nördlichen Nachbarn am Mittelmeer wie Italien und Frankreich sehr wichtig für unseren Handel und Tourismus sind.
Aber Tunesien ist nicht nur ein mediterranes, sondern auch ein maghrebinisches und afrikanisches Land. Daher sind uns unsere zukünftigen Beziehungen zum Süden genauso wichtig wie die zum Norden. Wir wollen uns auch als afrikanisches Land begreifen. Die nächsten Auslandsreisen, die Präsident Moncef Marzouki und ich unmittelbar nach Libyen unternehmen werden, gehen in die arabischen Länder Algerien, Marokko und Mauretanien. Die Länder Afrikas sind für uns wirtschaftlich mindestens genauso wichtig wie die Länder der EU.
Ist Ihre neue politische und wirtschaftliche Ausrichtung auf Afrika auch eine Revanche für die EU-Außenpolitik in den vergangenen Jahrzehnten, die den Diktator Ben Ali unterstützte?
Die bisherige EU-Außenpolitik war ein großer Fehler! Dennoch liegt uns nun daran, in eine neue gemeinsame Zukunft zu blicken. Ich hoffe jedoch, dass Europa seine Lektion aus der Unterstützung der Diktatur, unter der unzählige Tunesier gelitten haben, gelernt hat und in Zukunft begreift, dass Stabilität nicht zu jedem Preis zu haben ist. Stabilität, die auf Demokratie und Achtung der Menschenrechte beruht, so wie sie Tunesien anstrebt, ist die Art der Stabilität, wie sie die EU fordern und fördern sollte.
Am 14. Januar jährt sich zum ersten Mal der Ausbruch des tunesischen Volksaufstands, in der Presse auch »Jasminrevolution« genannt, der den arabischen Frühling auslöste. Inzwischen gibt es Analytiker und Experten, die meinen, der arabische Frühling sei gescheitert, weil die Demokratiebewegungen politische Rückschläge erleiden.
Nein, der arabische Frühling ist keineswegs gescheitert. Das sehen Sie zum Beispiel an Tunesien, wo Ende Dezember die erste demokratisch gewählte Regierung in der Geschichte des Landes vereidigt wurde. Ich bin sehr stolz, dass Premierminister Hamadi Jebali mich mit dem Amt des Außenministers betraut hat und ich helfen darf, die Demokratie in unserem Land aufzubauen und zu festigen. Aber wie immer bei historischen Umbrüchen dauert der Wechsel lange, und man braucht Geduld. Nehmen Sie als Beispiel den Zerfall der Sowjetunion. Auch die neuen unabhängigen Staaten, die aus der Sowjetunion hervorgegangen sind, erfuhren Probleme und Rückschläge bei der Demokratisierung, manche dieser Staaten haben bis heute mit Demokratiedefiziten zu kämpfen.
Die Wahlen in Tunesien markierten zweifellos einen politischen Wandel. Aber wie sehen Sie die Entwicklung in den anderen Ländern?
Syrien bereitet mir große Sorgen, das Land droht angesichts der zunehmenden Gewalt auseinanderzufallen. Auch bezüglich Jemens bin ich sehr skeptisch, da sowohl in Jemen als auch in Syrien viele ausländische Interessen mit den Demokratiebewegungen kollidieren. In diesen beiden Ländern wird es wohl noch Jahrzehnte dauern, bis die Bevölkerung friedliche und demokratische Verhältnisse errungen hat.
Ist Tunesien bereit, arabischen Bruderländern bei der Demokratisierung zu helfen?
Ja, wir fühlen uns zu solidarischem Handeln verpflichtet. Wir helfen gerade Libyen beim Wiederaufbau des durch den Krieg stark zerstörten Landes, indem wir viele tunesische Fachkräfte, Ingenieure, Experten und gut ausgebildete Bauarbeiter nach Libyen senden. Wir sind auch bereit, eine friedliche Demokratiebewegung in Syrien zu unterstützen. Wir wollen allen zukünftigen neuen demokratisch legitimierten Regierungen in arabischen Ländern in ihren Transformationsprozessen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
* Aus: neues deutschland, 5. Januar 2012
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