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Ennahda am Ende

Rückzug der Islamisten in Tunesien: Übergangsregierung geplant

Von Gerrit Hoekman *

Um exakt 12.05 Uhr brachte der Liveticker der arabischen Tageszeitung Al-Chourouk am Samstag die Nachricht, auf die viele in Tunesien gewartet hatten: Das Land bekommt eine Übergangsregierung. Die islamistische Ennahda-Partei zieht sich von der Macht zurück und überläßt einem Kabinett aus unabhängigen Experten das Feld. Der Vereinbarung waren wochenlange zähe Verhandlungen vorausgegangen, die mehrmals zu scheitern drohten. Das Abkommen zwischen der Regierung und ihren Gegnern sieht vor, daß bis Ende dieser Woche das Parlament einen neuen Ministerpräsidenten wählt, der danach 14 Tage Zeit hat, das neue Kabinett zu benennen. Danach ziehen sich die Islamisten der Ennahda von der Macht zurück. Die Interimsregierung soll in erster Linie zügig Neuwahlen vorbereiten.

In Syrien wollen die Islamisten die Macht erst noch erobern und stürzen dafür ein ganzes Land ins Verderben. In Ägypten sind sie vom Thron wieder vertrieben und proben nun den Aufstand gegen das Militär. In Anbetracht dessen geht es in Tunesien, wo Anfang 2011 der »Arabische Frühling« begann und wo seitdem auch religiöse Konservative an der Regierung sind, bis jetzt einigermaßen besonnen zu. Nachdem Ende Juli der Oppositionspolitiker Mohammed Brahimi vermutlich von radikalen Islamisten erschossen wurde, gehen die Leute zwar auf die Straße und protestieren gegen die rigide Gesellschafts- und die miese Wirtschaftspolitik der Konservativen, aber die Demonstrationen waren überwiegend friedlich.

Beobachter halten den freiwilligen Rückzug der Islamisten für einen taktischen Schachzug. Die Ennahda hat schlichtweg Sorge, es könne ihr so gehen wie den Muslimbrüdern in Ägypten. Bürgerkriegsähnliche Zustände wie in Kairo dürfe es in Tunesien nicht geben, heißt es aus den Reihen der Fundamentalisten. »Das Militär muß sich aus der Politik heraushalten«, bekräftigte Noch-Ministerpräsident Ali Laarayedh in der arabischen Presse.

Skeptiker unken, der Machtverzicht der Ennahda sei nur vorübergehend. Die Wahrscheinlichkeit sei hoch, daß die Islamisten auch aus der nächsten Wahl als Sieger hervorgehen. Obwohl ihr Rückhalt in der Bevölkerung laut einer Wahlumfrage bröckelt, bekämen die Konservativen nach wie vor rund ein Drittel der Stimmen und haben gute Chancen, wieder stärkste Kraft zu werden. Ihr Generalsekretär Hamadi Jebali ist laut einer Umfrage der beliebteste Politiker des Landes. Die Tunesier rechnen ihm positiv an, daß er im Februar als Ministerpräsident zurücktrat, als der erste Mord an einem Oppositionellen, der an Shukri Belaid geschah.

Bereits die erste Wahl nach dem Sturz des alten Machthabers Ben Ali konnten die Islamisten für sich entscheiden. Allerdings brauchten sie Koalitionspartner und fanden sie im sozialliberalen »Kongreß für die Republik« (CPR) und in den Sozialdemokraten der »Ettakol«. Der CPR von Staatspräsident Moncef Marzouki hat das jüngste Abkommen übrigens nicht unterzeichnet, seine Partei lehnt Neuwahlen ab. Kein Wunder, denn auch die CPR muß mit erheblichen Verlusten rechnen. Die Revolution von 2011, in die so viele Bürger ihre Hoffnungen setzten, hat ihren Charme verloren. Müßten die Tunesier heute zwischen einer gesunden Wirtschaft oder einer starken Demokratie wählen, dann hätte über die Hälfte lieber eine sichere Arbeit und mehr Geld in der Tasche als die Möglichkeit, sich an freien Wahlen zu beteiligen.

Der Kompromiß, an dem insgesamt 20 Parteien beteiligt sind, ist vor allem dem Geschick der großen Gewerkschaft UGTT zu verdanken, die seit Wochen zwischen der Regierung und ihren Gegnern vermittelt. Hinter ihr stehen rund eine halbe Million Werktätige, vor allem in den staatlichen Betrieben ist sie eine Macht. »Das war eine extrem schwierige und komplizierte Angelegenheit«, atmete UGTT-Chef Hassine Abbasi in der Tageszeitung Asharq Al-Awsat auf. Profitieren von dem Deal könnte vor allem die »Volksfront«. Falls die Meinungsforscher richtig liegen, dürfte die rote Allianz aus Kommunisten und anderen Linken bei den nächsten Wahlen auf Platz drei landen.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 8. Oktober 2013


Eine zweite Revolution?

Interview Nejib Abidi **

Nejib Abidi ist tunesischer Filmemacher. Eine Woche saß er gerade im Gefängnis.


Sie wurden am 20. September mit sieben anderen Künstlern inhaftiert. Wie fand Ihre Festnahme statt?

Wir waren bei mir zu Hause und arbeiteten an einem Film, in dem es um die vielen Hundert tunesischen Migranten geht, die nach der Revolution von 2011 nach Lampedusa geflohen sind. Die Polizisten kamen in meine Wohnung und sagten, dass sie uns wegen Cannabiskonsums festnehmen. Eine Woche später sind wir wieder freigekommen, vier andere Künstler sind aber noch im Gefängnis.

Was steckt Ihrer Meinung nach dahinter?

Das war eine politische Festnahme. Wir haben an Demonstrationen für die Auflösung der tunesischen Nationalversammlung teilgenommen. Außerdem stand mein Film gerade vor der Fertigstellung. Es geht darin auch um die Verwicklungen der italienischen Regierung in den Tod von Flüchtlingen. Der Film deckt auf, dass das italienische Militär dafür verantwortlich ist. Ich wollte unsere Arbeit auf einem Menschenrechtsfestival hier in Tunis zeigen, aber die Regierung wollte das offensichtlich verhindern. Es gab aber Kopien.

Ihr Film konnte also gezeigt werden?

Leider nicht, weil er durch unsere Festnahme nicht fertiggestellt werden konnte. Aber der Film meines Kollegen Abdalla Jahja konnte auf dem Festival gezeigt werden, während er selbst im Knast saß. Sein Film thematisiert Menschenrechtsverletzungen kurz nach der Revolution 2011 in einem Dorf im Zentrum Tunesiens. Dieser Film hat dann zwei Preise auf dem Festival gewonnen.

Hat sich denn nach der Revolution nichts verändert?

Die Rede- und Meinungsfreiheit ist sogar eingeschränkter als während der Diktatur von Ben Ali. Erst vor kurzem wurden beispielsweise zwei Rapper festgenommen, wegen der Texte ihrer Lieder. Es handelt sich quasi um einen Krieg gegen das Aufbegehren der jungen Leute, gegen die Blogger, die Künstler und die Musiker. Die Regierungspartei Ennahda, aber auch die anderen Regierungsparteien, wollen uns mundtot machen.

Wie geht es Ihnen jetzt?

Ich habe keine Angst. Ich bin diese Formen der Repression gewohnt, weil ich schon lange in der Gewerkschaft der Studierenden aktiv bin. Ich werde jetzt meinen Film fertigstellen und möchte Klage einreichen gegen den Innen- und gegen den Justizminister und gegen diese fadenscheinigen Anschuldigungen.

Aber das Verfahren gegen Sie geht weiter?

Ja, ich bin auf Bewährung frei. Momentan darf ich weder Pressekonferenzen geben, noch mich politisch engagieren. Ich darf auch nicht reisen.

Was ist Ihre Prognose für die Zukunft Tunesiens?

Zum einen sehe ich, dass die tunesische Jugend sehr motiviert ist, sich engagiert und demonstriert. Zum anderen entwickelt sich die Regierung in eine komplett repressive Richtung. Sie manipuliert Leute und verübt Terrorakte.

Wird es eine zweite Revolution geben?

Auf jeden Fall. Die ökonomische Situation in Tunesien verschlechtert sich immer mehr. Ich sehe in der Tat nur noch diesen Ausweg.

Fragen: Tim Zülch

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. Oktober 2013


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