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Tunis ist nicht Kairo

Ägyptisches Beben hat Tunesien noch nicht erreicht

Von Peter Schäfer, Tunis *

In Tunesien, Geburtsland des »Arabischen Frühlings«, herrscht derzeit politischer Stillstand. Die Forderung nach Neuwahlen wird lauter.

»Tunesien ist nicht Ägypten«, erklärte die Regierung Tunesiens noch während der ägyptischen Massenproteste Anfang Juli. Darin waren sich der säkulare Präsident Moncef Marzouki und Rashid Ghannouchi, Chef der islamistischen Ennahda-Partei, einig. Die stärkste tunesische Partei machte klar, dass sie zwar gegen den »Militärputsch« in Ägypten sei, sie setzte sich jedoch auch von der dortigen Partei für Freiheit und Gerechtigkeit ab, die wie sie selbst in der Bewegung der Muslimbrüder wurzelt.

Ennahda erklärte wiederholt, man befinde sich in einer Koalitionsregierung und wirke daher im Gegensatz zu den ägyptischen Brüdern dem Sektierertum entgegen. Überdies habe man trotz politischer Mehrheit zugestimmt, die islamische Gesetzgebung (Scharia) nicht in der Verfassung zu verankern. »Wir werden in Tunesien wohl nicht dasselbe Szenario (wie in Ägypten) sehen, da wir uns hier in einem demokratischen Prozess befinden«, sagte Ennahda-Sprecher Zubaier Khhoudi.

Bislang ist es in Tunesien in der Tat relativ ruhig. Ist das dem Fastenmonat Ramadan oder dem Verhalten der Regierung zuzuschreiben? An Gründen zum Protest herrscht eigentlich kein Mangel. Der Arabische Frühling hat zwar dazu geführt, dass die Bürger offen über die missliche Wirtschaftslage und steigende Arbeitslosigkeit reden dürfen. Das ist aber schon alles. In Anlehnung an die ägyptische Kampagne Tamarod (Rebelliere!), die den Protest gegen Präsident Mursi anführte, bildete sich im Juni in Tunesien eine Initiative gleichen Namens.

Die Kampagne reagiere auf die Forderungen der Bevölkerung, das Parlament aufzulösen, weil es sich unfähig zeige, eine neue Verfassung zu verabschieden, sagte Tamarod-Sprecher Mohammad Bennour. Die konservative Parteienliste »Aufruf für Tunesien« und die Volksfront, ein Bündnis linker Parteien, haben sich Tamarod bereits angeschlossen. Aber ohne die Generalunion Tunesischer Arbeiter (UGTT), eine mobilisierungsstarke Massenorganisation, bleibt Tamarod sehr wahrscheinlich ohne Erfolg. Die UGTT repräsentiert Arbeiter und Arbeiterinnen im ganzen Land und hat die Forderung nach »Brot« zu vertreten, insbesondere im armen Landesinneren. Mit der Verfassungsdebatte allein ist sie nicht zu locken. In vielen Gegenden sind die politischen Debatten der Hauptstadt alles andere als vorrangig.

Tamarod will bis Ende Juli eine Million Unterschriften für Neuwahlen sammeln, ein gutes Fünftel davon habe man bereits. Doch dass danach ein Volksaufstand beginnt, ist unwahrscheinlich. »Im Ramadan passiert bei uns nichts«, gibt ein linker Aktivist zu. »Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass der 23. Oktober für viele ein wichtiges Datum ist.« Dann jähren sich nämlich die Parlamentswahlen zum zweiten Mal – also einmal zu viel, denn die Übergangsregierung sollte nur ein Jahr amtieren. Nach Ansicht der Volksfront fehlt es der Regierung daher an Legitimität.

Eine mit dem Wahlprozess vertraute Anwältin erklärte gegenüber »nd«, dass sie fest von Neuwahlen im nächsten Frühjahr ausgehe. Das ist eine verbreitete Forderung, auch wenn es vielen nur darum geht, den politischen Stillstand aufzubrechen. Um größere Proteste zu verhindern, müsste die Regierung jedoch noch vor dem 23. Oktober ein Wahldatum verkünden.

In der Wählergunst steht das Bündnis Aufruf für Tunesien derzeit bei 33 Prozent, Ennahda bei knapp 30. Das besagt eine Umfrage des Instituts 3C Etudes. Der linken Volksfront würden demnach zehn Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme geben. Auch ein angestrebtes Wahlbündnis des Aufrufs und der Volksfront bekäme also keine Mehrheit. Und falls doch: Ein Koalitionsvertrag wird schwierig, denn außer der Ablehnung der Islamisten eint beide wenig.

In einer Stichwahl um das Präsidentenamt zwischen Hamadi Jebali (Ennahda) und Beji Said Essebsi (Aufruf für Tunesien) lägen beide derzeit gleichauf. Allerdings fehlte in der Kandidatenliste der Umfrage ein wichtiger Name. Am 25. Juni trat der Oberbefehlshaber der tunesischen Armee, General Rachid Ammar, zurück. Er hatte Anfang 2011 den Befehl des damaligen Präsidenten Ben Ali verweigert, auf Protestierende zu schießen, und ist deshalb sehr populär. Es heißt, Ammar bereite sich auf ein politisches Amt vor.

* Peter Schäfer baut derzeit das Nordafrikabüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tunis auf.

Aus: neues deutschland, Mittwoch, 24. Juli 2013



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