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Ein Jahr danach

Am 14. Januar 2011 verließ Ben Ali Tunesien. Seither für Bevölkerung kaum Verbesserung der Lebenssituation

Von Karin Leukefeld *

Zum Jahrestag der politischen Zeitenwende in Tunesien werden am heutigen Samstag arabische Führer aus vielen Staaten in der Hauptstadt Tunis erwartet. Neben dem algerischen Präsidenten Abdel­asis Bouteflika nehmen der Emir von Katar, Hamad bin Chalifa Al-Thani, und der libysche Übergangsratspräsident Mustafa Abdel Dschalil teil. Auch der marokkanische Außenminister Saad-Eddine El Othmani hat sein Kommen angekündigt. Für Samstag ist eine Zeremonie im Kongreßpalast in Tunis geplant, Einzelheiten darüber sind nicht bekannt.

Der langjährige tunesische Machthaber Zine Al-Abidine Ben Ali war nach wochenlangen Protesten gegen ihn und seine Amtsführung am 14. Januar 2011 nach Saudi-Arabien geflüchtet. Ausgelöst worden waren die Demonstrationen durch den Tod von Mohammed Bouazizi in Sidi Bouzid. Der junge Mann hatte sich aus Protest gegen die entwürdigende Behandlung durch die Polizei angezündet und war später an seinen schweren Verbrennungen gestorben.

Unmittelbar nach dem Umsturz in Tunesien begannen in fast allen arabischen Ländern Volksproteste gegen autoritäre Regierungsstrukturen, Korruption, polizeiliche Willkür, Armut und Arbeitslosigkeit. Nicht zuletzt mit massiver finanzieller Unterstützung der früheren Bündnispartner Ben Alis aus Europa und den USA entstanden neue politische Zusammenschlüsse und Parteien. Gewerkschaften, Forschungsinstitute, Zeitungen und andere Medien wurden gegründet. Frauen beteiligten sich an Protestaktionen und forderten ihre Rechte ein. In der aktuellen Politik spielen sie allerdings kaum eine Rolle.

Tatsächlicher Gewinner der Aufstände ist die Muslimbruderschaft, deren politische Parteien in Tunesien, Marokko und Ägypten siegreich aus eilig anberaumten Wahlen hervorgingen. Tunesien wird zukünftig von der Ennahda-Partei regiert. Ben Ali stelle zwar keine Gefahr mehr da, meinte der Jurist Yadh Ben Achour gegenüber AFP. Das Problem sei »das System«, das von einem Umbruch »weit entfernt« sei. Die Ennahda-Partei hätte »Widerstands-, aber keine Regierungserfahrung«, sagte Ben Achour und sprach von »Improvisation« und einem »schlechten Start« der neuen Führung.

An der realen Lebenssituation der einfachen Bevölkerung hat sich kaum etwas geändert. Die Arbeitslosenquote wird landesweit auf 20 Prozent geschätzt, vor allem für die Dorfbewohner gibt es kein regelmäßiges Einkommen, sie müssen als Tagelöhner ihren Unterhalt verdienen. Aus Verzweiflung zündeten sich bereits wieder Menschen an in der Hoffnung, erneut ein Fanal zu setzen. Ein arbeitsloser Vater von drei Kindern starb am vergangenen Dienstag, nachdem er sich aus Protest gegen die schlechten wirtschaftlichen Zustände in der Provinz Gafsa mit Benzin übergossen und dies in Brand gesetzt hatte. Am Donnerstag starb eine junge Frau auf die gleiche Weise. Zwei weitere Männer liegen mit schweren Verbrennungen in Kliniken.

Seit dem Umsturz vor einem Jahr geben sich westliche Politiker in Tunesien die Klinke in die Hand. Erst vor wenigen Tagen besuchte Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) die Hauptstadt Tunis und versprach umfangreiche Hilfe beim Aufbau des Landes. Europa werde sich »daran gewöhnen müssen, daß es islamisch-demokratische Parteien gibt, wie es in Europa christdemokratische Parteien gibt«, sagte er. Im Rahmen einer »Transformationspartnerschaft« soll Tunesien in den kommenden zwei Jahren 32 Millionen Euro für Projekte in den Bereichen Bildung und Ausbildung erhalten. Geplant ist auch eine Schuldenumwandlung in Höhe von 60 Millionen Euro, das Geld soll für Reformen eingesetzt werden.

EU-Energiekommissar Günther Oettinger (CDU) hat derweil im Hamburger Abendblatt vom Mittwoch eine »partnerschaftliche Energiestrategie« mit den nordafrikanischen Staaten vorgeschlagen, in denen sich enorme Entwicklungschancen böten. Die Länder Marokko, Tunesien und Libyen böten ideale Voraussetzungen für die Installation von Solaranlagen und sollten in ein »paneuropäisches Energienetz« eingebunden werden.

* Aus: junge Welt, 14. Januar 2012


Besuch der Heuchler

Tunesien ein Jahr nach dem Sieg über Ben Ali

Von Roland Etzel **


In Tunis wird man am heutigen 14. Januar ausgelassen feiern. Genau ein Jahr ist vorbei, seit Präsident Ben Ali und sein Clan das Weite suchten, leider unter Mitnahme eines Großteils des in 24 Jahren Herrschaftszeit zusammengerafften Milliardenvermögens. Weil der tunesische Umsturz die Volksmassen auch in anderen arabischen Staaten ermutigte, die Standfestigkeit ihrer lebenden Denkmäler abzuklopfen, und dies auch von dritter Seite hier und da nicht verhindert werden konnte, wird er heute als »Arabischer Frühling« oder gar »Jasminrevolution« geheiligt; selbst von jenen, die aufatmen, seitdem es in Arabien auch politisch Herbst und Winter geworden ist.

Wer da nicht alles mitfeiert. Besonders die Komplimente einiger hochrangiger Gäste sollten von den Tunesiern sehr mit Vorsicht genossen werden. Von der Stunde der Heuchler könnte man schon sprechen, wenn der westliche Nachbar, Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika, spricht. Wie aufrichtig kann dessen Glückwunsch an den tunesischen Amtskollegen eigentlich sein? Dieser, Moncef Marzouki, ist schließlich Exponent einer islamisch orientierten Partei, die bei den ersten freien Wahlen einen unangefochtenen Sieg feiern konnten. In Algerien schaffte das eine verwandte Partei, die Islamische Heilsfront, schon vor 20 Jahren. Zum Feiern kam sie allerdings nicht mehr. Bouteflikas alte Garde putschte, stahl der Heilsfront den schon sicheren Sieg, was zu einem Bürgerkrieg mit Hunderttausenden Toten führte.

Und die anderen Araber? Am wenigsten verbiegen muss sich wahrscheinlich Katars Emir, Hamad bin Chalifa. Er kann von sich behaupten, mit seinem Haussender Al Dschasira Rebellen eine mediale Plattform gestellt zu haben - in Tunesien, später in Ägypten, noch mehr in Libyen. Und jetzt in Syrien, im Gleichklang mit seinem Nachbarn Saudi-Arabien, das die Unterdrückung der Opposition durch Damaskus und die Verbrechen des Assad-Clans gar nicht laut genug beklagen kann. Die Opposition in Saudi-Arabien selbst würde sich schon glücklich schätzen, genösse sie auch nur einen Bruchteil jener Freiheiten, die ihr König in Syrien mit so viel Verve einfordert. Nach Tunis kam kein Vertreter der saudischen Prinzengarde. Die Beziehungen sind vereist, seit König Abdullah der neuen tunesischen Führung bedeutete, dass er weder daran denkt, den auch per Interpol-Haftbefehl zur Fahndung ausgeschriebenen Ben Ali noch die von diesem geraubte tunesische Staatskasse auszuliefern.

Im Konzert der Heuchler sollte man die Stimmen der Europäer dennoch nicht vergessen. Auch sie sind beim Tag der Freude in Tunis zugegen und setzen unverfroren auf die milde Gabe der Vergesslichkeit ihrer Gastgeber - und die gewiss zutreffende Vermutung, dass deren Bedürftigkeit eher zu- als abnehmen wird. Da muss man ihn wohl nicht ablegen, den geliebten Oberlehrerton. Das Prädikat für Tunesiens neue Führung lautet: Sie sind »gemäßigte« - wenigstens das -, aber doch Islamisten. Und das klingt in deutschen Ohren weniger nach Jasmin und Religion als nach 11. September und Terror. Soll es auch.

Auch damit aber kann Frankreichs Spitzenposition in der Garde der Heuchler nicht erschüttert werden. Noch drei Tage vor Ben Alis Flucht hatte Paris diesem »geeignetes Gerät« angeboten, um Straßendemonstranten kleinzukriegen. Heute klopft man jenen Demonstranten auf die Schulter, als wäre nichts geschehen. Aber seine Gäste kann sich Tunesien wohl nicht aussuchen.

** Aus: neues deutschland, 14. Januar 2012


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