Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Neue Revolution nötig

Vor einem Jahr verbrannte sich der Tunesier Mohamed Bouazizi. Massenproteste jagten Machthaber Ben Ali ins Exil. Tatsächlicher Wandel steht noch aus

Von Karin Leukefeld *

Posthum hat das europäische Parlament in dieser Woche den Tunesier Mohamed Bouazizi mit dem Sacharow-Preis geehrt. Ebenfalls ausgezeichnet wurden vier Aktivisten aus Libyen, Ägypten und Syrien, alle seien »mutig für Freiheit und politischen Wandel eingetreten«, der die arabische Welt verändert habe. Bouazizi habe sich »wirklich im Namen der Freiheit geopfert«, sagte der SPD-Europaabgeordnete Wolfgang Kreissl-Dörfler, er sei eine »Symbolfigur«. Eine Selbstverbrennung mache »man nicht leichtfertig«, Bouazizi habe »den Menschen gezeigt, wie stark er selbst ist und was Freiheit für ihn bedeutet.«

Am 17. Dezember 2010 hatte sich der 26jährige Obsthändler Mohamed Buazizi aus der Stadt Sidi Bouzid angezündet, um gegen seine entwürdigende Behandlung durch eine Polizeibeamtin zu protestieren. Als man das Feuer gelöscht hatte, war die Haut des jungen Mannes zu 90 Prozent verbrannt, am 4. Januar 2011 starb er. Das Fanal löste landesweit Massenproteste aus. In deren Folge floh der langjährige tunesische Machthaber Zine El Abidine Ben Ali am 14. Januar nach Saudi Arabien ins Exil.

Kurz nach dem Tod des 26jährigen war Sidi Bouzid zur Pilgerstätte internationaler Medienvertreter geworden. Die »Wiege der Revolution«, wie Journalisten den Ort tauften, liegt im Herzen Tunesiens in einer Region, die Jahrzehnte lang von der Regierung vernachlässigt worden war. Das einfache Haus der Familie wurde wieder und wieder von Kamerateams aufgesucht. In einer der unzähligen Filmreportagen sind Mutter und Schwester Bouazizis zu sehen. Während sie sich Hände und Füße an glimmender Holzkohle in einem Tongefäß wärmt, das vor ihr auf dem Boden steht, sieht die Mutter mit leerem Blick in die Kamera und beschreibt zum x-ten Mal, was ihrem Ältesten am 17. Dezember widerfahren war. Eine Polizeibeamtin hatte ihn geschlagen und seinen verstorbenen Vater beschimpft, erzählt Frau Bouazizi. Dabei habe er doch nur sein Obst verkaufen wollen, um sie und seine sechs Geschwister zu ernähren. Die Schwester rollt stolz ein großes Poster mit dem Bild ihres Bruders vor der Kamera aus, später wird sie beim Aufhängen der Wäsche gefilmt und sagt artig, wie stolz sie auf ihren Bruder sei. Die Hauswand ist unverputzt, der Hof karg und schmucklos.

Medien berichteten, Mohamed Bouazizi habe einen Hochschulabschluß als Computerfachmann gehabt, was seine Schwester verneint. Er habe immer studieren wollen, erzählt sie, doch habe das Geld gefehlt. Schon der Vater hatte in seiner Heimat keine Arbeit gefunden, sondern in Libyen. Der Sohn brach die Schule ab, zweimal versuchte er, nach Sizilien zu fliehen, beide Male vergeblich. Sein Antrag, in die Armee aufgenommen zu werden, wurde abgewiesen. Weil er das Geld für die Lizenz nicht aufbringen konnte, arbeitete Bouazizi ohne diese als Obstverkäufer auf dem Markt von Sidi Bouzid. Armen Familien habe er Obst auch umsonst gegeben, erzählen Freunde. Berühmt ist der junge Mann erst mit seinem Tod geworden. Unzählige Zeitungsartikel aus aller Welt haben ihm ein Denkmal gesetzt.

Mittlerweile hat die Familie des toten »Märtyrers der Revolution« Sidi Bouzid mit unbekanntem Ziel verlassen. Es habe viele Gerüchte über sie gegeben, erzählt Mohamed Amri, ein Freund des jungen Mannes einer Reporterin von Middle East Online. Man erzähle sich, daß die Mutter vom Tod des Sohnes profitiert habe, was natürlich üble Nachrede sei. Außerdem sei unklar, ob Bouazizi sich wirklich absichtlich das Leben genommen habe. Amri meint, der Flammentod seines Freundes sei nicht geplant gewesen: »Er war betrunken und hatte eigentlich nur den einen Traum: zu arbeiten, ein Auto zu kaufen, ein Haus zu bauen.«

Zum Jahrestag hängen wieder neue Plakate von Mohamed Bouazizi an den Hauswänden. Wichtig sei, was der 17. Dezember für die Zukunft gebracht habe, meint Youssef Jleli vom »Festival der Revolution vom 17. Dezember«. Und die sieht für die Leute in Sidi Bouzid und der zentraltunesischen Region weiterhin nicht rosig aus. Noch immer sind mehr als 50 Prozent der Jugendlichen ohne Arbeit, selbst mit einem Universitätsabschluß sieht es nicht besser aus. In Kasserine, etwa 60 Kilometer westlich von Sidi Bouzid, hat die Regierung mit »Hadira«, eine Art zivilen Dienst geschaffen. Tausende Jugendliche haben sich dort gemeldet und erhalten monatlich etwa 140 US-Dollar (etwa 106 Euro) für ihre Tätigkeit.

Viele lehnen das Programm ab und fordern statt dessen richtige Arbeitsplätze. Einer der Kritiker ist Saed Sadouk, ein arbeitsloser Lehrer Mitte Dreißig. Vor den Wahlen organisierte er mit anderen Kollegen vor dem Büro der Schulbehörde in Kasserine einen Sitzstreik. Mehr als einen Monat hielten sie aus, ohne Erfolg. Dann legten sich Sadouk und vier seiner Kollegen einen Strick um den Hals, stiegen auf die Mauer, die die Schulbehörde umgibt und banden ihn an einem Eisenrohr fest. Sie drohten von der Mauer zu springen, wenn man ihnen nicht endlich Arbeit gebe – statt dessen brachte man sie gewaltsam in ein Krankenhaus. «Wie soll man leben, wenn man keine Arbeit findet und kein Einkommen hat«, meint Sadouk zu der Reporterin Alexandra Sandals, der er die Geschichte erzählt hat. Es gehe nicht mehr um Demokratie und politische Parteien, sondern um die Würde der Menschen. »Die Arbeiter haben die Revolution gemacht, aber die Politiker haben die Früchte geerntet.« An einer Hauswand steht: Das Volk will eine neue Revolution.

* Aus: junge Welt, 17. Dezember 2011


Zurück zur Tunesien-Seite

Zur Nahost-Seite

Zurück zur Homepage