Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Erdogan wieder beim Lügen erwischt

Türkische Regierung sperrt zur Strafe Internetplattform YouTube und empört sich über Mitschnitt

Von Jan Keetman *

Der türkische Premier Erdogan spielt den Empörten, weil seine Kriegsgedankenspiele abgehört wurden. Seine Wut richtet sich nun, kurz vor einer Wahl, auf das übermittelnde Medium.

Die Türkei schränkt auf Anweisung ihres Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan das Internet und seine Nutzer weiter ein. Nun ist auch die Plattform YouTube blockiert. Dort waren am Donnerstagabend zahlreiche abgehörte Telefonate veröffentlicht worden. Größtenteils waren es Mitschnitte von Gesprächen im Außenministerium, in denen über die Schaffung eines Anlasses zu einem Krieg gegen Syrien beraten wurde. Als das bekannt wurde, gingen in der Nacht zum Freitag in Istanbul, Ankara, Izmir und Adana Tausende Menschen auf die Straße, um gegen Kriegsvorbereitungen zu demonstrieren. Die türkische Regierung reagierte hochgradig nervös.

Um die Verbreitung der Mitschnitte zu verhindern, wurde der Zugang zu YouTube in der Türkei sofort generell gesperrt. Für den Kurznachrichtendienst Twitter gilt das ohnehin schon. Mit seiner durch den langen Kommunalwahlkampf strapazierten Stimme beschwerte sich Erdogan vor einer Menge in der Stadt Diyarbakir: »Heute haben sie wieder was bei YouTube eingestellt ... ein Gespräch über die nationale Sicherheit ... das ist gemein, das ist niederträchtig, das ist unehrenhaft!« Damit räumte Erdogan indirekt die Echtheit des Gesprächs ein.

Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu kehrte den Sachverhalt einfach um und sprach von einer »Kriegserklärung an die türkische Republik«. Davutoglu hat sehr persönliche Gründe, sich zu sorgen. Denn eine der Stimmen bei der Besprechung ist seine eigene. Andere Teilnehmer sind offenbar der Chef des türkischen Geheimdienstes Hakan Fidan, ein Staatssekretär und ein General. Sie spielen Möglichkeiten durch, wie sich ein Anlass für ein militärisches Eingreifen in Syrien schaffen ließe.

Ein Vorschlag ist, von syrischem Gebiet aus Raketen auf türkisches Territorium abzuschießen; ein anderer besteht in einem fingierten Angriff auf ein Ehrengrab eines Vorfahren der osmanischen Dynastie, das sich jenseits der Grenze, auf syrischer Seite, befindet – ein exterritoriales Gebiet, in dem immer etwa zwei Dutzend türkische Soldaten stationiert sind.

Seit Tagen schon werfen Kritiker wie die gewerkschaftsnahe Kolumnistin Hamide Yigit dem Ministerpräsidenten vor, künstlich Spannungen mit Syrien zu erzeugen, um von den zahlreichen Korruptionsskandalen der Regierung abzulenken. Ein militärisches Eingreifen in Syrien ist in der Türkei jedoch sehr unpopulär. Dies gilt insbesondere für die alevitische Minderheit, die zwar nicht unbedingt mit Syriens Präsident Baschar al-Assad sympathisiert, der ebenfalls dieser Glaubensrichtung angehört, aber die Errichtung eines sunnitisch-islamischen Gottesstaates im Nachbarland befürchtet. Dies könnte auch Auswirkungen auf die politische Atmosphäre in der Türkei haben.

Ob Erdogan in dieser Situation seine Partei zu den angestrebten Erfolgen bei der Kommunalwahl führen kann, ist fraglich.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 29. März 2014


Erdogan plant Krieg

Lauschangriff auf Regierung beweist: Geheimdienstoperation soll türkischen Einmarsch in Syrien rechtfertigen. Nach Twitter verbietet Ankara auch Youtube

Von Nick Brauns **


Die islamisch-konservative AKP-Regierung in Ankara erwägt, durch Geheimdienst­operationen einen Vorwand für einen türkischen Militäreinmarsch in Syrien zu schaffen. Vier Tage nach dem Abschuß eines syrischen Kampfflugzeuges im Grenzgebiet wurde am Donnerstag auf der Internetplattform Youtube ein geheimer Gesprächsmitschnitt aus dem Büro des türkischen Außenministers veröffentlicht. Vier Männer, bei denen es sich um Außenminister Ahmet Davutoglu und seinen Staatssekretär Feridun Hadi Sinirlioglu, Geheimdienstchef Hakan Fidan und Vizegeneralstabschef Yasar Güler handeln soll, beraten darin über einen Einmarsch türkischer Panzer nach Syrien. »Ohne einen überzeugenden Vorwand können wir US-Außenminister Kerry nicht klarmachen, daß wir zu harten Maßnahmen greifen müssen«, meint Davutoglu, worauf Staatssekretär Sinirlioglu vorschlägt, einen Einmarsch als Antiterroroperation gegen die zum Al- Qaida-Netzwerk gehörende Gruppe »Islamischer Staat im Irak und Syrien« (ISIS) auszugeben. Die im Norden Syriens stark vertretene ISIS hatte damit gedroht, das Grabmal von Süleyman Sah, dem Großvater des Begründers der Osmanen-Dynastie, dem Erdboden gleichzumachen. Das 25 Kilometer von der Grenze entfernt in der syrischen Provinz Aleppo gelegene Grab gilt völkerrechtlich als türkisches Territorium und wird von rund zwei Dutzend türkischen Elitesoldaten geschützt. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan habe einen Angriff auf das Grabmal als Chance bezeichnet, berichtet Davutoglu. Es sei kein Problem, einen Anlaß zum Losschlagen zu finden, meint Geheimdienstchef Fidan. »Wenn es nötig ist, kann ich vier Männer nach Syrien schicken. Ich würde sie acht Granaten auf die türkische Seite abfeuern lassen und einen Vorwand für einen Krieg schaffen.« Die Agenten könnten auch einen Angriff auf das Grabmal inszenieren. »Was wir hier vorhaben, ist ein direkter Kriegsgrund«, stellt General Güler nun klar.

Die AKP-Regierung versuchte gar nicht erst, die Authentizität des Mitschnitts zu bestreiten. Eine Beratung über den Schutz des Süleyman-Shah-Grabes sei allerdings »verzerrt« wiedergegeben worden, heißt es aus dem Außenministerium. Davutloglu nannte den Lauschangriff auf das »streng geheime Gespräch« in seinem Arbeitszimmer eine »offene Kriegserklärung gegen die Türkische Republik«.

Erdogan beschuldigte seine langjährigen Verbündeten und nunmehrigen Gegner von der über erheblichen Einfluß im Staatsapparat verfügenden Fethullah-Gülen-Gemeinde, für den Lauschangriff verantwortlich zu sein. Im Vorfeld der Kommunalwahlen am Sonntag, die als Referendums über Erdogans Zukunft gehandelt werden, wurden mehrfach Gesprächsmitschnitte veröffentlicht, die Erdogan etwa in der derzeitigen Korruptionsaffäre gegen führende AKP-Politiker erheblich unter Druck setzen.

Die Regierung reagiert mit Medienzensur. Aus »Gründen der nationalen Sicherheit« wurde der Zugang zum Videoportals Youtube blockiert. Die Fernsehzensurbehörde RTÜK verbot die Wiedergabe illegaler Gesprächsmitschnitte, und dem Gülen-nahen Sender Kanaltürk wurde die Lizenz zur landesweiten Ausstrahlung entzogen.

** Aus: junge Welt, Samstag, 29. März 2014


Abrechnung mit Erdogan an der Wahlurne

Yücel Özdemir über die Medienzensur der AKP-Regierung und die Rolle der sozialen Medien in der Türkei ***

Die Ergebnisse der Kommunalwahlen am Sonntag in der Türkei werden neue Indizien dafür liefern, ob Recep Tayyip Erdogan und seine AKP-Regierung noch das Vertrauen des Volkes genießen. Bereits die Protestwelle in dem Land am Bosporus, ausgelöst durch Demonstrationen im Istanbuler Gezi-Park, machte den großen Unmut der türkischen Gesellschaft gegenüber der Politik des Ministerpräsidenten deutlich. Dass sich der Streit zwischen seiner Regierung und der Bewegung von Fethullah Gülen auf die Wahlen projizieren wird, ist kein großes Geheimnis. Als ob dieser Gegenwind für die Regierung nicht ausreichte, hat sie im Vorfeld der Wahlen sowohl den Zugang zum Kurznachrichtendienst Twitter als auch zu der Online-Videoplattform YouTube gesperrt. Beide Verbote liefern einen weiteren Grund, mit dem Premier an der Wahlurne abzurechnen.

Erdogan war nicht immer ein Gegner des Internets. Er selbst nutzte in jüngster Vergangenheit das Netz für seine Interessen. So förderte er an Schulen den Zugang ins World-Wide-Net und verteilte dort Tablet-PCs. Über Twitter wurden politische Parolen verbreitet: Erdogan führte zum Beispiel den Hashtag »Die Nation wird sich nicht beugen, Die Türkei wird nicht verlieren« ein. Bis zum 21. März, dem Tag der Twittersperre, hat er insgesamt 3043 Kurznachrichten verschickt. Ihm »folgen« dabei 4,18 Millionen Menschen. Zum Vergleich: Steffen Seibert, der für die Bundesregierung twittert, hat nur 150 000 »Follower«. Erst als seine Gegner es ihm gleichtaten, mutierte Erdogan zu dem Herrscher, der keine Opposition duldet. Die Türkei gehört mittlerweile neben China, Nordkorea und Iran zu den Staaten, die den Zugang zum Kurznachrichtendienst untersagen.

Dabei distanzierte sich der Ministerpräsident gerade von seinen Vorgängerregierungen in Bezug auf Menschenrechte und Meinungsfreiheit. Er näherte sein Land auf diese Weise der Europäischen Union an. Für die Mitgliedsstaaten wird es jetzt umso schwieriger sein, Erdogan und seine konservative AKP weiterhin darin zu unterstützen.

Warum ist Erdogan zu einem Gegner der sozialen Medien geworden? Die Antwort ist einfach: Twitter, YouTube und Co. bieten einen Raum, der sich der Kontrolle der türkischen Regierung entzieht. Im Rahmen staatsanwaltlicher Ermittlungen gegen Regierungsmitglieder aufgrund von Korruptionsvorwürfen wurden im Internet Telefonmitschnitte öffentlich. In den Gesprächen setzt Erdogan Medien unter Druck, die der Opposition nahestehen. Er erteilte Chefredakteuren von Zeitungen und Fernsehanstalten persönlich Anweisungen über die Berichterstattung. Das Ergebnis: Wichtige Oppositionsmedien unterwarfen sich der Kontrolle der Regierung, Dutzende angestellte Journalisten verloren ihren Arbeitsplatz. Über die sozialen Medien konnten Meinungen noch frei geäußert werden. Twitter, YouTube und Co. wurden zu den wichtigsten Kommunikationsplattformen für türkische Oppositionelle.

Bei vielen Türken stoßen die Verbote derweil auf Ablehnung. In dem Land verfügt jeder zweite Bürger über einen Twitter-Account. Zu Beginn der Proteste im Gezi-Park hatte 44 Prozent der Bevölkerung ein Konto bei Twitter. Überhaupt haben die sozialen Medien bei der Organisierung der Demonstration eine wichtige Rolle gespielt. Besonders Jugendliche tauschen sich über sie aus. Eine Untersuchung zeigt, dass 73 Prozent der 18- bis 24-Jährigen und 63 Prozent der 25- bis 35-Jährigen via Twitter kommuniziert. In Europa belegt die türkische Twittergemeinde den ersten Platz, in der Weltrangliste liegt die Türkei auf Platz vier.

Mit den Zugangsverboten wurde die Kritik an Erdogan noch gestärkt. Sie werden sicherlich auch auf den Urnengang am Sonntag Auswirkungen haben. Ein schlechtes Ergebnis für die Partei des Ministerpräsidenten kann deshalb nicht ausgeschlossen werden. Damit hätte sich Erdogan dann ein klassisches Eigentor geschossen.

*** Yücel Özdemir ist Deutschland-Korrespondent der türkischen Zeitung »Evrensel«.

Aus: neues deutschland, Samstag, 29. März 2014



Kriegsvorbereitung

NATO schweigt zu Ankaras Provokation

Von Sevim Dagdelen ****


In diesen Tagen wird im Westen, wenn es um die Krim-Frage geht, gerne das Völkerrecht hochgehalten. Allerdings scheint die völkerrechtliche Bindung für die NATO selbst keinerlei Gültigkeit zu haben. Die Interventionen in Jugoslawien, Irak und Libyen waren – so US-Präsident Obama – alles keine Völkerrechtsbrüche. Und so ist zu erwarten, daß auch das jetzt publik gewordene Gespräch des türkischen Außenministers mit seinem Geheimdienstchef und dem Vizeregierungschef keinerlei Konsequenzen haben wird. In ihrer Unterredung stellten sie Überlegungen an, wie mit Lügen ein Krieg gegen Syrien zu legitimieren sei.

Dabei ist die Sachlage klar. Wer Angriffskriege mit Vorwänden wie dem Tonking-Zwischenfall 1964 oder dem Racak-Massaker 1999 vorbereitet, gehört vor den Strafgerichtshof. In puncto Syrien handelt es sich um den wiederholten Versuch des Regimes von Premier Recep Tayyip Erdogan, einen Einmarsch beginnen zu können. So sprach man in Ankara im Juni 2012 vom syrischen Abschuß eines türkischen Militärflugzeugs über internationalen Gewässern, während ein geheimer NATO-Bericht die syrische Seite entlastete. Später versuchte Erdogan den Einschlag von Granaten im Grenzgebiet der syrischen Armee in die Schuhe zu schieben, obwohl diese aus der von Rebellen kontrollierten Gegend abgeschossen wurden und wahrscheinlich aus NATO-Beständen stammten.

Die Lügen waren Anlaß für die NATO, Ankara beizuspringen. Deutschland und andere Mitgliedsstaaten des Militärpakts schickten Abwehrraketen und Soldaten an die türkisch-syrische Grenze. Jetzt scheint Erdogan noch weiter gehen zu wollen. Nachdem die türkische Armee erfolglos Al-Qaida-Milizen bewaffnet hatte, will man die Sache in die eigene Hand nehmen. Die türkische Exklave im Norden Syriens um das Grabmal von Süleyman Sah wollte man offenbar selbst attackieren, um einen Angriffskrieg zu beginnen. So wurde der türkische Geheimdienstchef Fidan im Gespräch mit Außenminister Davutoglu ganz konkret: »Wenn es nötig ist, kann ich vier Männer nach Syrien schicken. Ich würde sie acht Granaten auf die türkische Seite abfeuern lassen und einen Vorwand für einen Krieg schaffen. Wenn nötig, kann auch ein Angriff auf die Grabstätte erfolgen.«

Nachdem die Führung in Damaskus nicht auf die Provokation des Abschusses eines syrischen Militärflugzeuges reagiert hatte, scheint die Türkei größere Geschütze auffahren zu wollen. Daß man prompt das Internetportal Youtube sperrte, auf der das Gespräch veröffentlicht wurde, liegt in der Logik der Kriegsvorbereitung. Erdogans Freiheit ist die NATO-Freiheit. Hinter ihm steht der Militärpakt, der seinen Waffenbruder ob der peinlichen Veröffentlichungen nicht einmal ermahnt. **** Sevim Dagdelen ist Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion Die Linke im Bundestag

Aus: junge Welt, Samstag, 29. März 2014 (Kommentar)



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